Knallharte Lobby

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In der Tagesspiegel-Rubrik „Mehr Berlin“ bläst die Benimmspezialistin Elisabeth Binder zur Jagd auf den Ruf der Radfahrer. Ihre Waffe: die doppelläufige Moralkeule: „Ich hasse sie, diese Heiligenscheine, mit denen sich Radfahrer in der Öffentlichkeit gerne schmücken.“

Der gelegentliche Ärger mit unangenehmen Exemplaren der Spezies, veranlasst sie dazu, klapsmühlenartig zu wiederholen, wie sehr es sie ärgere, „dass Radfahrer immer als die besseren Menschen dargestellt werden.“ Den Höhepunkt ihrer Jammerarie bildet eine Art gesungener Fieberwahn aus dem Märchenland der toten Träume: „Die Radler haben eine knallharte Lobby.“

Weniger Berlin“ wäre oft „Mehr Berlin“. Ich möchte mir die Haare büschelweise ausrupfen, die Augen gen Himmel verdrehen, bis nur noch das Weiße zu erkennen ist, irre vor mich hinkichern und mir dabei mit dem Zeigefinger hochfrequentig über die vorgeschobene Unterlippe fleppen: Autobahnen, der Volkswagen, Kraft durch Freude, Freude durch Tempo, Tempo durch autofreundliche Ampelphasen, autofreundliche Ampelphasen für das autogeilste Land der Welt, Exportweltmeister, milde Verkehrsstrafen, hohe Geschwindigkeiten, Rasen als Sex, eine fortwährende Penetration durch AudiBMWMercedesPorschebrummbrumm. Radler umgenietet, Fußgänger überrollt, dududu, das kostet jetzt aber zweitausend Euro, hammses passend, danke schön und weiterhin gute Fahrt!

Ja, schon klar, oder? Die Dame hat doch echt ein Wahrnehmungsproblem. Schwallt, schwadroniert, deliriert im Verlaufe des Artikels noch weiter von den „selbstverliehenen Heiligenscheinen der Radfahrer“ – dagegen wirkt Donald Trumps Lügenkosmos wie die Kritik der reinen Vernunft.

Natürlich gibt es aggressive Scheißradfahrer, aber das sind dann eben Arschlöcher. Egal, was sie tun, in jedem Verkehrsmittel und in jeder Lebenslage. Sie verprügeln ihre Frauen, Kinder und Hunde. Weil sie sie lieben zwar, denn eine andere Form, ihre Zuneigung zu zeigen, haben sie nicht gelernt. Sie haben immer recht und rasten bei der kleinsten Kleinigkeit komplett aus. Sie haben die Impulskontrolle eines defekten Polenböllers. Da ist es allemal besser, sie fahren mit dem Fahrrad und nicht mit dem Auto oder gar dem Panzer, davon würde doch alles nur noch schlimmer.

Häufig ist hier der Phänotyp mit Mountainbike und Ballonreifen, gern in Tarnkleidung oder dunklen Hoodies. Sein Leben ist ein Computergame namens „Streets of Warcraft“, durch das er sich als postapokalyptischer Straßenkrieger à la „Mad Max“ bewegt, sehr gerne auch noch in Begleitung eines unangeleinten, durchfallfarbenen Werwolf-Warzenschwein-Mischlings. Ziel das Spiels: Alle Feinde sind tot, Definition von „Feind“: jeder. Das Böse kann aber durchaus auch die Gestalt einer Touristin mit Hollandrad und hörschutzgroßen Kopfhörern annehmen. „Die besseren Menschen“, sind das jedenfalls nicht. Haben sie allerdings auch nie behauptet. Wie sollten sie denn – so weit können die doch gar nicht denken. Wir wissen nicht, aus welchem Paralleluniversum Frau Binder ihre Wahrheiten bezieht.

Klar, kann man persönliche Defizite mit dem von der jeweiligen Person bevorzugten Verkehrsmittel verknüpfen, um in der Folge die Gruppen pauschal gegeneinander auszuspielen. Man kann auch in die Kirche kacken. Doch auch dabei käme stets nur eine einzige Erkenntnis raus: Am schlimmsten sind sowieso die Fußgänger.

Nehmen wir zum Beispiel die Infanterie. Man hat diesen Kampffußgängern kein Pferd, keinen Panzer und kein Flugzeug anvertraut, da sie sogar innerhalb der blutrünstigen und dummen Militärmaschinerie noch als unzivilisierter Abschaum gelten. Sie morden, plündern und brandschatzen auf ihren weitläufigen Spaziergängen quer durch andere Länder, die sie überfallen haben. Zu Fuß verfügen sie über genügend Muße. Sie müssen auch nicht auf den Verkehr achten – die Straßen und Brücken haben sie auf ihrem Vormarsch längst gesprengt.

Auch Amokläufer sind fast immer zu Fuß unterwegs, wie ja bereits der Name sagt. Da können sie nämlich besser treffen als vom Rad herunter oder aus dem Auto heraus. Friedliche Absichten sehen anders aus.

Bezeichnend überdies, wie nachteilig sich eine Metamorphose vom Autofahrer hin zum Fußgänger auswirkt: Neulich erst räumte vor meinen Augen ein Auto beim Rechtsabbiegen beinahe einen Radler vom Sattel, der erschrak, „hey“, rief und mit der flachen Hand vorne auf die Kühlerhaube patschte.

Der Fahrer des Wagens bremste, stieg aus und wurde so zum Fußgänger. Eben noch ein lammfrommer Autofahrer, dem man allenfalls einen Mangel an Konzentration, Rücksicht, Fahrvermögen und Respekt vor dem menschlichen Leben hätte vorwerfen können, ging der frischgebackene Fußgänger nun wie ein Berserker brüllend auf den Radfahrer los und – typisch Fußgänger! – schlug ihm die Faust ins Gesicht, so dass dieser rückwärts über seinen Drahtesel fiel. Wäre er Autofahrer geblieben, wäre das alles nicht passiert. Ein Auto schlägt nicht zu. Ein Auto schreit nicht. Es hupt höchstens mal ein bisschen.

Mein Leben als Sanduhr

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(… polnische Familien, deutsche Rentner und so junge Leute mit so Hütchen …)

Früher waren Flugreisen noch etwas Besonderes. Man sparte jahrelang darauf, machte beim Notar sein Testament und ließ sich im Taxi zum Flugplatz fahren, weil das dann auch schon egal war. In der Kabine rauchte man, trank Schnaps, schrie herum und alles war umsonst. Doch heute gibt es Ryanair. Gegen einen Flug mit den Knauser-Iren ist selbst die Fahrt mit dem Flix-Bus ein Ausbund an Extravaganz.

Beim Anstehen in dem kobenähnlichen Billigfliegerverschlag am Rektum Schönefelds lassen sich die prekären Passagiere in polnische Familien, deutsche Rentner und so junge Leute mit so Hütchen unterteilen. Dazu meine Angetraute Q. und ich, ihr Angegrauter, die wir einen crazy Querschnitt durch die drei genannten Gruppen bilden.

Es geht los nach Lanzarote. Aus dem Cockpit quakt ein Hater in gebrochenem Englisch so aggressiv wie unverständlich ins Bordmikrofon. Ich vermisse diese Sorte Pilot von deutschen Urlaubsfliegern, die mit beruhigender Munterkeit auch noch die aussichtsloseste Lage zu beschönigen weiß, und damit jener charismatischen Spezies qua Geburt braungebrannter Ärzte ähnelt, die mit ihrer Lockerheit mühelos ihre Verachtung gegenüber den Kassenpatienten überspielen können.

Denn das sind wir – die Kassenpatienten unter den Flugreisenden. Allein mit den niedrigen Ticketpreisen lässt sich der Betrieb des legendär unsympathischen Chefs Michael O’Greedy nicht refinanzieren. Deshalb muss man bei Ryanair sogar für die Kotztüten extra bezahlen. Glücklich, wer da wenigstens ein Hütchen hat. Ein nonstop turbulenter Trip wäre ein Volltreffer für die Fluggesellschaft, doch ehe sich der unternehmerische Wunsch erfüllt, setzt – schwupps! – der Flieger auch schon auf im Rentnerurlaubsparadies. Die Rentner und die Polen klatschen, die jungen Leute setzen ihre Hütchen wieder auf, wir holen unseren Mietwagen.

Ein kleiner Flughafen, eine kleine Stadt, eine kleine Insel: Und dennoch schaffen sie es, ihr Zeug derart dämlich auszuschildern, dass wir rat- und orientierungslos so oft durch den ersten Kreisverkehr fahren, bis der Urlaub fast schon wieder vorbei ist, als wir den Teufelskreis endlich aufs Geratewohl verlassen.

An der Bude, die wir im Internet gebucht haben, wartet geduldig der Besitzer. Gonzalo spricht nur Spanisch, aber kein Problem: Irgendwie verstehen wir ihn trotzdem. Spanisch ist ja praktisch Französisch minus das aufgeblasene Getue – das eine ist Weltsprache, das andere wäre es gerne – und Französisch haben wir in der Schule gelernt wie die meisten Wessis unseres Alters. Zuerst lernte man Englisch, damit man sich mit Menschen aus aller Herren Länder (außer Franzosen) verständigen konnte. Anschließend lernte man Französisch, heute weiß keiner mehr warum. Wahrscheinlich irgendwas mit Völkerfreundschaft. Druschba. Dostojewskischatelnosti. Was für die Schüler im Osten Russisch war, war für uns Französisch. Eine vom Prinzip des praktischen Nutzens völlig unberührte politische Entscheidung.

Gonzalo erklärt uns, wie man draußen den Whirlpool bedient. Er zeigt uns in der Küche Topf und Gabel. Im Bad schließlich den Eimer, in den man unbedingt die Kackpapierchen werfen muss. „Buen provecho“, sagt er schließlich,„schönen Urlaub.“ Dann empfiehlt er sich und lässt uns mit Gabel, Topf und Kackpapiercheneimer allein.

Das Wetter ist erst mal reichlich bescheiden. Da erweist es sich fast als Glück im Unglück, dass wir so lange trockenen Fußes um den Kreisverkehr gefahren sind. Das Wasser im Whirlpool ist auch zu kalt. Abends schnattern wir uns ins Bett. Morgens schnattern wir dick verpackt auf der Terrasse. Q. sagt, dass wir nicht schon vor dem Frühstück anfangen dürfen, Alkohol zu trinken. Mehr sprechen wir nicht miteinander. Das tränenerstickte Gemurmel könnte in dem Sturm ohnehin keiner verstehen. Denn sobald der Regen aufhört, verstärkt sich der Wind. Wegen des Windes sind wir ständig voller Sand. Die Haare, die Klamotten und sämtliche Körperöffnungen. Da merkt man erst wie viele Löcher, Lücken und vorperforierte Sollbruchkanten so ein Mensch haben kann, selbst an Stellen, die man bis dahin für komplett undurchlässig gehalten hätte. Feinster Sand krümelt sogar aus den Poren. Als der Kackpapiercheneimer voll ist, fliegen wir wieder heim. Das Auto lassen wir sicherheitshalber am Kreisverkehr stehen und gehen die letzten fünfzig Meter zu Fuß. Endlich brennt nun auch die Sonne vom Himmel.

Nachtrag. Zuhause rieselt weiter beständig Sand aus mir heraus. Vor allem, wenn ich mich auf den Kopf stelle, rinnt mir eine halbe Wüste aus dem Kragen. Immerhin hat sich mein Zeitgefühl stark verbessert. Nach exakt zehn Minuten stelle ich mich auf die Füße zurück. Der Schwerpunkt des Rieselns verlagert sich wieder auf die Hosenbeine.