Number One

Eine Schnellabfertigung ohne Privatsphäre.

Ich muss schon sagen, dass gerade mich als Mann der Anblick stark belastet: Im Kino oder bei Konzerten komme ich auf dem Weg zum Klo regelmäßig an einer langen Schlange aus ebenso langen Fressen vorbei: den Frauen, die vor dem Frauenklo sehr lange warten müssen, bis endlich eine Kabine frei wird. Die passiv aggressive Ausstrahlung der Wartenden trübt meine bis dahin glänzende Freizeitlaune. Während ich dann – husch, husch, und ohne Wartezeit – vor, neben oder in das Becken pinkle, wünsche ich mir oft, die Toilettenbereiche für Frauen und die für Männer lägen weit voneinander entfernt, so dass ich den stummen Vorwurf nicht mitansehen müsste. Denn so wie es ist, bleibt die permanente Konfrontation mit dem Ärger der Frauen, ausgerechnet in dem als Safe Space für unsere Seelen gedachten, kurzen Qualitätszeitfenster abendlicher Ablenkung, eine Zumutung für uns Männer, die wir ja immerhin auch so etwas ähnliches wie Mitgefühl zu spüren in der Lage sind. Man ist ja kein Unmensch. Im Grunde gleicht meine innere Zerrissenheit eins zu eins der einiger deutscher Intellektueller im Ukraine-Krieg.

Der Ansatz der betroffenen Frauen ist allerdings verblüffend anders. Egoman stilisieren sie sich doch tatsächlich zu alleinigen Opfern dieser für Jedermann unbefriedigenden Verhältnisse. Solcherlei identilympisches Gerangel um die begehrten Siegerplätze auf dem Treppchen der größten Benachteiligung sind zurzeit ja schwer en vogue. Ich als alter weißer Stehpinkler prangere das an. Wie soll ich da denn konkurrieren, wer benachteiligt bitte mich, bin ich zu uninteressant, bin ich das etwa nicht wert? Ich leide darunter, dass es mir so gut geht.

Ohne Rücksicht auf meine Empfindungen fordern Frauen gleiche Chancen beim „Kleinen Stuhlgang“, oder „Number One“ wie der Angelsachse den Vorgang in seiner ungemein facettenreichen Sprache nennt. Apropos. Wäre ich der Besitzer des Number One Sushi in Prenzlauer Berg, hätte ich mein Lokal bestimmt anders genannt. Ich weiß zwar nicht genau wie, aber Number Two ebenfalls nicht. Eher Super Sushi oder so. Und was versteckt sich eigentlich hinter Number Three, Four und Five: kotzen, koksen, vögeln?

Number One geht bei den Männern jedenfalls schneller – das ist nicht zu leugnen. Um die Verhältnisse an den Klotüren wenigstens im Ansatz anzugleichen, hat die Berlinerin Leila Olvedi das platzsparende „Missoir“ erfunden. Es ähnelt einem Pissoir, in dem die Becken jedoch für den sitzenden Gebrauch angepasst und optimiert sind. Die Wasserlassenden hocken nebeneinander wie Hühner auf der Stange, eine Schnellabfertigung ohne Privatsphäre, wie man sie auch von den Schwanzvergleichsrinnen der Herren kennt. Und es ist sicher keine Absicht, aber das Wort Missoir erinnert schon sehr an ein mit dem Strahl verfehltes Urinal, und damit an die kognitive und motorische Inkompetenz der meisten Männer bei dessen sachgemäßer Nutzung. Auch die wahrscheinlichere Ableitung des Namens vom diskriminierenden Begriff Fräulein passt nur so halb zu einem feministischen Projekt.

Daneben gäbe es noch eine simplere Lösung des Problems. Wenn Männer keine Vorteile mehr in puncto Bequemlichkeit und Wartezeit haben sollen, wäre es zunächst doch am einfachsten und billigsten, ihnen die Pisslogistik zu erschweren, und die Ungerechtigkeit auf diesem Weg zu nivellieren. So könnte man zum Beispiel auch die Männerbecken entfernen, deutlich höher hängen oder auf den Kopf stellen. Ob das am Ende überhaupt einer merkt, ist erfahrungsgemäß zu bezweifeln, aber einen Versuch wäre es wert.

Hinein zum ersten Mai

… und wartete zunehmend breiter auf die Dämmerung …

Den ersten Mai verbringen wir wie richtige Erwachsene. Während irgendwo längst die Frühaufsteher vom Gewerkschaftsbund labern, gibt es bei uns erst mal schön Frühstück. Salami aus der Wallachei, Käse aus Frankreich und Sechsminuteneier aus Biocompany. Anschließend ausgiebiges Studium der Rätselseite in der Wochenendzeitung, und später ein gemütlicher Spaziergang Richtung Neuköllner Kino. Irgendwo hinter uns im gähnend leeren Saal sitzt nur ein einzelner mutmaßlicher Wichser alleine in der allerletzten Reihe. Ist zwar absolut kein Wichsfilm, aber um drei Uhr nachmittags müssen die auch nehmen, was sie kriegen. Entspannt lehnen wir uns zurück. Bloß kein Stress.

Früher lief der Tag ja immer so ab: Zusammen mit anderen Arztsöhnchen und Architektinnentöchterlein aus Westdeutschland trank man aus Solidarität zur Arbeiterklasse Bier vom Späti, kiffte, und wartete zunehmend breiter auf die Dämmerung, in der die Lage endlich eskalierte. Dann ließ man sich von blutrünstigen Bullen durch Kreuzberger Seitenstraßen jagen, und wurde nicht selten grün und blau geknüppelt, wenn man Glück hatte. Hatte man Pech, wurde man rot geknüppelt und landete im Krankenhaus. In jedem Fall ein großes Vergnügen, das aber irgendwie schlecht alterte.

Nach dem Kino sind wir rechtschaffen hungrig. An einem Tag wie heute wollen wir uns eigentlich mal stilecht unters Volk mischen, nur leider ist vor dem Dönerladen in der Sonnenallee die Schlange viel zu lang. Zum Glück spielt Geld keine Rolle, wir sind ja schließlich erwachsen, und nur einen Block weiter ist noch genügend Platz vor einem netten Lokal: Asiatische Fusion mit einem starken chinesischen Einschlag, jedoch nicht so ein Achtzigerjahre-Dorfglutamatchinese, wo es nach dem Schweineschnitzel Süßsauer mit Pommes noch einen Ouzo aufs Haus gibt, sondern einer mit perfekten Dumplings. Dazu trinke ich ein schönes Glas Riesling. Irgendwo dahinten beginnt jetzt die „Revolutionäre 1. Mai Demonstration“, da bin ich früher auch mal mitgelatscht, das wurde mir dann aber schnell zu hektisch. Hier vor diesem Restaurant für Erwachsene ist es gerade richtig. Nur ein bisschen gucken. Dabei und doch nicht dabei. Erster Mai light. Beim Riesling an die alten Zeiten denken. Gott, war ich jung.

Mein persönliches Erster-Mai-Highlight war ja, als ich mal auf dem Oranienplatz im Dunkeln eher zufällig den völlig unbewachten, zentralen Stromverteiler fand, einfach nur einen Stecker aus der Kabeltrommel zog, und – bumm – gingen dem Kriegsberichterstatter Ulli Zelle, der gerade live für „Abendschau extra“ oder so vom Ort des Geschehens berichtete, aber auch wirklich sämtliche Lichter aus. Kichernd wie die kleinen Strolche machten wir uns vom Acker.

Da der Sender Freies Berlin damals nichts als der propagandistische Arm der – heute würde man das so nennen: stramm rechtspopulistischen – Westberliner CDU war, ging die Aktion locker als subversive Heldentat gegen den Faschismus durch. Bei unseren traditionellen Maiveteranentreffen gibt es seit dreißig Jahren stets ein großes Hallo, wenn ich mit der Abendschau-Story komme. Und zwar jedes Mal, weil zum einen unser Erinnerungsvermögen nicht mehr das beste ist, und zum anderen, weil ich den Ablauf immer neu ausschmücke: mal ist es ein werwolfartiger Ulli Zelle, der brüllend hinter mir her rennt, ehe er in eine von meinem Kumpel Dirk vorbereitete Falle mit Silberspießen plumpst, mal geraten wir in eine Verfolgung durch Polizeihubschrauber, bei deren atmosphärischer Schilderung Coppolas „Apocalypse Now“ eine nicht unwesentliche Rolle spielt. Mit gebanntem Vergnügen lauschen die Maikameraden, während sie ihre Pfeifchen mit einer Mischung aus Vanilletabak und Pervitin schmauchen. Am Ende zeige ich allen noch die Stelle am Oberarm, wo ich vor Jahren mal einen bösen blauen Fleck von einem Schlagstock hatte.

Ja so war das. Die Dumplings mit Schweinefleisch und Garnelen sind übrigens besonders gut. Doch leider kommt beim Essen auf einmal eine Gruppe schlecht frisierter Halbwüchsiger und bleibt direkt neben unserem Tisch stehen. Das stört halt. Der etwa 40jährige Rädelsführer hat eine unfassbar lärmende, kleiderschrankgroße Box auf dem Rücken. Von Bluetooth-Minibox noch nix gehört, der Vogel? Er stellt sie ab und tanzt mit einem so gewollt weirden Blick um den Krachaltar, dass ich lachen muss, während ich ihn dabei filme.

Ich habe ja mittlerweile den Eindruck, Erwachsensein bedeutet heute, dass einem alles komplett wumpe ist, was nicht einen selbst oder die einem Nahestehenden betrifft. Man zeigt kulinarische Reife, schreibt offene Briefe, trägt als aktiver Teilnehmer am Straßenverkehr keine Kopfhörer, frühstückt Sechsminuteneier, geht brav aufs Klo, anstatt sich mal eben zwischen zwei parkenden Autos zu erleichtern, und geht früh zu Bett.

So, genug gesehen und die Atmosphäre geschnuppert. Zahlen bitte! Wird mir auch langsam eh zu laut hier. Durch brodelnde, vollgepackte Straßen flanieren wir heimwärts. Das ist durchaus auch mal ganz schön, ist man ja gar nicht mehr gewohnt. Allerdings reicht es dann auch wieder für die nächsten sechs, sieben Jahre, würde ich sagen.

Vor unserer Haustür verplempern junge Leute schnatternd ihre Getränke. Keine Ahnung, warum die so aufgeregt sind. 364 Tage im Jahr den Stock im Arsch, doch heute muss unbedingt was gehen. Wir schubsen sie beiseite. Das Sofa ruft. Erst die Tagesschau, und danach netflixen. Sollen sich die Kiddies doch die ganze Nacht lang besoffen in den Scherben wälzen. Aber, Kinder, ab zehn bitte nur noch Zimmerlautstärke. Sonst müssen wir leider sofort die Polizei rufen, und die haut euch. Dann wisst ihr endlich auch mal, wie das ist.