Die Schneebeeren sind reif. Dick und weiß hängen sie an ihrem Knallerbsenstrauch. Für uns Kinder war die Schneebeerensaison damals mit Abstand die schönste Jahreszeit. Wir pflückten die Beeren, schmissen sie auf den Boden und es knallte. Das war unser größtes Vergnügen – es gab ja sonst nichts. Nun gehe ich achtlos an dem Strauch vorüber. Denn die Schneebeeren sind zwar äußerlich, größer, schöner und leuchtend weißer als früher, doch sie knallen nicht mehr.
Wie hatte mich vor Silvester noch darauf gefreut, damit zu knallen, und dem offiziellen Böllerverbot so ein Schnippchen zu schlagen. Die Plandemie-Diktatur kann mich mal. Ich lasse mir das Feiern nicht verbieten. Dazu ein paar fette Seifenblasen in die Luft pusten und eine Orgie mit Mineralwasser, und zwar nicht so ne laue Medium-Plörre für Spießer und Angsthasen, sondern das „Classic“, das so wild und verwegen sprudelt, dass es manchmal sogar aus der Nase wieder rauskommt, wenn man es direkt aus der Flasche trinkt, was ich zu diesem Anlass ja auch tue – man lebt schließlich nur einmal. So hatte ich mir das vorgestellt.
Doch dann die Enttäuschung: So fest ich die Beeren auch auf den Asphaltboden schmettere, machen sie praktisch kein Geräusch mehr. Ich kann es nicht glauben, und probiere es wohl an die tausend Mal vergeblich bis zur Sehnenscheidenentzündung. Doch allenfalls ein leises „plopp“ ist zu hören.
In meiner Kindheit haben die ja noch richtig laut gekracht. So weiß es zumindest meine Erinnerung, in der sich eine Schneebeere im Sound nur marginal von einer Handgranate unterscheidet. Es kann schon sein, dass uns als Kindern alles viel intensiver vorkam, bunter, lauter, größer und auch länger andauernd. Gerüche, Geschmäcker und Geräusche – jeder Sinneseindruck wurde so zu einem einzigen Fest.
Doch nun müssen die irgendwas an der Züchtung verändert haben, so dass die nicht mehr knallen. Scheiß-Staat. Bestimmt haben irgendwelche Helikoptereltern dafür gesorgt, dass da nun im Grunde bessere Attrappen an den Büschen hängen. So ein Schneebeeren-Knall darf den Kinderchen heutzutage offenbar nicht zugemutet werden. Weil die sich sonst erschrecken und noch mehr Allergien entwickeln oder posttraumatische Belastungsstörungen. Auch Glutenunverträglichkeit. Die böse Wirklichkeit da draußen muss vor ihnen um jeden Preis ferngehalten werden. Sonst verklagen die Eltern das Gartenbauamt und das wird dann aber mal so richtig teuer. Und die konfliktscheue Regierung knickt natürlich ein.
Ganz davon abgesehen könnten ja auch Schwerhörige diskriminiert werden, weil es für die nicht richtig knallt, so dass ihnen der Spaß entgeht, und deshalb soll keiner Spaß haben, damit es fair für alle zugeht. Immer diese Gleichmacherei. Es ist ein moralisierendes Trommelfeuer, das uns noch alle hinwegfegen wird. Das weiß doch jeder, der NZZ, Compact oder auch nur ein Interview mit Dieter Hallervorden liest.
Aber vielleicht sollte man den Kindern einfach mehr zutrauen. Ehemals lebhafte und neugierige Kinder verpuppen sich in einem wattigen Kokon aus Sicherheit, Langeweile und Verboten zu apathischen Zellklumpen. In dieser windelweichen Vollkaskowelt mit ihren Snowberries für Snowflakes wird jedes Risiko ausgeschaltet, und damit auch jedes Abenteuer. Wir sind noch zu acht besoffen in einem alten Käfer ohne TÜV übers freie Feld geheizt, haben oben aus dem abgesägten Dach rausgeguckt, -gejohlt, -gekotzt, und uns dabei nicht selten überschlagen. Da ist natürlich auch der eine oder andere zu Tode gekommen, doch die auf diesem Wege spielerisch erworbenen Fertigkeiten wogen das allemal auf.
Denn wie sollen die heutigen Kinder bloß zurecht kommen, wenn mal wieder Krieg ist, und sie dann noch nicht mal den Knall einer Schneebeere ertragen? Aber vielleicht ist das ja auch gar nicht mal so schlecht. Es müsste nur auf der ganzen Welt so sein.