Es ist noch nicht zu spät

Weißglas? Braunglas? Grünglas? Weißglas ist ja ganz einfach, das ist das durchsichtige. Classic. Mit Weißglas bin ich längst fertig: zwei Gläser Löwensenf, eine Weißweinflasche. Aber Braunglas und Grünglas kann man manchmal schwer unterscheiden. Vor den Altglascontainern wiege ich wieder und wieder eine leere Sherry-Flasche in der Hand, analysiere die Farbe, treffe Entscheidungen und verwerfe sie erneut.

Sherry hatte ich ja noch nie. Ich weiß auch gar nicht so richtig, was ich damit anfangen soll. Aber mein Nachbar hat ihn mir geschenkt, zusammen mit einer Flasche Rotwein. Der Nachbar ist nett. Auf der Treppe fragt er mich stets nach meinem Befinden. Und er fragt so, als wäre er ehrlich besorgt, und bemühte nicht nur eine Floskel. Das wirkt ein bisschen suggestiv, als könne es mir eigentlich gar nicht gut gehen. Ich antworte dann immer ganz schnell, dass ich mich ausgezeichnet fühle, doch ich frage mich jedes Mal, wie ich denn um Gottes Willen aussehe oder was er gehört haben will: den uralten Toplader im Bad, der krachend und knirschend fast zehn Minuten lang schleudert, eine akustische Reminiszenz an den toten Mahlgang in der verwunschenen Mühle im Koselbruch? Oder sollte ich einmal mehr besinnungslos vor mich hin geschrien, geweint, gelacht, gebrabbelt, gelallt und gesungen haben? Oftmals rezitiere ich schon beim Schreiben laut heulend meine eigenen Texte. Ich habe das oft nicht im Griff, aber ich hatte natürlich gehofft, dass die Wände zur Nachbarwohnung dick genug sind. Damit keiner merkt, was ich doch schließlich selbst nicht merke.

Bei einem solchen Treffen im Hausflur sagte er „Augenblick“, verschwand kurz in seiner Bude und kam mit besagten Flaschen wieder heraus. Die bekäme er immer geschenkt, aber im Grunde tränke er ja gar nichts mehr. Aber ich doch ganz sicher. Aber hallo. Ich könne damit garantiert was anfangen. Zwinker.

Ich bedankte mich, ging zurück in meine Wohnung und trank den Wein. Mit dem Sherry musste ich mich allerdings erst anfreunden. Ich kannte den bisher nur aus Kochrezepten oder Filmen, wo alte englische Ladys mit dieser Note von verschimmelten Weintrauben den Untergang des Empires verdrängten. Dann aber dachte ich mir: immer noch besser als Lösungsmittel. Trank ab und zu des Nachts ein halbes Gläschen und irgendwann war er alle.

Nun habe ich den Salat. Denn die ungewohnte Sherry-Flasche tänzelt farblich derart atemberaubend auf genau dem schmalen Grat zwischen Braun-und Grünglas, dass man in einem fort schwindelnd in den Abgrund der eigenen Unentschlossenheit blickt. Ich stehe mittlerweile wohl schon an die zwei Stunden zwischen zwei Containern herum. Der Rücken tut weh, ich werde auch langsam ein bisschen wütend: Das ist doch die reinste Beschäftigungstherapie. Hinterher hauen die eh alles zusammen und verbrennen es. Mit der giftigen Asche düngen sie entweder hier die Felder oder verschiffen das Zeug nach Afrika, wo die Leute Kochgeschirr daraus zaubern. Dasselbe passiert mit dem Papier, dem Plastik- und dem Biomüll.

Dennoch stellen sie dem Bürger hochkomplexe Scheinaufgaben, mit denen er sein Potential verschwendet. Damit er nicht mehr merkt, was hier alles schief läuft und sich nicht eines Tages doch noch aufbäumt gegen ein System, das uns alle verarscht. Wir könnten Flugblätter drucken, auf die Straße gehen, miteinander sprechen, uns politisch engagieren. Doch stattdessen stellen sie uns ruhig wie Affen im Zoo, denen man einen Futterautomaten in den Käfig gibt, damit sie nicht die ganze Zeit mit Kacke nach Besuchern schmeißen. Immer perfidere Ablenkungen haben sie auch für uns entwickelt. Früher gab es nur Fußball, Sex und Alkohol. Heute gibt es Netflix und Altglascontainer. Doch noch ist es nicht zu spät. Ich entscheide mich für den Widerstand und werfe die Flasche in den Weißglasbehälter.

Der Spieler

Am Fahrkartenautomat auf dem U-Bahnsteig spricht mich ein freundlicher Herr an. Er hätte da einen Fehlkauf getätigt. Und zeigt mir den unabgestempelten Abschnitt einer Viererkarte. Für zwei Euro fünfzig könnte ich den haben, da hätte ich auf den Regeltarif AB von zwei Euro achtzig je Fahrt dreißig Cent gespart. Deal?

Blitzschnell rattert es in meinem Kopf. Tarife, Zahlenkolonnen, Multiplikations- und Vergleichsrechnungen. Ich bin ein lebender Computer. Und der – klingeling – spuckt nun aus: Eine Viererkarte im Automaten kostet neun Euro. Wenn ich aber viermal zwei Euro fünfzig rechne, bin ich schon bei zehn. Das ist kein gutes Geschäft für mich und das sage ich ihm nun auch. Ich bin stolz auf dieses Herrschaftswissen.

Stimmt, sagt er, und holt einen weiteren Abschnitt der Viererkarte hervor. Er würde mir deshalb zwei Karten für zusammen fünf Euro geben. Na? Wäre das was?

Es ist schwer zu sagen, wer von uns beiden der Gerissenere ist. Ich denke, wir spielen beide in einer derart hohen Liga, dass sie erst noch erfunden werden muss. Auf Normalsterbliche muss dieser Titanenkampf des arithmetischen Scharfsinns wirken, als ob Einstein und Newton einander mit Geistesblitzen bewürfen, nur noch viel extremer. Die Ahnung eines Donnergrollens liegt über der Szene, die Welt hält den Atem an.

Ich rechne erneut. Fieberhaft, fehlerlos. Klingeling: Fünf Euro, verkünde ich nummehr das Ergebnis, seien genaugenommen nichts anderes als zweimal zwei Euro fünfzig, nur anders ausgedrückt. So dass sich dadurch für mich nichts verändert hätte und ich lieber selbst eine Viererkarte für neun Euro aus dem Automaten zöge.

Das stimmt, lenkt er – später wird sich zeigen: zum Schein – ein. Er will mir damit das gute Gefühl geben, mich in dem geistigen Ringen durchgesetzt zu haben. Doch damit bereitet er nur den psychologischen Boden für eine derart schlaue Finte, dass selbst ich darauf hereinfalle. Vier Euro dann für beide Tickets, sagt er. Damit hätte er Verlust und ich Gewinn gemacht.

Hätte. Denn jetzt pokert er, doch die Statistik ist auf seiner Seite. Fast niemand hat vier Euro klein – nach einer Studie des Bundeswirtschaftsministeriums sieht sich im Schnitt noch nicht einmal jeder fünfte Bundesbürger in der Lage, eine Forderung von vier Euro passend zu begleichen.

Und er kann – welch ein Wunder, doch genau darin liegt der entscheidende Trick! – natürlich popürnich nicht rausgeben. Er spekuliert also darauf, dass sein Gegenüber im Verlauf der nun schon fast zwei Minuten dauernden Anbahnung vertrauensselig, unvorsichtig oder schlicht auch durch das lange und hochkonzentrierte Rechnen mürbe geworden, auf das Rückgeld verzichtet.

Ja okay, sage ich, vier Euro für zwei nagelneue Fahrscheine, super, und beginne, in meiner Börse nach dem Geld zu kramen. Betont gleichgültig sieht er mir zu. Er braucht Nerven wie Stahlseile und tiefes Vertrauen in seine Methode. Denn jene faulen Kunden, die die vier Euro klein haben, geben sich ja nicht schon vorher zu erkennen. Andernfalls könnt er sie gezielt nicht ansprechen und auf diese Weise aussondern. Damit würde er seinen Profit sogar noch erhöhen. Doch besagte zwanzig Prozent sind nur der Schnitt auf lange Sicht.

Das ist wie beim Roulette: Selbst wenn die Kugel zum fünften Mal auf Rot fällt, bleibt die Chance für Schwarz beim nächsten Spiel gleichbleibend fifty-fifty. Weil also auch mehrere Leute hintereinander jeweils vier Euro passend haben könnten, muss er für solche Quertreiber stets ein paar Euro zurückhalten, um zur Not in finanzielle Vorleistung zu gehen, bis er endlich die verdiente Rendite abschöpfen kann. Erst ab drei Fahrten, auf die kein Käufer rausgeben kann, macht er Gewinn. Um die Effizienz zu erhöhen, koppelt er sein Lockangebot auch zwingend an die zwei Karten. Mit einer einzelnen würde es ohnehin nicht funktionieren, denn über ein Zweieurostück verfügen dann doch wieder über siebzig Prozent der Bundesbürger permanent.

Ich finde natürlich nur einen Fünfer, er kann, leiderleiderleider, nicht rausgeben und ich gebe ihm halt den Schein, denn durch die lange Interaktion ist er mir mittlerweile fast so ewas wie ein Freund geworden in seiner nicht uncharmant ausgeführten Rolle zwischen Schnorrer und Betrüger.