Arschweh

Vor mir im Maxim Gorki sitzt ein riesiger Mann. Ich kann kaum an ihm vorbei-, geschweige denn über ihn hinweg gucken. Kein Athlet ist er und kein Schlaks, sondern einfach nur von dieser klobigen Sorte, die immer und überall sinnlos im Weg ist. Schämt der sich gar nicht?

Schließlich schäme ich mich ja schon, denn leider bin ich selbst relativ groß, wenngleich nicht so raumgreifend, und er zwingt mich dazu, immer wieder ruckartig den Kopf auszufahren, um irgendwie an ihm vorbeizuspechten. Dadurch aber potenziert sich für das Publikum hinter mir noch das Problem, denn ihre Sicht wird nun sowohl von mir als auch von dem Klobigen behindert – der eine hin- und herwackelnd, der andere ein Fels in der Brandung: Skylla und Charybdis. Ihre Ausweichbewegungen pflanzen sich bis ganz nach hinten fort, so dass es in meinem Rücken vermutlich aussieht, als wogte in einem fort La Ola durch die Menge. Ich bekomme große Lust, dem Theaterriesen mit dem Zeigefinger scharf an seine Ohrwaschel unterhalb des Bürstenschnitts zu schnipsen. Damit er auch mal was merkt, denn er merkt gar nichts, während ich mich abwechselnd ärgere und schäme.

Das Leben wäre so leicht, gehörte man zu den Rücksichtslosen, die sich den öffentlichen Raum mit einer Selbstverständlichkeit aneignen, als stünden dem Rest allenfalls Brösel zu. Es ist ein nicht enden wollender Schwanzvergleich der Lärmenden. Hier beweist das Theater seine aufklärerische Kraft, indem es die gesellschaftspolitischen Mechanismen abbildet – wenn auch nicht auf der Bühne, so doch immerhin im Zuschauerraum.

Warum werden Theater eigentlich nicht so gebaut wie Kinos? Schön steil abfallend, so dass man zur Not auch über asoziale Turmfrisuren hinwegblicken kann. Nein, das Parkett bildet eine Ebene; fast möchte man meinen, es steigt zur Bühne hin sogar noch an. Die Architektur will den zahlenden Zuschauer verhöhnen, ihm zeigen, wie klein und unbedeutend er ist im Vergleich zur großen Welt des Theaters. Vor allem aber ist er nicht zum Spaß hier.

Beinfreiheit wie bei der Iberia und aufgeheizt wie eine Sauna: Der Theaterbesuch steht traditionell unter dem Vorzeichen des Leidens. Das ist nach wie vor die unverbrüchliche Vorstellung von Hochkultur in Deutschland. Bürgerlein, gehe durch ein Purgatorium aus Langeweile, Nackensteife, Arschweh und dem schrillen Beifallsgeheul adoleszenter Freikartenmäuse nach dem Vorhang – nur dann erweist du dich als würdig. Vergiss, dass dir die komplizierte Sprache Kants und Kramp-Karrenbauers als Geschenk in die Wiege gelegt wurde: Oft sprechen die Akteure so leise, dass man sich den Hals nach den englischen Obertiteln verrenkt. Natürlich gehört zur Schmerzerfahrung auch eine Spieldauer, nach deren Ende die Opfer von Dramaturgie und Altersschwäche nur noch tot aus dem breitgetretenen Quark gezogen werden können; dass Stoffe bis zur Unkenntlichkeit geschreddert und anschließend mit undefinierbarer Soße übergossen werden. Tief darunter hat der Regisseur dem Werk wie ein Vampir auch noch den letzten Tropfen Stringenz ausgesogen. Der Bildungsbürger gelangt per aspera ad astra, zur Belohnung in Form eines Weißweins an der Theaterbar, falls die nach Spielschluss im Morgengrauen noch auf hat.

Doch zum Glück ist das hier nicht die Volksbühne. „Die Nacht von Lissabon“ von Hakan Savaş Mican ist ein großartiges Stück. Es hat die richtige Länge und ist auch ohne Kenntnis der Remarque‘schen Vorlage gut zu verstehen. Nur die Hauptdarstellerin spricht manchmal zu leise, irgendwo da vorne hinter dem Quadratschädel des Klobigen verborgen. Dafür singt sie sehr laut und sehr schön.

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