Ein kleiner Hausmeister

Ein Nachkomme Turnvater Jahns in der Hasenheide.

Ich hopple friedlich schnaufend durch den Volkspark, als sich Unheil nähert. Ich spüre es schon von weitem, ehe ich irgendetwas höre oder sehe. Es ist wie ein Schatten, der unversehens mein Gemüt umwölkt, ein innerer Eichelhäher, der im Dickicht meiner Gedanken warnend schreit – selbst der moderne Mensch scheint sich da den Rest eines Urinstinkts erhalten zu haben.

Und schon ist er fast neben mir, Typus Altlinker, lange graue Haare und anachronistische Jeansjacke auf einem Lastenfahrrad, und zischt mich von schräg hinten an: „Kss, kss! Heimlich wird hier der Faschismus wieder eingeführt. Unaufhaltsam …“

Aha, Grüße aus Schwurbelhausen. Aber warum gerade ich? Was habe ich getan? Und soll ich missioniert werden oder sieht er in mir eher einen Gleichgesinnten, weil ich hier meinen Körper durch Bewegung an der frischen Luft stähle? Ein Nachkomme Turnvater Jahns in der Hasenheide, ein rot-grün-brauner Fitnesshybrid zwischen Nationalismus, Freiheitskampf und autark errungener Immunität. Denn eine häufige Legende der Impfgegner besagt ja, dass man Viren jeder Art am besten durch Sport, Wechselbäder oder Essen eines Apfels abwehrt. So wird man niemals krank, und wenn doch, dann ist es sogar umso besser, denn je schwerer man erkrankt, desto weniger erkrankt man dann in Zukunft. Das gilt vor allem für die Toten.

„Danke“, schnaufe ich mühsam im Laufen, „aber das interessiert mich nicht. Geh weg!“

Ich will mit ihm nicht über Diktaturen diskutieren. Sollte er diesbezüglich Fragen haben, kann er gerne nach Russland gucken. Aber bestimmt vergebliche Liebesmüh: Was ich bei mir persönlich bekannten „Querdenkern“ zunächst für eine wie auch immer verirrte, aber dennoch selbst zusammengestellte und in Resten sogar originär linke, weil obrigkeitskritische bis anarchische Position zur Pandemie hielt, fehlt am Ende nämlich jede Individualität. Denn nun wird zusammenhanglos das im Wahnpaket Classic standardmäßig ebenfalls enthaltene Element „Team Putin“ übernommen. Also kein bis zur gesellschaftlichen Selbstzerstörung ausgereizter Liberalitätsbegriff, sondern nur nachblökende Wachschafe. Enttäuschend.

Unbeirrt fährt er neben mir her. „Du bist doch dieser Schreiberling von Neukölln.“

Oh, nein. Das ist wirklich die denkbar dümmste Kombi: erfolglos zu sein, und trotzdem erkannt zu werden. Denn entweder bist du so prominent, dass du auf der Straße von Leuten erschossen wirst, nur weil die scharf auf einen eigenen Wikipedia-Eintrag sind, doch dafür stimmt immerhin das Schmerzensgeld. Oder es stimmt nicht, aber man fliegt wenigstens unbehelligt unter dem Radar der Feinde durch. Doch das hier ist echt lose-lose. Dazu noch der miese Ausdruck „Schreiberling“. Zwar gibt es nach wie vor auch anständige Menschen, die tatsächlich nicht wissen, dass das ein herabsetzender Begriff ist, den besonders gern die Nazis verwendet haben. Der hier aber meint das hörbar genau so.

„Das haben die damals auch gesagt: ‚interessiert mich nicht‘“, knarzt er mich weiter von der Seite an. „‚ich bin ja nur ein kleiner Hausmeister‘, haben sie gesagt, ‚ich hab ja nichts damit zu tun …‘“

„Verpiss dich!“ Das Niveau meiner Gegenrede schlägt leider ziemlich schnell am Boden auf. Aber ich werde halt sauer, weil ich laufe hier ja privat durch den Wald und steh nicht als Teil einer Gegendemo diskutierend am Rand eines dieser „Spaziergänge“. Ich käme ja auch im Leben nicht auf die Idee, irgendwelchen wildfremden Leuten in ihrer Freizeit hinterher zu dackeln und sie überfallartig anzuraunen: „Kss, kss, die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Krankheit des Anderen beginnt“, oder, „kss, kss, dreifach Geimpfte sind besser gegen schwere Krankheitsverläufe geschützt.“ Das mache ich ja auch nicht. Wer nach zwei Jahren noch immer Kram denken möchte, denkt eben Kram. Was soll ich da groß hinterherzischeln? Mit „Heil Hildmann“, entweicht mir am Ende dennoch ein übler Verbalfurz.

„Hildmann?“ Er stutzt. „Nee, Merkel.“ Und verbessert sich: „Ach nee, die ist ja auch nicht mehr …“ Wir haben es beide nicht leicht in dieser schnelllebigen Zeit.

Die Besucher

Der Krieg hat sogar mich überrascht.

Viele holen ja ihre geflüchteten Ukrainer selbst am Berliner Hauptbahnhof ab. Mich erinnert das zu sehr an den Schüleraustausch in Frankreich, als man bei der Ankunft schon durchs Fenster des Reisebusses die wartenden Gastfamilien sah. Dann dachte man sich, „die sehen ja nett aus“, oder „oh Gott, bitte nicht zu denen“, bevor man random an irgendwelche Dumonts oder Duvaliers verteilt wurde. Auch im Tierheim kennt man das Prozedere auf beiden Seiten der Gitterstäbe.

Deshalb biete ich meine Unterkunft online an. Das halte ich für bequemer und auch menschenwürdiger. Bequemer vor allem für mich, mit der Menschenwürde als wohlfeiles Gimmick. Das ist Hilfe light; so sieht es eben aus, wenn die Kacke derart am Dampfen ist, dass auch wir Trägen und Verzagten, wir Angsthasen und Arschlöcher mitanpacken müssen.

Ich registriere mich auf der Vermittlungsplattform host4ukraine, und sofort meldet sich auf Englisch ein junger Mann, der Mutter, Großmutter und kleinen Bruder untergebracht wissen will. Die Anbahnung verläuft erratisch. Wiederholt wird die Ankunft verschoben, und als er mir einen Einzugstermin am kommenden Nachmittag bestätigen soll, reißt die Kommunikation endgültig ab. Ein Missverständnis?

Ich will schon die nächste Kandidatin auf der Liste anschreiben, da stehen auf einmal sechs Leute vor meiner Tür. Sechs statt drei, ach du Scheiße! Als ich gegen große innere Widerstände doch noch öffne, löst sich zum Glück das Rätsel: Mitgekommen sind der große Bruder, der mich angeschrieben hatte, sowie zwei ältere, in Berlin wohnende Verwandte. Sie stellen hier auf deutsch die Fragen, sie übersetzen, mäkeln nebenher ein bisschen herum, es ist ihnen zu schmutzig. Ich hatte aber nicht viel Zeit; kaum zu glauben, doch der Krieg hat sogar mich überrascht.

Bei mir einziehen sollen dann wie angekündigt nur eine Babuschka, die Mutter sowie der kleine Bruder. Sie sprechen weder Deutsch noch Englisch, wirken nett und schüchtern. Oder eher verschüchtert, was weniger toll ist, weil genau das der Krieg aus selbstbewussten Menschen gemacht hat: erschöpfte, gedemütigte Bittsteller bei irgendeinem bescheuerten Fremden in irgendeinem bescheuerten fremden Land.

Die Verwandten sind mir weniger sympathisch. Dennoch verstehe ich sie. Argwohn ist gut, Misstrauen ist besser. Irgendwer muss hier schließlich im Namen der Hilfesuchenden tough verhandeln und den Wohnungsgeber abchecken. Sie werden ja nicht hier wohnen und wollen auch nicht meine Freunde werden, was ihnen auf jeden Fall perfekt gelingt.

Da geht es zum Beispiel um den Nachbarn, den ich als Hilfe für Notfälle aller Art anpreise. „Das ist aber ein Deutscher?“, fragt die Verwandte, „und ein Mann?“ Ja, ist er. Na und? Oder auch nicht „na und“. Denn langsam dämmert mir, wie rundum unsicher eine Situation wie diese für die geflüchteten Frauen ist. Nicht umsonst patrouillieren am Hauptbahnhof Zivilbeamte, um die dort lauernden Fledderer im Zaum zu halten. Und wo ich von mir stets das Bild eines blütenweißen, freundlich-flauschigen Riesenkaninchens im Kopf habe, sehen sie eben nur einen etwas schmierigen, mittelalten Fremden, der leicht angespannt inmitten seiner schmutzigen Wohnung steht. Dazu kommt noch meine zweifelhafte Legende. Denn ich habe zwar behauptet, ich würde nun mit in der Wohnung meiner Frau wohnen, und könne deshalb meine eigene zur Verfügung stellen, aber ich kann natürlich viel erzählen, wenn der Krieg lang ist. Selbst wenn das stimmen sollte, wird es davon nur noch seltsamer. Nicht mal Selenskyj hat zwei Wohnungen. Und warum wohnt ein Mann nicht bei seiner Frau? Was ist denn das wieder für ein westliches Spinnerkonzept?

Daher entscheide ich mich, auf der Übersetzungs-App beim Sie zu bleiben. Auf der Flucht ist ja nicht beim Friseur. Immer schön vorsichtig. Dazu erleichtern zwei getrennte Wohnungen die schwierige Balance zwischen Hilfe und Privatsphäre. Vor allem mir, denn mit anderen Menschen habe ich es prinzipiell nicht so.

Aber genau deshalb bin ich auch ein wenig überfordert. Ich habe ihnen keinen Tee angeboten. Nicht nach den Namen von Großmutter und Enkel gefragt, und beide kaum beachtet. Die Leute nicht gefragt, aus welcher Stadt sie kommen, wie die „Reise“ war, ob sie müde sind, was mit dem Ehemann und Vater ist. Mir selbst beim Ich-Sein zuzusehen, ist einmal mehr ernüchternd. Andererseits gibt es auch einfach zu viele praktische Dinge zu besprechen, und in der kleinen Wohnung ist ohnehin kein Platz, wo sieben Leute in Ruhe Tee trinken können.

Und letztlich denke ich mir, dass zwar viele Gastgeber angenehmer sein mögen als ich, dafür andere aber auch noch schlimmer: Die Pässe oder Impfnachweise kontrollieren, scannen und kopieren, bevor sie auf die Mülltrennung hinweisen. Und dann sollen die Gäste ihnen noch haarklein schildern, wie ihr ganzes Leben von heute auf morgen zu einem kleinen Haufen Scheiße zusammengefallen ist. Zu viel Anteilnahme kann auch nerven.

Das wird mir jedenfalls nicht unterlaufen. Und was bringt es mir, zu wissen, ob und wie und warum sie nicht geimpft sind, denn was dann? Soll ich sie dann nicht aufnehmen? Ich bin geimpft – das muss fürs erste reichen.

Erstaunlich überhaupt, wie schnell die eine Notlage hinter der anderen verschwindet. Kein gutes Zeichen auch für den Klimawandel, der ja blöderweise jetzt nicht irgendwie pausiert. Für mich ist nun jedenfalls erst mal Krieg, noch dazu da meine eigene Erkrankung in etwa das Kaliber der Impfreaktion nach meinem ersten Schuss Astra Zeneca hat. Ich weiß, dass das einfach nur Glück ist, aber schon zuvor tagte in meinem Kopf teilweise eine Talkshowrunde, in der zwei strenge Spitzenvirologen, ein Kulturveranstalter und ein rechtsradikaler Schokoladenkeksfabrikant einander mit Argumenten beschmissen wie Kinder an der Ostsee mit Quallen. Die Talkshow ist vorbei. Stattdessen läuft nun ein „Brennpunkt“ nach dem anderen, dazwischen Trauermusik.

A Perfect Day

Spandauer Zitadelle

In der U7 fällt mir bereits am Mehringdamm die für die Tageszeit ungewöhnlich hohe Seniorendichte auf. „Die sind bestimmt nur falsch umgestiegen“, ist mein erster Gedanke. Schließlich fährt hier auch die U6 nach Alt-Mariendorf, das seinen Namen völlig zu Recht trägt als Ort mit noch mehr Altenbunkern als der Atlantikwall. Doch es sind keine gewöhnlichen Senioren im klassischen Senioren-Beige. Denn die weißen Haare der Männer sind, soweit möglich, voll und zerzaust, die der Frauen lang und offen. Dazu Lederjacken, lange Kleider, hier und da ein flotter, bunter Schlips. Pensionierte Kunstlehrer riechen nach Edelgras und gutem Rotwein. Sie fahren zum Lou-Reed-Konzert.

Genau da wollen wir auch hin. Als wir an der Station „Zitadelle“ die Bahn verlassen, regnet es in Strömen. An einem ambulanten Bierstand auf dem Weg zum Veranstaltungsort kaufen wir primitive Regenponchos, eigentlich nur so eine Art Mülltüten mit Löchern drin, für den Kopf und für die Arme. Die Gnade der späten Geburt spült uns trotz der Unterbrechung als erste an den Einlass – es ist schon von Vorteil, wenn man vergleichsweise rüstig ist.

Auf dem Konzertgelände sehen wir uns um. Lange habe ich mich unter derart vielen Leuten nicht mehr so als Nesthäkchen gefühlt. Seit dem Eric-Burden-Konzert vor fast zwanzig Jahren eigentlich nur noch auf Friedhofsspaziergängen.

Vorne ertönt schon Live-Musik. Doch die Vorband kennt keiner, irgend so ein 25jähriges Gör. Bei dem weiß man doch gar nicht so recht, wie man das einordnen soll – es ist zwar schön, wenn die Kinder auch mal was mit Musik probieren, aber dann vielleicht doch lieber erst zuhause unterm Weihnachtsbaum und nicht gleich hier in aller Öffentlichkeit. Die Eltern wieder! Unverantwortlich! Auch deshalb bleiben die Zuschauer solange lieber noch unter den schützenden Bäumen und Bierschirmen stehen. Schließlich könnte jede Erkältung den raschen Tod bedeuten.

Die Sängerin verabschiedet sich nach dem Musizieren fast unbemerkt. In der kaum einstündigen Umbaupause vor Lou Reed wird es höchste Zeit, einen möglichst guten Platz nahe der Bühne zu ergattern. Das könnte knapp werden, speziell unter diesen Bedingungen: Schmatzend versuchen sich blockierende Rollatoren durch den feuchten Kies zu fressen, wie Wehrmachtspanzer, die am Wetter und der Weite Russlands scheitern. Grobe Flüche sind zu hören – „Unhold!“, „Spitzbube!“, „Lümmel!“, „Gauner!“, – natürlich stets in Verbindung mit dem informellen Du, denn es sind im Wesentlichen das alte Kreuz- und Schöneberg, die hier versammelt sind.

Mit jugendlicher Eleganz winden wir uns durch die Masse, weichen geschickt dem einen oder anderen empört gefuchtelten Krückstock aus, und stehen schließlich relativ nah vor der Bühne. Hierher haben es auch ein paar Junge geschafft – das merkt man allein daran, dass bereits vor Erscheinen des Künstlers lautstark seine größten Hits gefordert werden: „Satisfaction“ sowie das allzeit unverwüstliche „Katzeklo“.

Als Lou Reed unter mürbem Beifall auf die Bühne tritt, trägt er ein breites Lächeln auf dem Gesicht. Ungewöhnlich für den sonst so mürrisch wirkenden Musiker und Schrecken der Journalisten, aber bestimmt ist er auch noch nie vor dreitausend Mülltüten aufgetreten. Das einzige andere Mal, dass ich den schlecht gelauntesten Star der Welt (Süddeutsche Zeitung) je freundlich gesehen hatte, war bei seinem Auftritt auf dem Roskilde-Festival im Jahr 2000. Nachdem dort am späten Freitagabend beim Pearl-Jam-Konzert auf dem völlig verschlammten Gelände vor der großen Hauptbühne neun Menschen bei einer Massenpanik gestorben waren, riss erst am Sonntag der Himmel auf. Mit sanfter Stimme sprach Reed in die ersten Sonnenstrahlen hinein zu den traumatisierten Besuchern. Und begann dann mit „Perfect Day“.

Doch ich schweife ab. Das Konzert des mittlerweile 70jährigen lässt alle den Regen vergessen. Die meisten hier vergessen ja ohnehin eine Menge. Mitten hinein in die leiseste Stelle des gefühligen „Sad Song“ hinein, ruft von hinten einer ganz laut: „Prima!“. Sonst nichts. Ach Berlin, ick liebe dir!

Auf der Rückfahrt wirken alle entspannt und glücklich. Lou. Lou Reed. Sie haben ihn noch einmal sehen dürfen. Aus welcher Perspektive dieses „noch einmal“ gemeint ist, wird sich später zeigen, wenngleich gewiss nicht sehr viel später. Zuhause im Bad entnehme ich meinem Mund die drückenden Zähne. Aus dem Spiegel grinst mir ein Greisengesicht entgegen.