Aggressive Larmoyanz

Es ist genau diese Servicementalität, die eine permanente Unwucht in unser Gesellschaftsgefüge hineinträgt.

„Komm doch her, doh!“

Vor meinem Haus ertönt Geschrei, und ich gehe auf den Balkon, um mir das Straßentheater reinzuziehen: Unten blockiert ein schräg stehendes Auto die gesamte Fahrbahn, so dass sich die entgegenkommenden Radfahrer mühsam vorbei schlängeln müssen. „Komm doch her!“, schreit der Fahrer des Autos einem von ihnen hinterher, dem das bereits gelungen ist, und den er vermutlich daher gern verhauen würde.

Bestimmt hat der Radmensch auch was Freches gesagt, weil ihm das Auto auf der falschen Straßenseite entgegenkam. Das alleine wäre schon verkehrswidrig, und dazu ist das hier eine offizielle Fahrradstraße, aber das schnallen die Leute im Leben nicht mehr – schließlich existiert die Regel erst seit 1997. So schnell kannst du als Autofahrer gar nicht reagieren.

Trotzdem ist dem Radler wohl eine unentspannte Flatulenz rausgerutscht, wie, „Könnten Sie mich eventuell bitte nicht töten?“ Das ist so unfair, denn Autofahrer haben es im Verkehr ohnehin schwer genug. Der Radfahrer hätte seine passiv aggressive Larmoyanz ruhig mal stecken lassen können. Das muss wirklich nicht sein; man kann auch einfach mal schweigen. Denn es ist nun mal viel schwieriger, vier Räder zu koordinieren als nur zwei. Ein irrer Stress. Deshalb sind Kraftfahrer oft wütend, verwirrt und traurig.

Und eben deshalb brüllt dieser jetzt in seinem gerechten Zorn: „Komm doch her! Komm doch her, doh!“ Fünfmal schreit er, aber der Radfahrer hält noch nicht mal an. Er hat es sichtlich eilig und ist spätestens bei der dritten Aufforderung sowieso schon zu weit weg, um sie zu hören, geschweige denn ihr nachzukommen. Zunehmend verzagter klingt der verhinderte Schläger, er sieht seine Felle offenbar davonschwimmen. Man hört, dass er nicht mehr so recht an die Erfüllung seines Wunsches glaubt, vielleicht auch nie ernsthaft dran geglaubt hat.

Allerdings unterläuft ihm hier ein entscheidender Denkfehler, wie ihn überhaupt erstaunlich viele Menschen begehen, die jemanden verkloppen wollen. Ihm liegt ein frappanter Bruch in der Logik zugrunde, der mir schon so oft aufgefallen ist: Wenn einer einen verprügeln will, warum schreit er dann fünfmal, „komm doch her, doh“, anstatt einmal hinzugehen? Das wäre doch viel leichter. Er könnte sich das für die Anwohner lästige Geschrei sparen, und zugleich sein Vorhaben unbürokratisch umsetzen: hin, zack, und auf die Schnauze, ganz easy.

Außerdem wäre das nur angemessen, weil er ja den Radfahrer verprügeln will, und nicht der ihn. Warum sollte der sich folglich die Mühe machen, sich dem Aggressor wie ein Lachshäppchen auf dem Silbertablett zu präsentieren? Zum einen gibt es für ihn keinerlei moralische Verpflichtung, sich als Prügelknabe zur Verfügung zu stellen, und zum anderen: Was hätte er denn davon? Vermutlich gar nichts, es wäre im Gegenteil sogar denkbar, dass die – nennen wir das Kind getrost beim Namen – Gewalttat bei ihm im Nachhall ungute Gefühle hinterließe. Da möchte man sich natürlich nicht auch noch um die erforderliche Logistik kümmern.

Aus Sicht eines Autofahrers etwas anderes zu erwarten, wäre nicht nur bequem, sondern geradezu anmaßend. Es ist genau diese Servicementalität, die eine permanente Unwucht in unser Gesellschaftsgefüge hineinträgt. Wer sich am Arsch lecken lassen will, zieht sich doch auch ohne lange Diskussionen eigenständig die Hose herunter. Das ist schlicht Standard.

Nein, unser schlagwütiger Freund sollte schon selbst für sein Ansinnen einstehen, und alles zu dessen Verwirklichung Notwendige im Eigenengagement in die Wege leiten. Das ist nur recht und billig.

Weder Fisch noch Fleisch

Außerdem habe ich Bock auf Hühnchen, obwohl ich auch kurz über Rind nachgedacht habe.

Meine Nichte ist in der Stadt. Wir verabreden uns zu dritt, damit ich auch mal ihren Freund kennenlerne. Den Link fürs vietnamesische Lokal habe ich per WhatsApp geschickt. Seht her, soll das heißen, ich kann das schon. Ich bin The Digital Uncle, ein rüstiger Best Ager auf der Höhe der Zeit, ein flexibles Bindeglied zwischen Vorzeit und Moderne.

Sie leben beide vegan und arbeiten für verschiedene Geflüchtetenprojekte. Für mich ist das super interessant, weil ich sonst naturgemäß nur alte Asis kenne. In die ungewohnte Situation muss ich mich allerdings erst reinfuchsen, natürlich mit Augenmaß. Also ordere ich ein Gericht mit Huhn, denn man kann es auch übertreiben; eine Bestellung mit Tofu oder Seitan wäre zu unrealistisch. Sie würden mich durchschauen, und für meinen verlogenen Opportunismus verachten, und zwar völlig zu recht. Das würde ich an ihrer Stelle ebenfalls tun. Außerdem habe ich Bock auf Hühnchen, obwohl ich auch kurz über Rind nachgedacht habe.

Aber selbstverständlich will ich bei ihnen einen guten Eindruck machen. Das fällt mir bestimmt nicht schwer. Ich tue ja immer sehr viel Gutes, ich kann das nur nicht so ausdrücken. Und so rede ich, wie mir der graue Schnabel gewachsen ist, über „Flüchtlingsströme“, doch gleich darauf erinnere ich mich vage, dass man das zurzeit wohl eher nicht so sagt. Und sogar die Gründe bekomme ich noch halbwegs zusammen. Die oft verniedlichende Nachsilbe „-ling“ mache die Betroffenen klein und zu Opfern: So ist der Schmetterling ein Tier, das sich nicht selber helfen kann. Und „Ströme“ gilt, ähnlich wie der Begriff „Krise“, glaube ich – bitte kreuzigt oder verbessert mich anderweitig, falls ich das falsch wiedergebe –, deshalb als inkorrekt, weil es die flüchtenden Menschen verdinglicht, und von den Ursachen ablenkt, indem es eine Unvermeidlichkeit wie bei einer Plage oder Naturkatastrophe vortäuscht. Was dann wiederum negative Reaktionen in den Zielländern legitimiert.

Einiges daran kann ich theoretisch nachvollziehen, auch wenn ich zuweilen denke, man könnte ja statt der aufwändigen Wortakrobatik auch Geld spenden oder anderweitig helfen. Aber gut, ich hab sowieso keine Ahnung, wahrscheinlich wäre das auch wieder nur so ein billiger Ablasshandel derer, die sich nicht um sprachliche Sensibilität bemühen möchten. Und die Sprache bestimmt nun mal das Denken, das Denken das Handeln, das Handeln das Sein, und das Sein einen Job an der Uni. Früher mussten die Kinder sprechen lernen, heute sind es die Alten.

Unbedacht frage ich jetzt den jungen Mann, ob seine weiße Puscheljacke aus Schafsfell sei, weil ich offenbar immer noch genauso wenig schnalle, was „vegan“ überhaupt bedeutet, wie so ein fränkischer Landgastwirt, der seine Kartoffelsuppe als vegan anpreist, weil da „kein Fleisch“ drin ist, sondern nur Speck und allenfalls ein paar Wurststücke. Nicht Bildung oder Herkunft scheint der Hauptfaktor für diese Form von Ignoranz zu sein, sondern das Alter.

Ich bin quasi der notorische Nazi-Onkel, wie er in Feuilleton-Artikeln über klassische Familienfestkonstellationen gern als Pappkamerad dient, an dem sich die Jugend in Ambiguitätstoleranz oder konstruktiver Streitkultur üben kann – die Feier soll ja auch nicht eskalieren, schließlich ist die Oma schon so krank.

Doch keiner schreit mich an, schlägt mich oder verbessert mich auch nur. An meiner gerührten Dankbarkeit merke ich, wie groß meine Paranoia längst sein muss. Im Internet wird man ja für ungeschicktes Wording immer voll zur Sau gemacht. Aber zum Glück ist das hier nicht das Internet, sondern Real Life, auch wenn das sicher bald dasselbe sein wird.