Das Experiment

Ein Neuköllner Lokal mit großzügigem Außenbereich.

Ein Freund und ich möchten den schönen Herbstnachmittag mit zwei, drei Bieren gern noch weiter vergolden, und vielleicht sogar mal ganz kurz lachen. Ich kann zwar auch mit Alkohol traurig sein, doch nie ohne lustig. Also setzen wir uns vor ein Neuköllner Lokal mit großzügigem Außenbereich.

Ich sage nicht, um welches Lokal es sich handelt, weil ja immer noch die Möglichkeit besteht, dass der Typ einfach nur einen schlechten Tag hat. Zahnschmerzen, Wespenstich, Fassbierbestellung verpennt.

Besagter Typ ist wohl der Chef. Ich weiß nicht, wie lange schon – ich war ewig nicht mehr hier. Die meiste Zeit über steht er in die offene Lokaltür gelehnt. Ab und zu blickt er kurz zu uns rüber und dann gleich wieder weg. Später rückt er weiter hinten ein paar Bänke gerade, und verzieht sich anschließend zurück in seine Höhle.

Wir haben Durst. Nach zehn Minuten stehe ich auf und gehe rein, meinem Spürsinn folgend, dass es da drin nach Flüssigkeit riecht. Ich setze dazu auch meinen Mundnasenschutz auf, obwohl das hier sonst niemand tut. Zum Glück haben manche Läden die Seuche eher besiegt als andere.

Drinnen steht der Typ. „Ich hab euch schon gesehen“, sagt er. Aha. Gut, zu wissen. Das Bier kommt daraufhin auch relativ schnell. Doch als es, ebenfalls relativ schnell, leergetrunken ist, beginnt dasselbe Spiel von vorn.

Schnell wird klar: Mit dem libertären Berliner Servicegedanken alter Schule mit seiner stets auch von einer gut verhohlenen Sympathie dem Kunden gegenüber getragenen, verspielten Zuckerbrot-und-Peitsche-Choreografie, hat das nichts zu tun. Da ist nichts von jener legendären Leichtigkeit, Ironie, neckischen Hasch-mich-Stimmung zwischen Gast und Gastronom zu spüren, die dem ritualisierten Balztanz zweier Vögel ähnelt, wo einer den anderen mit Tautropfen oder Nektar abwechselnd lockt und dabei hinhält. Kein Herz, keine Schnauze. Nur blanke Abneigung.

Schäkernd und mit einem Lächeln, das wir jetzt zum ersten Mal zu sehen bekommen, bedient der Typ derweil an anderen Tischen hübsche, junge Menschen allerlei Geschlechts und Herkunft; die Verkehrssprache ist Englisch und nicht dieses hölzerne Geblök klobiger Mörderenkel. Ohne die wäre Berlin überhaupt erst so richtig awesome, so viel steht fest.

Es ist nicht zu übersehen: Verbeulte Locals passen nicht in das Profil des Ladens, wie es dem geilo Typen vorschwebt. Zu alt, zu dick, zu faltig. Er ist zwar im Grunde auch so einer, doch er wird nicht gern daran erinnert. Irgendwann schaffen wir es dennoch, dass er uns mit langer Fresse eine zweite Runde auf den Tisch knallt. Ich kann mich gar nicht drüber aufregen, sondern habe zunehmend Freude an der Challenge.

Ein normaler Mensch würde jetzt vermutlich sagen, „Ich hab eigentlich keinen Bock, so behandelt zu werden, ich geh jetzt. Dann werde ich woanders vernünftig bedient, und er ist von der Zumutung erlöst.“ Eine Win-win-Situation, sollte man meinen.

Aber Lose-lose ist mir lieber. Hauptsache, er fühlt sich schlecht – dafür ertrage ich gern die Unannehmlichkeiten. Der Mensch ist scheiße, und ich bin ein Mensch. In einem Experiment hatten Befragte lieber auf eine kleine Gehaltserhöhung verzichtet, wenn sie damit nur verhindern konnten, dass ein Kollege zugleich eine noch größere bekam.

Deshalb bleiben wir, und versuchen gegen alle Widerstände weiter Bier zu bestellen. Das macht richtig Spaß. Außerdem trinkt man nicht so schnell, wenn man lang vor leeren Gläsern sitzt. Und umso länger wird wiederum das schöne Spiel dauern. Doch leider übernimmt nun ein Angestellter, der sehr nett ist, jammerschade, game over.

Servicewüste Berlin (Symbolbild).