Ein Kaffee für Bobele

„Berlin versteckt seine Dealer vor Politiker-Besuch“, titelt die „B.Z.“ anlässlich des Besuchs durch den Tübinger Oberbürgermeister Bors Palmer. Vor der Besichtigung des Görlitzer Parks habe die Berliner Polizei eigens die ansässigen Parkdealer zum vorübergehenden Verlassen des bekannten Drogenumschlagplatzes bewegt.

Dass der irre Sheriff von Tübingham als „Politiker“ bezeichnet wird, ist angesichts seiner Krankengeschichte, die fast die gesamte Palette pathologischer Persönlichkeitsstörungen abdeckt, bereits der erste große Fehler dieser Überschrift.

Der nächste Irrtum steckt in dem Wörtchen „versteckt“, ein infames Negativ-Framing der Selbstverständlichkeit, dass man nun mal das Heim aufräumt, bevor Besuch kommt, oder kurzzeitig die goldene Winkekatze aufstellt, die einem der Besucher einst zum Geburtstag geschenkt hat. Das gebietet schlicht der Anstand, und zwar ungeachtet dessen, wie unliebsam der Besuch auch sein sollte. In der Beziehung schlägt die sprichwörtliche Berliner Freundlichkeit wirklich alles. Berlin muss nichts verstecken. Berlin hat keine Angst vor Boris Palmer, Berlin ist einfach nur höflich.

Besonders höflich sogar in seinem Entgegenkommen, den Sumpfvorsteher nur ja nicht allzu sehr zu ängstigen. Denn die Angelegenheit hat natürlich eine Vorgeschichte. Bereits im vorigen Dezember verkündete Bobele schreckensstarr: „Wenn ich in Berlin ankomme, denke ich immer: Vorsicht, Sie verlassen den funktionierenden Teil Deutschlands.“ Darüber hinaus halluzinierte er parallelfaktisch über Kriminalität und Armut, um mit dem obsoleten Wunsch zu schließen: „Ich will diese Verhältnisse in Tübingen nicht.“  Was der Bauer eben so sagt, wenn er mehr als drei Autos auf einmal sieht.

Es ist ja schon komisch genug, wieso der hier überhaupt empfangen wird. Einem normal denkenden Menschen ist das kaum mehr zu vermitteln. Bei der Ankunft eines Kleinstadtbürgermeisters in Berlin hätte sich früher keine Ratte auch nur nach ihm umgedreht. Jetzt aber behandeln sie ihn wie den Kaiser von China, nur damit er am Ende nicht einnässt, in Ohnmacht fällt oder auf Dauer unfruchtbar wird. Oder er kann nach dem Schock nie wieder singen, knirscht sich nachts die Zähne kaputt und – ganz schlimm! – findet nicht mehr nach Hause.

Zerbrechliche Landeier packt man in Berlin daher traditionell in Watte. Man lässt extra für sie die S-Bahn im Kreis herumfahren, kehrt die gröbste Hundescheiße unter den Teppich und bittet eben auch die Herren Dealer, mal ein Stündchen beiseite zu treten, und ihr segensreiches Tun zu unterbrechen. Schließlich überfordert den Schwaben bekanntermaßen schon allein die Hautfarbe mancher der Betäubungsmittelhändler.

Für die ist es natürlich auch verletzend, dass sich jemand durch ihre schlichte Anwesenheit gestört fühlt. Als wären sie Müll. Dabei wohnen schließlich sie hier und nicht er. Er braucht doch nicht herzukommen, wenn es ihm hier nicht gefällt. Ganz davon abgesehen, ist der Görlitzer Park keine Sehenswürdigkeit. Komm mal klar, möchten sie ihm am liebsten zurufen, doch letztlich sind auch sie inzwischen so sehr Kinder dieser Stadt, dass sie deren hoch gerühmte Gastfreundschaft komplett verinnerlicht haben. So schlucken sie die Beleidigung herunter und gehen eine Stunde Kaffee trinken, damit der Dorftrottel nicht weint.

 

Hänsel und Gretel in Westberlin

Der Recyclinghof in Pankow schickt uns weg: eine Mietpritsche randvoll Müll ist zu viel, damit müssen wir „nach Tempelhof“ zum Wiegen. „Da ist im Norden, oder?“, fragt der Kumpel, der den LKW fährt. Außer mir sind alle, die X. bei der Entrümpelungsaktion helfen, im Osten geboren.

Er hat offenbar Tegel und Tempelhof verwechselt, immerhin eint beide irgendwas mit Flughafen. Das wäre so, als könnte ich Schönefeld nicht von Schöneberg unterscheiden, wo sie die Schwulenbars wegen defekter Rauchmelder nicht für den Betrieb freigeben.

Ich fahre als Beifahrer bei X. im PKW mit, die anderen im Laster hinterher. Also, sage ich, wenn wir uns aus den Augen verlieren sollten, ist es ganz leicht: erst runter zum Alex, dann über Jannowitzbrücke, Moritzplatz, Südstern, Hermannplatz. Dort rechts in die Hermannstraße und die kilometerlang immer nur geradeaus bis zur Gradestraße.

Die Nennung jedes dieser Orte brennt ein weiteres großes Fragezeichen in die Gesichter der Endvierziger. Dreißig Jahre nach der „Wende“, wie man das Versagen des baulichen Segenswerkes mit dem schlichten Namen „Mauer“ beschönigt, wissen sie nicht, wie sie von Pankow zum Moritzplatz kommen. Da war immerhin mal ein Grenzübergang. Vom Südstern haben sie noch nie gehört, geschweige denn, wie man dorthin gelangt – dasselbe gilt für den Hermannplatz, einen der Hauptverkehrsknotenpunkte der Innenstadt. Feinheiten wie die, dass die Gradestraße genaugenommen in Britz und nicht in Tempelhof liegt, erspare ich ihnen lieber gleich. Nicht zuletzt, weil ich den hasserfüllten Blick meiner Freundin im Sinn habe, nur wenn ich z.B. sage, „das hier ist ein Rabe und das dort ist eine Krähe.“ Wissen gilt heute offenbar als Makel. Ich verberge meine intellektuelle Überlegenheit. Bald holen sie wieder die Brillenträger ab.

Haben wir den LKW im Rückspiegel verloren, fahren wir jedes Mal rechts ran und warten. Anmerken möchte ich, dass es sich bei den Leuten meinem Eindruck nach keinesfalls um Idioten handelt. Und um Touristen auch nicht, sie sind echte Berliner.

Auf dem Rückweg nehmen wir dieselbe Strecke, man will ja auch niemanden überfordern. Am Hermannplatz lasse ich mich absetzen, weil ich da zuhause bin. Ich habe ein schlechtes Gewissen, sie sich selbst zu überlassen, denn es sind noch drei Kilometer bis zum Osten. Nach meiner bisherigen Erfahrung schaffen die das nie. Never. Es ist, als ließe ich ein dreijähriges Kind mit nichts als einer Schachtel Zündhölzer unbeaufsichtigt zurück, um in die Kneipe zu gehen.

Hinter der Kirche rechts“, schärfe ich dem Fahrer ein, „die nächste gleich noch mal rechts und immer geradeaus bis zur Jannowitzbrücke; das ist schon im Osten, da seid ihr in Sicherheit und zur Not geleitet euch die Volkspolizei heim in eure Ostwohneinheiten.“ Ich blicke in traurige Augen, leer, hilflos und auch ein bisschen vorwurfsvoll: Warum gehst du, klagen die Augen, ich kenn mich nicht aus, wo soll ich hin, ich hab schon wieder alles vergessen. „Wirklich ganz einfach“, schiebe ich nach, mehr um mich selbst zu beruhigen. Ich bin ein Rabenwessi. Meine Bequemlichkeit stelle ich über das Wohl der mir Anvertrauten.

Doch sie haben überlebt. Tage später lasse ich mir Bericht erstatten. Zweimal rechts war natürlich zu schwer. Stundenlang irrten die tapferen Zonenkinder durch die fremde Halbstadt, bis sie schließlich mit leerem Tank sowie nach PKW und LKW getrennten Wegen eher zufällig in die Hauptstadt der DDR zurückfanden. Ich bin gerührt. Hänsel und Gretel in der großen Stadt. Die Eltern sind am Hermannplatz ausgestiegen und die Hexe Westberlin hat die Kinder doch nicht gefressen. Das ist schön.