Das jüngste Gericht

Uli Hoeneß, Karl-Heinz Rummenigge, Hasan Salihamidzic – kaum zwei Wochen nach der seit Ikarus peinlichsten Lachnummer der Sportgeschichte, laden die drei Spatzenfunktionäre des FC Bayern München zur erneuten Pressekonferenz: Auf der einen Seite des Podiums der cholerische Wurstfabrikant, auf der anderen der unsympathischste Mensch der Welt seit Dschingis Khan. Derart in diesen lebenden Schraubstock aus welker Körpermasse, Wut und Niedertracht gesandwicht, dass er mehrfach mausgleich aufquietscht, haben sie ihren bemitleidenswerten kleinen Frühstücksdirektor, Schutzschild, Kratzbaum und Watschenmann für die beiden anderen Monster. Als Rummenigge beim vorigen Pressetermin Artikel 1 des Grundgesetzes anführte, „die Würde des Menschen ist unantastbar“, um bitterlich plärrend jede Medienkritik an seinem Scheißverein als Verstoß gegen die Menschenrechte zu brandmarken, wusste eigentlich keiner der anwesenden Pressevertreter, ob er angesichts dieses überetikettierten Superschwachsinns lachen, weinen, kotzen oder menstruieren sollte.

Wer sich über den vorangegangenen Absatz nun zu Recht empört: Das war bloß ein Trick, um das Problem zu illustrieren. Denn solche Sätze überhaupt auch nur zu denken, ist menschenverachtend und erinnert an die dunkelsten Zeiten der deutschen Geschichte: als nämlich der FC Bayern einmal nicht Tabellenführer war. Damals schwor man sich an der Säbener Straße, dass so etwas in Deutschland nie wieder passieren dürfe. Fortan rechtzeitig die Zeichen zu erkennen, hieß das Gebot der Stunde, und den Hetztiraden einer fanatisierten Presse Einhalt zu gebieten, die das Volk mit Fakten aufwiegelte und das gesellschaftliche Klima mit bohrenden Nachfragen derart verrohte, dass die Würde des einzelnen Millionärs in Turnhosen nichts mehr zählte.

Nach dem überzeugenden Erdrutschsieg gegen Rödinghausen sieht Rummenigge nun den Moment gekommen, es den Spöttern heimzuzahlen. Als er sich zur versammelten Presse beugt, wird sein Blick sehr ernst. Die Journalisten ziehen die Köpfe ein, furchtsam und schuldbewusst wie kleine Jungen, die sie im Vergleich zu den ethisch haushoch überlegenen Bayerngranden ja auch sind. „Einige Unverbesserliche unter Ihnen haben offenbar noch nicht mal vor dem Grundgesetz Respekt. Daher möchte ich Sie diesmal an die zehn Gebote erinnern.“

Die Schmierenschreiber schlucken: Die zehn Gebote sind dem FC Bayern traditionell heilig. Denn sie wurden Franz Beckenbauer von Gott persönlich auf dem Berg Sinai übergeben, wobei sie von einer Konfettikanone mit Goldschnipseln beschossen wurden. Nach einer weiteren Überlieferung des Vereinssenders Bayern TV räumte Gott direkt im Anschluss seinen Posten zugunsten von Hoeneß und Co. und arbeitet seitdem als Platzwart in der Allianz-Arena.

Doch welches Gebot wird er nennen, um denjenigen Verräter zu ächten, der einen schmetterlingsartig ins Nichts gaukelnden Torwart gesehen haben will: „Du sollst nicht töten?“ Die atemlose Spannung in dem fensterlosen Presseraum ist schier zu greifen.

Du sollst nicht belehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was dein Nächster hat.“ Mit starker Stimme lüftet der Vorstandschef das Geheimnis. Er fährt also die bewährte Neidschiene. „Und wir, der FC Bayern, verbitten uns in Zukunft jegliche Form der Belehrung.“ Neben ihm ergänzt Uli Hoeneß: „Keinen Scheißdreck sollst du belehren.“ Zischend tritt Dampf aus den Ohren des Bayernpräsidenten. Sportdirektor Salihamidzic piepst. Von hinten wird ihm ein Stück Emmentaler Käse gereicht.

Wir können auch anders.“ Rummenigge wendet sich einem Redakteur des Bayerischen Rundfunks zu. „Denn was folgt auf den Verstoß gegen die Gebote?“ Der Angesprochene stottert. Er weiß offensichtlich nichts. Außerdem haben ihm die bösen Buben von der „Bild“ schon wieder die Tasche ausgeleert. Jetzt liegen Buntstifte, Gurkenschnitze und der Rechenschieber auf dem Boden. Hinten in der Ecke schnipst aufgeregt ein rotwangiger Zeitungsmann mit den Fingern. „Der Nikolaus?“

Rummenigge seufzt: Die von der „Süddeutschen“ haben mal wieder rein gar nichts begriffen. „Nein, das jüngste Gericht natürlich!“ Er richtet sich auf und donnert los: „Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist!“ Auch dem letzten wird nun klar: Der Club weiß sich zu wehren. Und sei es mit dem Evangelium von Lothar Matthäus.

Um die Position des Vereins auch wirklich deutlich zu machen, zitiert Rummenigge noch die weiteren neun Gebote, sämtliche Artikel des Grundgesetzes außer Artikel 5 („ein Scheißdreck“), Grimms Märchen („Die guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen“), Konfuzius, Mein Kampf, das Strafgesetzbuch sowie den Leitfaden der Kammerjägerinnung.

Da klingelt es zum Glück zur Pause. „Zum Abschied möchte ich Ihnen noch einen klugen Satz von Pu der Bär mitgeben: ‚Ein Tag ohne einen Freund ist wie ein Topf, ohne einen einzigen Tropfen Honig darin.‘ Schreiben Sie sich das hinter die Ohren, dann werden wir in Zukunft auch wieder mehr Freude an unserer Zusammenarbeit haben.“ Mit solchen am Ende doch fast wieder versöhnlichen Worten ist auch diese Pressekonferenz des FC Bayern München beendet.

Mein Alptraum

An der Supermarktkasse überkommt mich fast der Schock meines Lebens: Ich habe den Leergutbon im Automaten stecken lassen. Da waren locker ein Euro und acht Cent drauf. Von dem Betrag kann jemand wie ich fast eine halbe Stunde lang leben. Die wird mir nun am Ende abgehen. Wenn ich dereinst auf dem Sterbebett zu meiner letzten großen Abrechnung gegen die Abwesenden anhebe, wird der Röchelfluss exakt bei, „Mein ganzes Leben war eine einzige Enttäuschung. Ich habe alle abgrundtief gehasst. Dieser Hass hat mich krank gemacht und nun muss ich sterben. Ich verfl …“ abbrechen.

Doch der Tod des Einen bedeutet in der Natur stets auch das Leben des Anderen. Füchse, Krähen und Aaskäfer laben sich am Leib des im Walde Gestrauchelten. Und auch der Mensch ist des Menschen Geier. Denn in meinem Fall belagern hier um diese Tageszeit viele Flaschensammler den Pfandautomaten. Die freuen sich bestimmt sehr über meinen Bon. Ihre Freude soll auch meine Freude sein.

Der Gedanke beruhigt mich wieder und meine eigene Güte rührt mich an. Eigentlich könnte ich den Zettel sogar immer drinstecken lassen, da findet er in der Regel ganz von selbst den Richtigen: einen Bedürftigen am Rande des Existenzminimums. Wenngleich ich beim Blick in den Spiegel zuweilen denke, wie fließend die Übergänge zwischen oben und unten doch sein können und dass es gar nicht so falsch wäre, wenn ich den Bon auch ab und zu selbst einlöste.

Allerdings weiß man nie sicher, ob die dusselige Wohltat tatsächlich den korrekten Adressaten findet. In meinem Alptraum braust nun nämlich draußen ein rechtsgesinnter Millionär im Jaguar herbei, hält vor Edeka mit quietschenden Reifen und stürmt mit fiesem Lachen in das Foyer, wo die Flaschenrückgabeautomaten stehen. Bettler weichen erschrocken zurück, Mütter stellen sich schützend vor ihre Kinder, während der zuwanderungsskeptische Großschriftsteller sich rücksichtslos vordrängt und mit dem widerhakenartigen Zeigefinger seiner manikürten Hand den grünen Ausgabeknopf drückt.

Raffgierig zieht und zerrt er den Zettel, meinen Zettel, aus dem Schlitz, kaum dass dieser erscheint und oft noch ehe die treue Maschine ihn überhaupt loslassen kann. Vor Ungeduld und Wut brüllt der Pfeffersack auf, obwohl ihm der Gutschein doch nicht zusteht und er außerdem nur eine halbe Sekunde länger warten müsste. Dann ist es geschafft und er rennt zurück zu seinem Auto, nicht ohne zuvor dem kleinen Hubschrauber am Ausgang, in dem die Kinder für einen Euro schaukeln dürfen, einen derart kräftigen Tritt zu verpassen, dass er für Monate außer Betrieb ist.

Viele hundert Kinder, die sich bei jedem gottverdammten Einkauf darauf freuen, werden furchtbar traurig sein. Erst recht, wenn sie sehen, wie das schräg in die Feuerwehreinfahrt geparkte Auto von dem bösen Onkel nicht nur weiter bestens funktioniert, sondern auch noch ohne Münzweinwurf, und dazu schneller vom Fleck kommt als der Hubschrauber, der ja noch nie so richtig abheben konnte. Das Kinderweinen ist ihm schönere Musik als das liebliche Lied des Vogels, der betörende Klang der Schalmei oder die zarten Laute der Lust wie sie im Sommer aus einem geöffneten Fenster im Hof dringen.

Er springt in die Karre, gibt Gas, dass die Reifen qualmen und überfährt in seiner Hast eine kleine getigerte Mietzekatze, auf die nun vergeblich fünf noch kleinere und getigertere Babykätzchen warten. Doch er hat es eilig, denn schließlich muss er bis Feierabend weitere siebzig Supermärkte abklappern. Oder warum glaubt ihr, wird er sonst so reich geworden sein?