Bowling for Kolumbien (I)

Die kleinen Punks

Auf der Straße zurück nach Santa Marta winken drei kleine Punks auf freier Strecke den Bus heran. Sie kommen vom nahegelegenen Hippiestrand. Der soll dem Vernehmen nach schon reichlich überlaufen sein. Deshalb waren wir da auch nicht.

Der Bus hält, sie steigen ein und kommen nach hinten in unsere Richtung. Zwei Mädchen, ein Junge, ihre Haut sieht schlimm aus – sind das noch Mückenstiche oder ist das schon Krätze? -, offensichtlich aus Deutschland. Dass sie uns keines Blickes würdigen, kann ich noch nachvollziehen: Da fährt man um die halbe Welt, bloß um dort auch noch auf Altnazis zu stoßen, oder für was sie uns halten – wir haben zwar keine Nadelstreifenanzüge an, sondern sind nach einem Monat selbst reichlich zerzaust; trotzdem geht das natürlich gar nicht – wie uncool ist das denn! Aber die eine schafft es, sich mit dem Rücken voran derart kunstlaufkürmäßig auf den Platz neben einen am Fenster sitzenden Einheimischen zu schrauben, dass sie ihn dazu keine Sekunde lang ansehen muss. Um über den Mittelgang hinweg weiter mit ihren Freunden zu quackeln.

Von meinem Platz aus sehe ich das Gesicht des Kolumbianers. Eine Beschreibung ist schwierig, deshalb komme ich gleich zur Analyse: Ein solcher Umgang stößt die Leute hier echt vor den Kopf. Hier nimmt man sich wahr, man guckt sich an, man lächelt, man sagt was kurzes, meinetwegen „que tal?“, wenn einem nichts anderes einfällt.

Sofort breche ich, feige schräg von hinten zischelnd, meinen Begleiterinnen gegenüber den Stab über den Neuankömmlingen: Wie scheiße die in meinen Augen wären. Und was die überhaupt hier wollten, wenn sie für Land und Leute keinerlei Respekt und Interesse aufbrächten? Das gleiche Kaliber in der Wortwahl würde in anderer Konstellation auch gut ins rechte Lager passen.

Sie hätte die zuerst auch doof gefunden, gibt I. später zu bedenken, im Nachinein sei sie aber eher fasziniert. Denn wir wären doch mal genau so gewesen. Ignorant und unbeschwert. Und damit hat sie natürlich recht. Klar, war ich in dem Alter selbst ein Arschloch. Mein lieber Schwan, was für ein Arschloch ich war! Allerdings hätten mich die anderen Leute dann eben auch als eins bezeichnet. So wie wir das heute tun. Und zwar völlig zu recht. Das ist nun mal der Lauf der Dinge.

Genau genommen war ich sogar ein noch zehnmal schlimmeres Arschloch als die. Im Vergleich zu mir damals, sind die kleinen Punks vermutlich geradezu brauchbare Mitglieder der Gesellschaft. Bestimmt sind sie auf eine diffuse Art links. Schätze ich mal. Links bringe ich immer mit sozial in Verbindung. „Refugees welcome“ und so. Das finde ich ja eigentlich gut.

Bloß was ich bei ihnen absolut nicht unter einen Hut bekomme: Wie schafft es jemand, Millionen Flüchtlinge wilkommen zu heißen, der noch nicht mal seine Nachbarn im Hausflur grüßen kann? Nur weil die anders sind, die blöden Spießer, von wegen alt und arbeiten und anders angezogen und so. Immerhin sind die Flüchtlinge ja oft sogar noch mehr anders als eben diese Nachbarn. Und anarchistisch syndikalistisch organisierte Feministen sind manche allenfalls im Ansatz. Ich schwör, kein Scheiß und völlig unpolemisch, ich frage wirklich aus echtem Interesse: Wie soll das gehen, wenn man so scheiße drauf ist? Ich frage, weil ich das nämlich auch von mir kenne, denn ich bin ja selbst nicht der herzlichste. Ich brauche meinen Abstand. Deshalb habe ich mich zwar dezent für Geflüchtete eingesetzt, aber dass einer bei mir wohnte, käme nicht in Frage. So richtig, Küsschen, da ist die Fernbedienung, das Bier ist in der Gemüseschublade, ich hab dir schon das Bett bezogen, herzlich willkommen? Nie im Leben. Wie also schaffen dann die kleinen Obermuffel diesen Mentalitätsspagat und wie lauten die Lügen, mit denen sie sich selbst überlisten? Oder gibt es dafür spezielle Drogen?

Vielleicht aber sagen sie ja auch deshalb „welcome“ und nicht „willkommen“, weil ihnen in der fremden Sprache der Widerspruch weniger auffällt. „Welcome“ ist für sie einfach nur wie so ein englischsprachiger Liedtext: man summt ihn halt mit, ohne ihn wirklich mit dem Verstand zu durchdringen.

In diesem urlaubstypischen Battle, wer das deutschere Arschloch ist, einigen wir uns schließlich darauf, dass wohl jedes Lebensalter seine jeweils eigene Form der Arschlochhaftigkeit besitzt. So ist ihre, dass sie in ihrer Selbstbesoffenheit sich alles in den eigenen Tellerrand hineinschwindeln, während wiederum unsere darin besteht, dass wir alles, was wir nicht sofort begreifen, in Schubladen sperren und die Schlüssel wegwerfen. Uns alle eint nur unsrere Arroganz. Sie sind böse, weil sie noch ganz weich und dumm im Kopf sind, wir sind in Bosheit erstarrt wie erkaltete Lava. Was ist schlimmer? Wir natürlich, denn sie sind formbar und können noch alles werden: weich und gut, hart und gut oder auch hart und böse. So wie wir.