New York, New Cologne

Im East Village ist es, als ob man durch Neukölln latscht.

Zu Besuch in Berlins großer Schwesterstadt, bewundert und beneidet von dem kleinen Gör. Obwohl New York doch im Grunde wie Berlin ist, eins zu eins, vielleicht sogar zwei zu zwei. Im East Village oder in Williamsburg ist es, als ob man durch Neukölln oder Friedrichshain latscht. Überall die gleichen niedlichen Kaffeeläden, die gleiche Beschriftung – “Coffee & Breakfast“, „Happy Hour“ (wenn ein Bier fünf statt zehn Dollar kostet, also eher „Less Unhappy Hour“) – in der gleichen Sprache, und selbst die gleichen Leute: jung, urban, lässiger Chic. Urlaub machen, wo andere wohnen.

Deshalb also kommen so viele New Yorker nach Berlin. Es ist wie zu Hause, nur billiger. Dabei würde das Wort „Frühstück“ mit seinen exotischen Umlauten ein viel typischeres Fotomotiv ergeben, mit dem man daheim auch besser angeben könnte. Man will ja zeigen, wie weit man es in die Welt hinaus geschafft hat.

Umgekehrt wimmelt es in New York von Berliner Touristen, und zwar vor allem Leuten wie uns, all diesen Günthers und Giselas, lebensfroh, rüstig und innerlich wie äußerlich doch schon leicht patiniert, auf dem klassischen Günther-und-Gisela-Trail: Katz’s Delicatessen, Brooklyn Bridge, MoMA, und ab ins Bettchen.

Ach nee, vorher noch unbedingt zur „Amateur Night“ ins Apollo. Das traditionsreiche afroamerikanische Theater in Harlem ist ein echter Geheimtipp. Und wem begegnen wir an der Theaterbar? Geheimtipp-Günther und Geheimtipp-Gisela aus Schöneberg. Und Petra und Klaus aus Steglitz. „Na, und ihr so? – „Achtung, die M-Line fährt abends als Express.“ – „Alles ganz schön teuer hier.“ Die Einheimischen nehmen es mit bewundernswerter Fassung. Zum Glück tragen wir alle keine Pickelhauben mehr, sonst hätte man echt Probleme mit dem Blick auf die Bühne.

Die Fußgängerzone von New York suchen wir bis zuletzt vergeblich. Die gibt es offenbar nicht, ganz schön provinziell. Und enttäuschend, auch weil man deshalb gar nicht weiß, wo jetzt von dieser Stadt genau die Mitte ist, beziehungsweise C & A. Die Orientierung ist eh schon schwer genug, noch dazu in meinem schwierigen Alter: So benutze ich einerseits einen zerfledderten U-Bahnplan aus Papier, den ich jedoch ständig mit Google Maps abgleiche. Dumpf prallt in mir Archaik auf Moderne.

Erschreckend finde ich, dass wir wie Pfälzer Touristen in Berlin in New York immerzu auf dem Radweg rumstehen. Die Leute klingeln und fluchen. Da sehen wir endlich auch mal, wie das ist. Ich hätte schwören können, dass ich so dumm niemals sein würde, aber offensichtlich verblödet man mit der Touristenwerdung automatisch auf der Stelle zu Stein. Das wird uns Demut lehren. Zurück in Berlin werden wir fortan jeden dieser nervigen Poller aus Fleisch, Hütchen und Selfie-Stick nur noch mit den Samthandschuhen der Versöhnung anfassen.

Für einen angenehmen Rückflug haben wir uns Cannabis-Weingummis der Marke „Camino“ besorgt. Die gibt es in New York an jeder Ecke, und selbst wer mit Kiffen überhaupt nichts anfangen kann, dürfte diesem milden Halbrausch etwas abgewinnen. Behaglich schnurrend schaue ich mir einen Film an, trinke noch zwei Biere, und nicke anschließend ein bisschen weg. Das Flugzeug muss notwassern, irgendwo im nächtlichen, eiskalten Nordatlantik. Verzweifelt puste ich zwischen Eisbären und Grönlandhaien in die Pfeife an meiner Schwimmweste – die Behaglichkeit frisst ihre Kinder. Beim Erwachen bin ich nicht unglücklich darüber, dass ich weiterhin warm in meiner Mittelreihe sitze. Grad war es draußen noch dunkel, jetzt ist es schon wieder hell. In anderthalb Stunden hat Berlin uns wieder, das echte.

Kurz vor Wannsee

Schließlich hat der Kaiser ihnen die Eisenbahn gebaut …

Die älteren Sitzplatznachbarn im Regionalzug unterhalten sich über ihre Zeitungslektüre. Anfangs höre ich nicht richtig zu; der Mann sagt „Kamerun“ und „1914“, „Bundesregierung“ und „Deutschland“ und ich spitze erst so richtig die Öhrchen, als er sagt: „Wir Deutschen sind doch mal wieder die Gutmenschen der Welt.“

Dann gehörst du wohl nicht dazu, denke ich, und seine Begleiterin bemerkt, das klinge ja fast beleidigend. „Das ist auch so gemeint“, stimmt er zu, hörbar stolz darauf, dass sein Subtext verstanden wurde.

Ich weiß ich nicht genau, worum es geht, vermute aber aus dem Kontext, dass sich die Bundesregierung als Rechtsnachfolgerin der kaiserlichen Völkermörder nach über hundert Jahren endlich mal zu einer Art lauwarmen Entschuldigung durchgerungen hat: „Sorry, Leute, wegen Sklaverei und Genozid und Raubkunst und so, das war schon irgendwie voll doof, und wird zumindest in dieser Form wahrscheinlich auch nicht wieder vorkommen.“ Dem Herrn neben mir ist selbst das bereits zu viel.

Was will er denn, der Afrikaner?, denkt er bestimmt. Wir haben ihm doch die Grippe und das Schießgewehr gebracht, ihn Disziplin gelehrt und auch den rechten Glauben. Das haben wir natürlich in Rechnung gestellt: Erst Kautschuk, Elfenbein und später seltene Erden, ohne die wir nicht auf X herumkrakeelen könnten. Auch diese Regionalbahn würde nicht mehr fahren, und ob sein Herzschrittmacher mit Braunkohle aus der Lausitz liefe, ist ebenfalls die Frage. Dafür haben wir überall in Afrika geile Grenzen gezogen – die hätten ohne uns gar nicht gewusst, dass sie die überhaupt brauchen, und wo ein Land jeweils zu Ende ist. Also wäscht eine Hand die andere, bevor sie sie abhackt. Alles gut.

Aber nein, offenbar gar nicht gut, denn nun schwingen die da oben fromme Festtagsreden, während der deutsche Michel darbt. So kostet der High Protein Vanillepudding bei Lidl jetzt schon 89 Cent, es ist eine Frechheit, die Ampel, der Habeck, die Inflation, wir haben ja selber nüscht, und aus Afrika türmen immer mehr Undankbare zu uns, obwohl wir jahrelang dafür gesorgt haben, dass sie es dort so richtig schön haben. In Togo blickt man noch heute in die leuchtenden Augen alter Menschen, wenn man sie auf deutsch anspricht, der Sprache der historischen Wohltäter. Schließlich hat der Kaiser ihnen die Eisenbahn gebaut, unter der unwesentlichen Mithilfe sicher exzellent bezahlter einheimischer Arbeiter. Die funktioniert natürlich nicht mehr; wenn man nicht alles selber macht …

„Alles was recht ist“, sagt der Alte, wie um nicht nichts zu sagen, was ihm aber nicht gelingt. Er schaut aus dem Fenster nach draußen, ich folge seinem Blick. Dort steht ein Reh im Dunst, und noch ein Reh und noch eins. Drei Rehe also. Die haben es gut, denke ich, die sind an der frischen Luft.

„Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“, bemüht der Mann nunmehr ein Zitat, das man eigentlich eher als ironische Spitze von Links gegen Rechts kennt. Hier jedoch umgekehrt, denn längst kapern die Rechten vom Freiheitsbegriff über Wortwahl und Style bis hin zum zivilen Ungehorsam alles, was mal im weiteren Sinne links codiert war, drehen es durch den Wolf, kacken einmal drauf und präsentieren es anschließend stolz als ihres.

Auf einmal wünsche ich mir nichts sehnlicher, als dass dieser Zug entgleisen möge, um dem Regionalgelaber neben mir abrupt den Dampf abzudrehen. Das würde zwar viele Unschuldige mit in den Tod reißen, unter anderem mich selbst, doch den Kollateralschaden nähme ich für eine bessere Welt liebend gern in Kauf. Der Zug hält nun in Wannsee. Da war doch auch mal irgendwas?

Die neuen Künste

Immerhin hat das Stahlbad Straßenkunst auch Vorteile gegenüber dem sterilen Uniwissen.

Endlich sind die herkömmlichen Kunstformen auf dem Rückzug. Eine halbe Ewigkeit lang hat man uns mit dem drögen Kram zugeschissen, bis uns vor Überdruss die Augen tränten: Von verwitterten Höhlenstrichmännchen über die rechtsklerikale Sittenpropaganda der Alten Meister, nervenzerfetzende Katzenmusik, sterbenslangweilige Literatur, didaktische Mumblecore-Filme und törichtes Tanztheater bis hin zum performativen Bügeln von Brotscheiben, Zersägen tiefgefrorener Eichhörnchenkadaver oder Einwickeln von Klohäuschen in Geschenkpapier.

Doch zum Glück gibt es heute jede Menge erfrischender neuer Künste, die unter dem Eindruck des nahenden Weltuntergangs dynamisch ihre schnelllebigen Blüten entfalten. Denn wer hat schon noch die Muße für einen tausendseitigen Schinken oder den Besuch einer Gemäldegalerie, wenn draußen bereits radioaktive Sandstürme an den Fensterläden rütteln.

Da wären in erster Linie die Hick-Up Artists zu nennen, deren Kunst man inzwischen nicht mehr nur auf Youtube oder TikTok bewundern kann, sondern längst auch in der Tagesschau. Die Kunsthickser sind Teil einer neuen, unkorrumpierten Künstlergeneration, die Kunst nur um ihrer selbst willen betreibt, und dafür größte Unannehmlichkeiten in Kauf nimmt. Viele von uns machen sich vollkommen falsche Vorstellungen, gerade auch von den Anfängen eines Künstlerlebens: Lange schlafen, gut essen, kreativ sein unter ständigem Drogeneinfluss, eine Riesenauswahl an attraktivsten Sexualpartnern, und Stipendien in der Toskana bis zum Abwinken.

Aber von wegen! Es ist eine harte Schule. So ist es nicht ungewöhnlich, dass sich Hick-Upper ihr Studium an der Hickshochschule damit verdienen, während der Rotphasen die an den Ampelkreuzungen wartenden Autofahrer mit ihrem Kunstschluckauf zu unterhalten. Immerhin hat das Stahlbad Straßenkunst auch Vorteile gegenüber dem sterilen Uniwissen. Das Einüben neuer Techniken unter schwierigsten Bedingungen – das Wetter; der Geiz, der Spott und die Ignoranz der ungeduldigen Verkehrsteilnehmer – ist auch ein Lackmustest für die Belastungsfähigkeit, denn der Weg in die großen Mehrzweckhallen unserer Metropolen ist alles andere als mit Rosenblättern gepflastert. Die allerwenigsten Hick-Up Artists werden es auf den Olymp der Konzeptkunst schaffen. Die Auslese ist gnadenlos, Ruhm und Reichtum winken nur den Besten und Beharrlichsten.

Nicht jeder hat nun mal das Zeug zum Star. Außer dem Talent sind die Grundvoraussetzungen auch ein unbändiger Willen und vor allem eiserne Disziplin. Neben einer strengen Diät aus kohlensäurehaltigen Getränken und scharfen Spirituosen, muss über Jahre hinweg das Zwerchfell so trainiert werden, dass der Körper auf Kommando Hick-ups produziert. Durch die permanenten Kontraktionen ist das Zwerchfell eines Hick-Up Artists ähnlich ausgebildet wie bei Kraftsportlern der Bizeps. Der Anblick der markanten, rettungsringartigen Auswölbungen im Bereich des untersten Rippenbogens fällt Besuchern einer klassischen Hick-Up-Symphonie stets schon vor dem ersten Ton ins Auge.

Die Hick-Up-Kunst entwickelte sich übrigens aus der raueren, schlichteren, doch in den Augen ihrer Liebhaber auch reineren und ursprünglicheren Burp Art. Die Rülpskunst ist die primitive große Schwester des Schluckaufs – das Verhältnis der beiden zueinander ist vergleichbar dem zwischen mittelalterlicher Schalmei und moderner Klarinette, zwischen Anstreicher und Kunstmaler, Orang Utan und Homo Sapiens.

Eines Tages muss so einem Rülpser am königlichen Hof ein erster, rudimentärer Schluckauf entwichen sein. Dieser erste Hick-Up Artist wurde wahrscheinlich auf der Stelle geköpft, weil die Zeit für seine Kunst noch nicht reif war. Man war Rülpser gewohnt und wollte Rülpser hören. Das galt als treffliche Gaukelei, alles Neue hingegen als Teufelswerk (Galilei lässt grüßen!). Doch seine Nachfolger verfeinerten in Kellern und Branntweinschenken heimlich die Schluckaufkunst; diese schneidigen Burschen waren für das einfache Volk Helden im Widerstand gegen die Obrigkeit.

Von solchen Anfängen ist auch jetzt noch einiges zu spüren. Denn ob Hicksen oder Rülpsen: Gute Kunst ist immer auch politisch. Speziell unter dem Druck totalitärer Regimes entpuppt sie oftmals ihren subversiven Charakter. So mag ein außergewöhnlich raffinierter Schluckauf Außenstehenden bloß als schöngeistiger Zeitvertreib erscheinen, während die Unterdrückten ihm eine codierte Warnung vor Geheimpolizei oder Religionswächtern entnehmen, und die verästelte Melodie eines Kunstrülpsers könnte Eingeweihten den Weg zu einem konspirativen Treffpunkt weisen.

Heute ist vor allem Berlin ein Eldorado für die vielen jungen Hick-Up Artists aus aller Welt. Hier fanden sie zunächst ideale Bedingungen vor, Wohnraum und Kohlensäure waren billig, hier wehte noch ein echter Pioniergeist. Doch leider wird es nun auch in der deutschen Hauptstadt enger in den Häusern, Straßen und auch in den Herzen. Hick-Upper müssen sich die raren Spots für die Straßenkunst mit Fartists und Throw-Up Artists, sprich Kunstfurzern und Kunstkotzern, teilen; beides ausgerechnet Spezialisten, die relativ viel Ruhe, Achtsamkeit und Space benötigen, um sich auf ihr diffiziles Metier konzentrieren und angemessen entfalten zu können. Besonders die haptische Throw-Up Art lappt schließlich weit in den Bereich der bildenden Kunst hinein und benötigt entsprechend Raum, um die für sie typischen, ambulanten Exponate zu präsentieren. Die explosive Furzkunst wiederum ist für Publikum wie Ausführende ohne den nötigen Sicherheitsabstand bekanntermaßen nicht ganz ungefährlich.

So braucht man sich über die chaotischen Zustände nicht zu wundern, wenn sich hundert verzweifelte Kunstschaffende laut hicksend, furzend und sauer aufstoßend auch noch bei grünem Ampellicht mitten auf der Kreuzung um den Standplatz prügeln. Natürlich behindert das den Verkehr, doch wünschte man sich mehr Verständnis von den Autofahrenden. Ohnehin wäre ein aus dem Wagenfenster gereichtes Zweieurostück der ungestörten Fortsetzung ihres Wegs weitaus dienlicher als feindseliges Gezeter. Auch ein Mehr an Kulturförderung vom Bund würde die unhaltbare Lage garantiert entspannen. Das sollten uns unsere Nachwuchskünstler wirklich wert sein.

Icke und Icky

Mein Zahnarzt ist nicht so ein Fakirtyp, sonst würde ich da auch nicht mehr hingehen.

Mein weltweit größtes Idol ist im Grunde mein Zahnarzt, der mit dem Rücken zur Wand des irdisch Machbaren heldenhaft um meine Zähne kämpft. Denn die sind buchstäblich Brückenköpfe, die um keinen Preis fallen dürfen: Wo die Basis verloren geht, um erst Kronen und dann Brücken zu verankern, gerät der ganze Müll haltlos ins Rutschen, und irgendwann entlarvt sich das über Jahre mühsam in ein Gleichgewicht des Schreckens tarierte Gebiss als unhaltbares Lügenkonstrukt.

Es geht auch anders. Erst kürzlich habe ich ein aktuelles Bild von Iggy Pop gesehen: Eine Fresse, eine Haut, einen Körper wie ein fünf Jahre im Keller vergessener Schrumpelapfel von so einer uralten Wildsorte, die man aus guten Gründen nicht mehr anbaut, jedoch wahnsinnig gute Zähne – morgens, mittags, abends Aronal und Elmex. Ich bin praktisch ein Negativ von Iggy Pop, mit meiner einerseits apollinisch ebenmäßigen Supraästhetik, doch dafür eben krass beschissenen Zähnen. Wir zwei, Iggy und ich, Icke und Icky. Hier außen hui, und innen pfui, da umgekehrt.

Einmal hat mein Zahnarzt einen wunderschönen Satz gesagt. Der Kontext war folgender: Ich hatte damals Probleme mit einer Altlast seines Vorgängers. Unter einem eigentlich längst wurzelgetöteten und überkronten Zahn, rottete, in zugegebenermaßen tückisch verwinkelten Wurzelkanalenden, der Pfusch noch leise vor sich hin. In diese tiefsitzende Entzündung hinein musste der Neue nun mühsam nacharbeiten, um hoffentlich den Rest der Zahnsubstanz zu erhalten.

Zu Beginn jeder Sitzung wurde die Stelle ausgiebig betäubt. Doch für die spezielle Komplikation noch nicht gründlich genug. Der Restnerv grüßte aus der Hölle und ließ mich leise jodeln. Mein Zahnarzt ist zum Glück nicht so ein Fakirtyp, sonst würde ich da auch nicht mehr hingehen. Ich kotze nämlich schon, wenn ich nur die einschlägigen deutschen Redensarten höre: „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“, „Schnauze, du Sau“, und „Was dich umbringt, macht mich stärker“. Was soll das denn, sind wir im Krieg oder bin ich Reinhold Messner?

Dabei ist die Sache doch so einfach. Der Patient schreit und weint, zappelt, zittert und schlägt um sich. Ein seriöses Arbeiten wird dem Zahnarzt dadurch deutlich erschwert. Wozu also Folterknecht spielen, es sei denn, es handelte sich um einen sadistischen Verbrecher, dem es teuflisches Vergnügen bereitet, Menschen, Tieren, oder Pflanzen Schmerzen zuzufügen.

Doch zum Glück ist mein Zahnarzt kein solcher Unhold. Großzügig legte er nach, im Dienste des Patienten und der Menschlichkeit. Immer noch Aua. Nächste Spritze. Warten. Aua. Und dann kam der Satz: „So jetzt reicht’s, Herr Hannemann, ich spritz Sie jetzt tot!“

Genau mein Humor. Zufrieden schmunzelnd lehnte ich mich zurück. Keine Schmerzen, keine Angst, stattdessen nichts als warme Geborgenheit. „Herr Hannemann, ich spritz Sie jetzt tot“, hatte für mich in dem Moment denselben zarten Klang, wie „Der Kaffee ist fertig“, „Alles wird gut“, oder „Magst du noch ein Schokoladenbärchen aus dem Schokoladenbärchenbus?“

Im Nachhinein bewundere ich ihn für sein Fingerspitzengefühl. Denn gerade gegenüber Fremden braucht man schon ein verdammt gutes Gespür dafür, welcher Spruch geht, und welcher nicht. Schließlich befinden wir uns gerade mitten in der „Eulenspiegelzeit“, einer Epoche des Alles-wörtlich-Nehmens. Egal, ob aus vorgespielter Opferpose oder wirklicher Not, würde sich garantiert wieder irgendein Patient getriggert fühlen und empören. Der jahrelange Mordprozess führt am Ende mindestens zum Entzug der Approbation. Wer da noch einen Witz riskiert, hat meinen vollsten Respekt.

Tag der Arbeit

Wie ich sehe, gehören Tanktop, Sektflasche, Vaporizer und Strohhut zur Grundausrüstung der modernen Malocher.

Als ich am Nachmittag das Haus verlasse, ist alles voll mit jungen Leuten. Mit Sektflaschen bewaffnet, ziehen sie über die Bürgersteige und auch die Fahrbahnen. Für andere Verkehrsteilnehmer ist kein Durchkommen mehr, noch nicht einmal für Fahrradfahrer. Heute zeigen sie es uns Bonzen aber mal so richtig. Doch ich bin ein guter Verlierer. Außerdem gehört der Tag der Arbeit nun mal diesen Menschen, und dass er eine solche Masse von ihnen zu mobilisieren vermag, stimmt mich froh: Ich bin echt positiv überrascht, wie viele aufrechte Proletarier es offenbar noch gibt.

Diszipliniert stehen die Arbeiterinnen an den ambulanten Bier-, Fress- und Caipirinhaständen an, die vor allem im Bannkreis der Spätis wie Pilze aus dem Boden schießen. Aperol Spritz gibt es natürlich ebenfalls, die rote Farbe passt perfekt zum ersten Mai. Was für ein originär revolutionäres Gemisch: Rotfront, Rotsaft, Rotnase – Völker sauft die Liköre, auf zum letzten Getränk …

Geduldig warten sie auch in langen Schlangen vor den Cashautomaten. Dass sie das Leiden gewohnt sind – auf dem Arbeitsamt, am Fließband, dazu die Enge in den Mietskasernen – sieht man auch hier wieder. Kaum ein Klagelaut kommt über ihre zähen Lippen, allenfalls lautes Kreischen und Lachen, wenn man zufällig Freunden begegnet, oder einem einmal mehr eine volle Bierpulle auf den Radweg gefallen ist. Doch dann holt man sich – heureka! – eben einfach eine neue. Not macht erfinderisch, und der eiserne Durchhaltewille dieser braven Menschen ist legendär.

Die meisten der Werktätigen sind jung; die harte Fronarbeit hat in ihren Gesichtern bislang kaum merkliche Spuren hinterlassen, bis auf ein paar glasige oder stark gerötete Augenpaare. Das ist ganz erstaunlich. Nur wenn sie zur Straßenmusik sinnlos schreien, zucken und stampfen, bekommt man eine leise Ahnung davon, was diese Menschen täglich durchmachen müssen.

Die Arbeiterschaft ist international. Ich höre Englisch, Spanisch, Französisch, Italienisch, Dänisch. Und wie ich sehe, gehören Tanktop, Sektflasche, Vaporizer und Strohhut zur Grundausrüstung der modernen Malocher. Die Zeiten haben sich gewandelt, doch der Stolz bleibt. Was für ein Anblick – die Arbeiterklasse lebt! Und wie! Lenin hätte wahrscheinlich vor Freude geweint.

Redlich angetrunkene Arbeiter fahren nun zu dritt auf einem E-Roller im Slalom durch die dichte Menge vor dem U-Bahnhof. Sie rempeln einen schimpfenden Kollegen an, dem der Aperol rot aufs Seidenhemd spritzt, und fahren lachend weiter. Wer möchte es ihnen verdenken, denn es sind gerade sorglose kleine Momente wie dieser, der ihnen ein paar unbeschwerte Sekunden schenkt, in denen sie ausnahmsweise ihre Sorgen und Nöte, den Schinder an der Werkbank und den Zigarre rauchenden Fabrikbesitzer in seiner fetten Villa, die sie allein mit ihrem Schweiß und Blut bezahlt haben, wenn schon nicht vergessen, so doch immerhin für kurze Zeit verdrängen können.

Später komme ich schlecht in mein Haus wieder rein, weil erst eine Gruppe besoffener Amerikaner die Tür versperrt, und dann der Eingang voller Flaschen liegt. Aber ich verstehe ja, dass sie keine Zeit haben, ihren Müll wegzumachen. Morgen um sechs müssen sie bestimmt schon wieder bei Borsig an der Maschine stehen, in der Pizzafabrik am Hochofen, oder in der Werbeklitsche am Espressoautomaten. Da wollen sie wenigstens jetzt einmal ein bisschen feiern, und keine Flaschen wegräumen. Heute ist ihr Tag. Wer das nicht versteht, ist ein herzloses Ausbeuterschwein, das dieser hart schuftenden Schicht noch nicht einmal diese kleine Auszeit gönnt.