Der Letzte macht das Licht aus

Gebannt lauschten wir in einen leeren Resonanzraum hinein.

Im Nachhinein denke ich, der zweite pandemiebedingte Lockdown Ende 2020 war letztlich der ideelle Befreiungsschlag für unsere Lesebühne LSD – Liebe statt Drogen. Bereits während des ersten Lockdowns im März hatten wir notgedrungen auf einen Live Stream umgestellt. Zunächst sogar von zuhause aus, per Konferenzschaltung. Ab Sommer 2020 streamten wir zusammen im Freien, und auch schon wieder vor kleinem Publikum. Doch im Herbst wurde es kalt und dunkel. Die Zuschauer blieben aus, erst wegen der Unbilden der Jahreszeit, dann waren öffentliche Veranstaltungen ohnehin untersagt.

Wir streamten dennoch weiter, obwohl kaum noch Leute zusahen. An manchen Abenden verfolgten gerade mal sieben Zuschauer den Stream. Verständlich, denn das digitale Format eignet sich kaum für eine Lesebühne. Es ist ja nicht unseretwegen, wir sind auch nicht besonders gut gealtert: Ein Vorleserjahr entspricht bekanntlich drei Menschenjahren – da ist es im Grunde fast besser, man sieht uns nicht. Doch das Publikum muss den Bierdunst und den Geruch verlebter, abgestandener Künstlerleiber riechen, das Klirren umgestoßener Flaschen hören können. Lesebühne ist ein sinnliches Erlebnis. Merkwürdigerweise hatten jedoch Partnerbühnen wie die Reformbühne Heim & Welt oder die Brauseboys bei ihren Streams mehr Zuschauer, obwohl die sogar noch langweiliger sind als wir.

Doch wir schüttelten uns nur kurz, und beschlossen: jetzt erst recht. Wir wandelten den zart aufkeimenden Frust einfach in künstlerische Energie um, machten aus der Not eine Tugend und starteten das Megametading.

Ab sofort würden wir nur noch für uns selbst auftreten. Wer brauchte schon Publikum? Die wollten ja immer bloß unterhalten werden. Und scheiß auf das Geld. Übelriechende, bunte Papierfetzen, eine Ersatzbefriedigung für Loser. Die Leute ahnten ja nicht, wie reich wir in Wirklichkeit allein an sittlichen Werten, Glück und Lebensfreude waren. Jedenfalls würden wir keine neuen Texte mehr schreiben, sie würden auch niemandem mehr gefallen müssen. Inhalte sind für Idioten, Formen für Faschos. Wir machten uns von sämtlichen Erwartungen los. Wir waren frei.

Auch die irdischen Gesetze galten für uns nicht. Irgendwer von irgendeiner anderen Bühne hatte behauptet, es gäbe eine Art Bestätigung von „Klausi“, dem Kultursenator Klaus Lederer persönlich, des ungefähren Inhalts, was wir hier täten, sei „Arbeit“ und fiele daher nicht unter die allgemeinen Versammlungsrestriktionen. Allerdings fiel jener Freibrief im Verlauf meiner weiteren Nachforschungen immer reduzierter aus: Von einer Urkunde mit Siegel über eine E-Mail bis hin zu einem vagen Telefongespräch, das einer der Kollegen mit Lederer geführt haben wollte, vielleicht …

Anfang 2021 verließ uns auch noch unsere letzte treue Zuschauerin. Schon vorher hatten wir mit den verschiedensten Übertragungspannen experimentiert; nun nutzten wir die einschlägigen Erfahrungen und stellten Bild und Ton endgültig ab. Alles wurde immer puristischer. Gebannt lauschten wir in einen leeren Resonanzraum hinein. Nichts. Was für ein großartiger Urzustand. Weg von diesem neoliberalen Kosten-Nutzen-Denken, und hin zu einer Kunst in ihrer reinsten Form, die allein für sich spricht, und niemandem außer sich selbst verantwortlich ist. Wir überwanden ein narzisstisches, dem Materiellen und der eigenen Eitelkeit verhaftetes Kunstverständnis, und waren in Sphären des Schaffens und des Seins entrückt, die außer uns kein Mensch jemals schauen würde. Und schon gar nicht die Reformbühne Heim & Welt.

Jeden Dienstag trafen wir uns weiter. Bauten alles auf – Laptop, Mikro, Scheinwerfer – ohne das Equipment ans Stromnetz anzuschließen. Dann schwiegen wir, anderthalb Stunden lang. Es war fast ein bisschen gruselig. Wir waren Matrosen auf einem Geisterschiff, das ziel- und führerlos über die Meere segelte. Wir schworen uns, so lange weiterzumachen, bis einer nach dem anderen im Dienst für die Kunst gestorben wäre. Der Letzte machte dann das Licht aus. Ach nein, das war ja gar nicht an. Es war eine ironische Performance, eine famose Farce, ein religiöses Ritual, ein dadaistischer Kult. Wenn wir endlich tot wären, schauten vielleicht auch wieder Leute zu, und applaudierten, wenn man unsere ausgemergelten Körper wie Abfall in die Armengräber schmiss.

Erst jetzt wurden wir richtig gut. Es war die ultimative Entfaltung. Kunst ist ja eigentlich Leere. Und Kunst ist auch Kälte. An einem Februarabend verbrannten wir bei minus vierzehn Grad sämtliche alten Texte in einer Tonne, um uns warmzuhalten. Die Erfrierungen an den Füßen schmerzten entsetzlich. Aber das Alleinsein war wunderschön. Gott wohnte in unseren Seelen und winkte achtsam aus den Fenstern, die unsere Augen waren.

Dann wurde es Frühling. Auf den Seen brach das Eis, schreiend kehrten die Gänse zurück, und wir entfernten Lage um Lage des Zeitungspapiers, mit dem wir unsere Kleidung unterfüttert hatten. Und wenige Monate später kamen, im Schlepptau sinkender Inzidenzwerte und steigender Temperaturen, auf einmal fremde Menschen zu uns.

Zunächst wussten wir gar nicht, wer diese Leute waren. Was wollten sie hier? Mit einer unverfrorenen Selbstverständlichkeit setzten sie sich vor uns hin und blickten uns mit großen Äuglein an. Unruhe machte sich in uns breit. Die Eindringlinge wirkten so erwartungsfroh, wie jene, die vorigen Sommer und vor allem vor Corona immer zu unseren Shows gekommen waren – wie nannten wir die gleich noch mal: Publikum? Genau, Publikum!

Vor Angst begannen wir, wie aus einem uralten Reflex heraus, zu lesen. Vielleicht würde sie das ablenken, und wir könnten unbemerkt fliehen. Sie klatschten. Eine lachte. Warum, was um Gottes Willen war denn bitte so lustig? Die lauten Geräusche schmerzten in unseren längst an konstruktive Stille gewöhnten Ohren. Das Adrenalin flutete unsere Nerven wie Eiswasser die Titanic. Zum Glück wird es bald wieder Herbst, dann ist der Spuk hoffentlich vorbei.

Die Aussprache

Harmonie soll herrschen allüberall .

Jetzt will ich aber doch mal etwas zu der ganzen Sache sagen. Denn es tut mir ja leid für den Nachbarn. Genau genommen ist er nur der Nachbar meiner Frau; ich könnte auf ihn und seine Gefühle also lässig scheißen, doch ich möchte keinen Missklang. Harmonie soll herrschen allüberall. So bin ich.

„Good to see you“, hat er schon wieder gesagt, oder „Great to see you“, oder was die immer so sagen in ihrem Englisch. Und ich stutze dann jedes Mal und lasse eine peinliche Schrecksekunde verstreichen, ehe ich ihm nachplappere, oder sogar variiere: „Äh … nice to see you.“ Weil ich ja weiß, dass die das so machen. Die meinen das ja nicht böse. Die meinen gar nichts. Die labern das halt so dahin. Das weiß man ja.

Aber wegen der Verzögerung denkt er bestimmt, ich fände es nicht gut, ihn zu sehen. Tue ich ja auch nicht und ihm geht es garantiert genau so. Nur so deutlich will ich ihm das gar nicht zeigen, das macht man ja nicht. Ich schalte bloß nicht schnell genug. Werde ich auf der Treppe überraschend auf Englisch angesprochen, brauche ich immer kurz, um mich zu sammeln und umzuschalten. Für meine Generation kann ich zwar ganz okay Englisch, denn in der Schule hat man auch damals schon brauchbare Basics mitbekommen, aber mehr als B2-Niveau ist das trotzdem nicht. Ich musste niemals länger als sechs Wochen im Stück Englisch reden, habe es nie beruflich gebraucht und auch nie auf Englisch geliebt. Die Verkehrssprache war eigentlich immer deutsch. Jetzt steh ich da mit meiner Gartenzwergmentalität.

Höchste Zeit also, das Missverständnis ein für alle Mal mit einem gewaltigen Befreiungsschlag zu klären. Es tue mir leid, sage ich, und zimmere mir ein paar komplizierte Gerundstrukturen zurecht. Englisch ist mir immer eher zu wenig Grammatik. Mehr wäre mir lieber. Die Grammatik ist nicht das Problem, der ausufernde Wortschatz ist es, soll heißen, ich weiß eben oft die Wörter nicht. Außerdem verstehe ich schlecht und ich kann auch schlecht sprechen, aber der Rest ist im Grunde perfekt. Es tue mir also leid, dass ich immer so komische Pausen machte, fahre ich fort. Das sei nicht böse gemeint, „no offense, Mister Neighbour.“ Mein Englisch sei einfach nicht so gut, und ich müsse immer kurz nachdenken, ehe ich antwortete.

„Alles okay“, sagt der Typ. Er lacht nun so ein bisschen embarasst und würde wohl gerne weg, doch ich muss das unbedingt bereinigen, jetzt oder nie. Kein Schlammkorn soll fürderhin das Bächlein unserer Beziehung trüben.

Es sei ja weniger die Sprache an sich, gebe ich des Weiteren zu bedenken, sondern die Mentalität dahinter: „Good to see you“ – sorry, aber das sei völliger Quatsch, das sage man so in Deutschland nicht. Kein Schwein, zumindest keines über 35 und bei Sinnen, käme auf die Idee. Niemand fände es gut, geschweige denn „großartig“ – an dieser Stelle spreize ich affig den kleinen Finger ab –, einem Fremden zu begegnen, und würde es daher gar nicht erst behaupten. Was sollte das um Gottes Willen bringen? Eben darin läge mein Dilemma, denn eine solche Lüge sei gegen meine Natur und meine Vorstellung von Ehrlichkeit. Deutsche dächten halt „du mich auch“ oder „hau ab“ – ihm zu Ehren übersetze ich das kongenial in „fuck you“ –, und sagten daher lieber gar nichts. Da ich jedoch höflich sein wollte, passte ich mich gerne seinen Gepflogenheiten an, bräuchte gerade dafür aber jene Atempause. Und es täte mir wirklich leid, ich hoffte aber, er verstünde nun.

„It was really good to see you.“ Auf seinem Weg runter nimmt er nun hörbar mehrere Stufen auf einmal. Doch gelernt hat er, fürchte ich, nichts.