Serotonin in der Südsee

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Normalerweise bin ich ja für meine Fröhlichkeit berühmt. Mord, Totschlag, Kacke am Schuh: Egal, was passiert, ich habe immer gute Laune. Natürlich eckt man damit bei den Sauertöpfen, die mir meine Einstellung insgeheim neiden, auch mal an. So wurde ich, als ich neulich über einen in der Tat saulustig aussehenden Sturz eines Radfahrers auf feuchtem Laub lauthals lachen musste, von spröden Spaßbremsen in Sanitäteruniform gefragt, was ich denn da um Gottes Willen täte. Meine Antwort war ganz einfach: „Ich freue mich. Wie immer.“

Doch irgendwas in mir ist nun zerbrochen. Das Wetter hat mich kleingekriegt, zusammen mit seinem bösen großen Bruder, der Jahreszeit und dessen Führungsoffizier, der Zeitumstellung. Das einzig Gute an der Winterzeit ist, dass man früher anfangen darf zu trinken, weil es früher dunkel wird. Das ist meine letzte kleine Freude. Ansonsten habe ich keine Lust auf gar nichts. Also noch nicht mal so richtig fett Bock auf endlich mal volle Pulle gar nichts, sondern sogar auf gar nichts habe ich überhaupt keine Lust. Wie diese „Gegenstände, die aussehen wie ein Gesicht“, die ständig gepostet werden – Häuser, Schränke, Stromkästen, Klappsitze – starre ich leer vor mich hin. Absolute Antriebsschwäche, vollkommene Unfähigkeit zu arbeiten. Die ersten paar Wochen klingelt noch das Telefon, mit der Zeit dann immer seltener, bis es schließlich verstummt.

Jetzt könnte man eigentlich denken, macht doch nichts und ist doch super, weil ich ja zum Glück auch überhaupt nichts machen muss, da schließlich sowieso alles keinen Zweck hat. Das ist Freiheit. Keiner will mehr was von mir, keiner hat noch irgendwelche Erwartungen an meine Person (welche „Person“ überhaupt?). Da könnte ich mich doch ganz bequem in den weichen Sessel der Erfolglosigkeit zurücklehnen und aufs prächtigste gehenlassen. Wenn nur diese saudämliche, präsuizidale Grundstimmung nicht wäre. Die nervt. Wenn ich in den Spiegel blicke, sehe ich statt der üblichen verschmitzten Pausbäckchen nur eine aschfahle Fratze, die lautlos vor sich hin winselt.

Bereits der Oktober hatte die wenigsten Sonnenstunden seit 1974, der November hat nun gar keine mehr. Kein Mensch weiß mehr wie die Sonne aussieht. Bei ihrem Anblick würden die Leute inzwischen wahrscheinlich vor Panik schreiend in die Häuser rennen und sich im Keller verbarrikadieren. Weil sie denken, ein Komet stürzt auf die Erde oder Donald Trump gibt seinen Einstand mit einem zünftigen Atomkrieg. Nein, wer in dieses Land flieht, muss wirklich einen verdammt triftigen Grund haben. Das sollten wir nie vergessen.

Was ist nur mit mir los? Als ich mit letzter Kraft die Begriffe „Verderben“, „Wahnsinn“, „Depression“ und „Scheiße“ eingebe, stoße ich auf das sogenannte Glückshormon Serotonin, das für Ausgeglichenheit, erholsamen Schlaf und Lebensfreude sorgen soll. Ob es das ist? Aber ausgeglichen bin ich ja. Sehr sogar: immer gleichmäßig niedergeschlagen. Doch spätestens als ich den Menschenauflauf unter meinem Balkon bemerke, von dem ich seit zwei Stunden, nur mit einem dünnen, grauen Hemdchen angetan, klagend herunter rufe, „oje, oje, bald kommt der erste Schnee, dann tut es noch mehr weh“, wie sie mich mit gezückten Smartphones filmen und „spring doch“ rufen, muss ich mir selber zugestehen, dass es zumindest mit der Lebensfreude wohl nicht so wahnsinnig weit her sein kann.

Im Netz finden sich Ratschläge, wie man den speziell im Winter oft zu niedrigen Spiegel des komischen Kasper-Hormons wieder erhöht. So könnte man gemäß der Quacksalbertipps zum Beispiel auch einfach mehr Gemüse essen, aber davon werde ich persönlich gleich noch viel trauriger. Eine Mahlzeit, für die keine Tiere unter möglichst großen Qualen gestorben sind, macht keinen Spaß. Das wäre ja wie ein Spaziergang, bei dem man nicht Zeuge wenigstens eines Autounfalls wird, am besten mit Verletzten.

Eine realistischere Lösung ist jedenfalls eine Tageslichtlampe. Die soll die Stimmung aufhellen, was mir logisch erscheint. Lampe, Licht, hell. Ich bestelle mir eine bei den Schweinen von Amazon (klingt fast wie der Titel eines Fantasy-Films: „Die Schweine von Amazon“), das geht am schnellsten und es ist nun mal ein Notfall. Wenn der noch schneller liefern würde, hätte ich die Lampe sogar bei Assad bestellt, oder sie einer armen Oma aus den ersterbenden Händen gerissen.

Mit müdem Gesicht packe ich die Lampe aus und stelle sie auf den Schreibtisch. Ich schalte sie an und warte darauf, dass die Traurigkeit verschwindet. Ich merke nichts. Ich warte noch länger. Murmle kurz „Heißa“, um die nun doch hoffentlich bald einsetzende Wirkung autosuggestiv zu unterstützen, wie mit einem Wehenmittel eine schwere Geburt. Oder eine Abtreibung. Passt hier vielleicht besser. Und bald beginnt auch noch der Karneval. Helau.

Grün. Grüner. Deutsche Bahn

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Weder Ameisen noch Zauneidechsen halten die Bauleute auf. Beide sind umgesiedelt. So kommt der Ausbau der Bahnstrecke zwischen Berlin und Dresden voran“, schreibt der Tagesspiegel. Der Leser beginnt zu ahnen, warum es mit der seit den neunziger Jahren geplanten neuen Strecke nur sehr langsam vorangeht, aber auch, dass das schwerste Stück des Wegs damit geschafft sein dürfte. Der Rest ist ein Klacks. In zehn Jahren wird die tippitoppi Sausewindverbindung zwischen der Hauptstadt des notorischen Nörgelns und der Metropole der dümmlichen Feindseligkeit fertig sein.

Die Zauneidechsen sind längst in ihrer neuen Heimat und dem Vernehmen nach nicht unzufrieden – zumindest hört man keine Klagen. Da sie sich im Schotter der Gleisanlagen äußerst wohl fühlen, hat die Deutsche Bahn schon vor Jahren provisorisch mehrere Nebenstrecken für sie stillgelegt. Diese Großzügigkeit und Weitsicht zahlt sich nun aus, denn dort finden sich jetzt ideale Habitate für umgesiedelte Reptilien.

Doch mit den roten und gelben Waldameisen war das Verfahren komplizierter. Sie sind klein, sie sind viele und sie sind äußerst anspruchsvoll. Erst dieser Tage sind die letzten Umzugswagen mit Ameisen, die die Umsiedlung zunächst verweigert und zum Teil sogar mit Selbstmord gedroht hatten, unterwegs. Erst nachdem man ihnen zugesichert hatte, mithilfe chinesischer Experten in der Nähe von Blankenburg maßstabsgetreue und bis in die letzten Details der Inneneinrichtung (Klodeckel, Nachttischschränkchen) identische Ersatzhaufen zu errichten, gaben die letzten ihren Widerstand auf. Nur die Klagen zweier hochbetagter Ameisendamen laufen noch. Sollte ihnen stattgegeben werden, müssen sämtliche Schienen wieder entfernt und die frisch errichteten Bahndämme gesprengt werden. Dann bliebe für die Reisenden in Zukunft nur noch der Bus.

Die Bahn spielt hier offenbar auf Zeit und hofft auf ein baldiges Ableben der Klägerinnen. Selbstverständlich hat der Naturschutzbund Deutschland rund um die Uhr mehrere Mitarbeiter mit der Bewachung der beiden Insekten betraut. Denn der Argwohn der Naturschützer ist groß. Sie scheinen der Deutschen Bahn alles zuzutrauen, sogar Mord. Es muss ja nicht wie ein Verbrechen aussehen: Oft genügt es, die Tiere heftig zu erschrecken, indem man direkt neben ihnen mit dem Fuß aufstampft oder auf ihren Bau pinkelt, und schon hätte man freie Bahn. Gegen Geld lassen sich für jeden noch so schmutzigen Job halbseidene Halunken finden, die diesen gern und skrupellos erledigen. Menschliche Mieter in begehrten Innenstadtlagen können von solch mafiösen Methoden längst ein Lied mit vielen hässlichen Strophen singen.

Nicht zu vernachlässigen ist auch bei kooperativen Ameisen die Schwierigkeit, sämtliche Individuen zu lokalisieren und zu informieren, ehe überhaupt an Verhandlungen und Umzug gedacht werden konnte. Denn Ameisen sind nun mal sehr klein und oftmals schwer zu finden. Sie wuseln durcheinander, nicht selten auch noch unter der Erde, und sehen einander für das grobe menschliche Auge obendrein sehr ähnlich. Das bedeutet, dass alle an den Füßen verschiedenfarbig beringt werden mussten, um wenigstens ansatzweise den Überblick zu wahren. Erst anschließend konnten sie mitsamt persönlicher Habe zu den Sammelplätzen gebracht werden, von wo aus schließlich der Transport in die neue Heimat erfolgte.

Daher waren zehntausende freiwillige und auch bezahlte Helfer auf den 125 Kilometern des Neubauabschnitts jahrelang im Einsatz, was eine Steigerung der ursprünglich veranschlagten Kosten um siebzigtausend Prozent zur Folge hat. Nicht, dass die Bahn ohne Bindung an entsprechende Gesetze widerspenstige Elemente aus Flora und Fauna nicht einfach mit dem Flammenwerfer eliminiert hätte – DB ist ja nicht die Abkürzung für Mutter Teresa -, aber immerhin: Sie hat die Herausforderung angepackt und exzellent gemeistert.

Unter diesen Umständen grenzt es an ein Wunder, dass die Arbeiten bereits so weit fortgeschritten sind. Die Verantwortlichen am BER, für dessen Bau bloß eine Handvoll Aufsichtsräte auf adäquate Posten umgesiedelt werden mussten, könnten sich an so viel Akribie durchaus ein Beispiel nehmen.