Schöneberg Diary

Einen hübschen Friedhof haben wir immerhin schon in der Straße.

Das Alter ist gekommen, ein Umzug in ruhigere Gefilde steht an. Und was würde sich da für urbane Best Ager wie uns besser eignen als ein Bezirk für hippe Alte, ein Kreuzberg light, ein Neukölln für Reiche; schwerer Rotwein statt pissiges Craft Beer oder olles Schultheiß – Schöneberg wir kommen.

Denn, wo wir wohnen, ist es nicht mehr auszuhalten. Krach, Stress, ein Ballermann für billigfliegende Sauftouristen aus der ganzen Welt – nonstop Rambazamba auf der singenden Nervensäge in Dur und Moll. Wir versuchen, den Rückzug nicht als Kapitulation zu sehen, als demütigende Flucht aufs Altenteil; auch befinden wir uns in guter Gesellschaft: Viele kommen jetzt zum Sterben hierher, auf diesen Elefantenfriedhof mit integriertem Sushi-Restaurant; Freunde leben schon dort, und es soll ja Leute geben, die wohnen sogar in Steglitz oder so. Dagegen schlägt hier ja noch direkt der Puls der Metropole, wenngleich nur schwach.

Dabei habe ich gar nichts gegen Steglitzer, im Gegenteil, einige meiner langweiligsten Freunde sind Steglitzer, und machen einfach ihr Steglitzding: Fuchs und Hase zu Bett bringen, vorlesen und gute Nacht sagen, den Bierpinsel anstarren, ab und zu am Birkbuschkanal Chrystal Meth rauchen. Echte Berliner kommen nun mal oft aus Marzahn oder Karlshorst, aus Reinickendorf oder eben Steglitz. Sie konnten sich das nicht aussuchen, sie können nichts dafür.

Ich wohne zwar auch schon 40 Jahre in der Stadt, aber gerade das enttarnt mich als in Unehren ergrauten Eventjugendlichen, der es sich eben schon aussuchen kann; damals wie heute. So achten wir bei der Auswahl des neuen Heims bereits darauf, dass das Haus auch einen Fahrstuhl hat. Damit ist die letzte Lebensphase eingeläutet, oder die vorletzte vor der Seniorenanstalt. Es wird ein langsames und vitales Dahinscheiden, wenn alles gut geht, noch weitere 20 oder 30 Jahre lang. Klug checken wir ab, dass es dort auch ein paar junge Familien gibt, die später für uns die Einkäufe erledigen können, wenn der Rollator in der Werkstatt steht. Und wenn es riecht, können sie die Feuerwehr rufen, die Polizei oder das Bestattungsinstitut.

Doch vor den Einzug haben die Götter den Auszug gesetzt. Weil wir nun endgültig zusammenziehen, ist es vor allem an mir, mein obstkistenartiges Altstudentenmobiliar zu entsorgen. Einiges verschenke ich, anderes fällt beim Zerlegen schon von selbst auseinander.

Beim Verklappen des Sperrmülls stelle ich mich mehrmals irgendwie dumm an, und werde dafür von den Müllleuten jedes Mal verhöhnt, zurechtgewiesen oder angeschrien. Und stets habe ich dabei das vage Gefühl, es auch verdient zu haben. Ein Hauch von französischer Revolution liegt in der Luft. Die Anschisse der Müllwerker sind eine Guillotine light, mit der sie den privilegierten Sesselpuper rasieren. Für mich sind das kathartische Momente. Von Müllmännern angepflaumt zu werden, ist wie ein Ablass für mein schlechtes Gewissen, weil sie in meinem stinkenden Dreck schuften, während ich mich, das verwöhnte Dichtermäulchen mit erlesenem Eiskonfekt beschmiert, in seidenen Kissen aale. Hätte ich nicht das Glück, wegen des Umzugs fast täglich angebrüllt zu werden, müsste ich mir eigentlich eine CD mit Müllmanngepöbel besorgen und abends vor dem Einschlafen anhören, um etwas für mein seelisches und politisches Gleichgewicht zu tun.

Nach dem endgültigen Umzug ist es in Schöneberg dann erst einmal komisch. Ihrem Umgangston nach zu schließen, sitzt die Hausverwaltung in Nordkorea. Bereits bei unserem ersten, und hoffentlich auch letzten Anruf dort, wird uns unmissverständlich klar gemacht, dass wir von ihnen nichts zu erwarten haben, keine Auskunft, keine Hilfe, noch nicht mal Restspuren von Höflichkeit, und gefälligst nie wieder anrufen sollen. Im Anschluss legen sie einfach nur grußlos auf, da sie uns durch die Telefonleitung hindurch nicht anspucken können.

Nachdem ich eine alte Mail zu Gesicht bekomme, in der dieselbe Verwaltung die eingesessenen Mieter unseres neuen Hauses de facto für den Stresstod einer Mitarbeiterin verantwortlich macht, weil sie den Papiermüll nicht ausreichend zerkleinert haben, komplettiert sich das Bild einer von pathologischer Déformation professionelle zur Unkenntlichkeit zernagten Seele. Willkommen in Schöneberg.

Auch die notorische Kontrolltante darf am neuen Ort nicht fehlen. Schon am ersten Tag brieft uns eine Hilde im Hof ausgiebig zum Thema Müllentsorgung. Ob sie Zuträgerin der meschuggen Verwaltung ist, oder hier auf eigene Faust ihrem Hobby nachgeht, müssen wir noch heraus bekommen. Bis dahin Vorsicht. Und davor und danach ebenfalls.

Bereits die ersten Begegnungen mit der neuen Blockwärtin haben uns mit Müllscham geimpft, und zu Bittstellern konditioniert, die eigentlich kein Recht auf Müll haben. Die Benutzung der Mülltonnen ist eine Gnade, die man sich über Jahre hinweg verdienen muss, und wir sind hier die Greenhorns, die sich erst mal ganz hinten anstellen müssen. Die Tonnen sollen sauber und leer bleiben. Und da so ein Einzug mit entsprechenden Baumaßnahmen zunächst sogar noch mehr Dreck als gewöhnlich verursacht, bringen wir den Abfall nur noch nachts raus. Nachts, wenn Hilde schläft.

Nachts, wenn Hilde schläft.

Doch wer weiß, ob sie für solche Fälle nicht eine versteckte Wildtierkamera bei den Tonnen installiert hat. Vielleicht sollten wir den Müll besser auf dem Balkon sammeln, und, sobald der überquillt, verbrennen.

Es müssen nicht immer schreiende Müllmänner sein. Das entschlossene Regiment einer alten Dame tut es auch. Es gibt Regeln für die Glastonne, Regeln für die Papierbehälter, Regeln für die Verpackungen, Regeln für den Restmüll. Regeln, die unbedingt befolgt werden müssen, sonst. Sonst werden wir wahrscheinlich in unser Elendsquartier rückgeführt. Und ich dachte immer, Prenzlauer Berg wäre die große schwäbische Exklave.

Apropos Prenzlauer Berg, die neue Umgebung ist überraschend weiß. Auf mich langjährigen Südostwestberliner wirkt so eine arisch gentrifizierte Zone seltsam, es ist fast wie in Ostberlin. Ansonsten passt die Bevölkerung eher in die Kategorie, die ich bislang unter dem Titel „typische Kreuzberg-61-Leute“ in meiner verstaubten Denkschublade abgeheftet habe. Nach so einer langen Zeit in Nordneukölln beziehungsweise am Schlesi eine etwas ungewohnte Klientel. Aber sie sind unser Spiegel. Das sind ab jetzt im Grunde wir; flotte Junggreise, getürmt vor Lärm, Schmutz und Partyvolk. Bestimmt wachsen uns hier bald bunte Seidenschals und Baskenmützen oder so.

Früher bin ich ständig umgezogen, da war das überhaupt kein Thema. Jetzt aber fühlen wir uns anfangs in einem Maße fremd und entwurzelt, das wir beide nicht für möglich gehalten hätten. Wir vermissen sogar die Crackraucher im Hauseingang, die Scherben auf dem Radweg, den pausenlosen infernalischen Krach Tag und Nacht, die stulle vor der Haustür herumtaumelnden Touristen mit ihren Sonnenbrillen bei jedem Wetter.

Auch positive Dinge fallen mir erst jetzt nach dem Zuzug auf, weil ich in den letzten Jahrzehnten nur sporadisch in der Gegend war. Zwischen Parks und Bahnstrecken entdecke ich quasi eine neue Stadt, mit einem intelligent geplanten Netz breiter Fahrradstraßen, zum Teil mit eigenen Brücken, durchs Grüne entlang der Bahntrasse. Hoffentlich bekommt die Berliner CDU davon nichts mit; wenn die merken, was hier los ist, machen die da gleich eine Autobahn hin. Es ist fast wie in Kopenhagen; alles ergibt so viel Sinn, dass mich die Irritation darüber an den Rand des Nervenzusammenbruchs bringt. Wo bleibt der vertraute Hass auf die Bürger, das ist nicht mehr mein Berlin.

Zur neuen Infrastruktur gehört auch der größte REWE, den ich je gesehen habe, ein gigantischer Supermarkt, die Mutter aller REWEs, quasi eine eigene Stadt mit eigener Tiefgarage, ach was, ein eigenes Land von der ungefähren Größe des Saarlands, ein Schlaraffenland mit Kassenbereich. Es dürfte Jahre dauern, bis wir uns in den hundert Gängen auskennen und wissen, wo was steht. Die Schöneberger wissen zu leben, der Lebensmitteleinkauf ist der Sex des Alters. Oder war es umgekehrt?

Dazu kommen in Gehweite die beiden größten Biosupermärkte, die ich je gesehen habe, eine LPG und eine Bio-Company, irreal wirkende, wie vom Uranus gefallene, lichtdurchflutete Raumstationen eines postmodernen Lifestyles. Ich fühle mich in eine Utopie versetzt, in der Veganer sämtliche anderen Lebensformen verdrängt, und das Kommando über den Planeten übernommen haben. Die Zukunft ist da, und wir sind jetzt ein Teil von ihr.

Fragt sich nur, wie lange noch? Einen hübschen Friedhof haben wir immerhin schon in der Straße, zum Bersten voll mit Promiüberresten. Zwischen diversen Normalos liegen Rio Reiser, Thomas Gottschalk und Dieter Hallervorden oder was weiß ich. Auch die Gebrüder Grimm haben hier ihre Glassärge geparkt.

Allerdings geht es in dem Friedhof steil bergauf. Es ist bestimmt anstrengend, dort am Hang zu liegen. Von wegen „ewige Ruhe“, ächz. Jetzt jogge ich zwar neuerdings im Gleisdreieckpark, aber nach dem Tod brauche ich eigentlich kein Fitnessprogramm mehr. „Tote schwitzen nicht“, weiß ein transsylvanisches Sprichwort. Friede meiner Asche, und lieber ein Seebegräbnis, vielleicht ja im Schlachtensee – da fährt von hier aus auch direkt die S-Bahn hin.

Das wird mich mit den Kollegen versöhnen, denn speziell im Lesebühnenumfeld schlägt jeglicher Form nicht zielgerichteter Bewegung Argwohn entgegen. Sport ist hier ähnlich verpönt wie Kinderpornografie. Jeder Atemzug, und jede Muskelzuckung, die nicht ausschließlich dazu dienen, sich selbst oder einen Gegenstand aus existenziellem Anlass – sprich Ortswechsel, Lebenserwerb oder Nahrungsaufnahme – von A nach B zu bewegen, gilt als mit dem Ruch eines faschistoiden Askesegedankens behaftet.

Am Ende leben wir uns aber doch bald ein. Uns leise über klassische Literatur und Musik unterhaltend, flanieren wir durch die ruhigen Straßen des Nervenkurorts Bad Schöneberg. Unsere bunten Halstücher flattern träge im milden Frühlingswind. Es ist so still hier. Nur leise hört man weiter hinten die S-Bahn surren, oder schallt der krächzende Ruf eines Drogensüchtigen von der fernen Yorckstraße hoch, trauter Klang einer alten, mehr und mehr in Vergessenheit geratenden Welt, die an die erinnert, aus der wir kommen.

Hoffentlich bekommt die Berliner CDU davon nichts mit.

Das Erdbeerhäuschen

Sie sind nur Erdbeerbauerndarsteller in einer miesen Show.

„Soll ich nachher mal in so’n Erdbeerhäuschen gehen, und Erdbeeren holen?“, frage ich, denn hinten an der Brücke habe ich eins gesehen. Um diese Jahreszeit sind die albernen erdbeerfarbenen und -förmigen Plastikhütten strategisch in der ganzen Stadt verteilt, und im Umland und an den Ausfallstraßen ebenso. Dort erst recht, weil das wirkt authentischer. Die Leute sollen denken, dass da so Erdbeerbauern mit dem Trecker die Erdbeeren frisch vom Feld zum Konsumenten in die Stadt bringen, und dort noch mit ihren von redlicher Wühlarbeit in der guten Ackerkrume schmutzigen Händen direkt an uns urbane Naschkätzchen verteilen. Alles bio.

Bei der Vorstellung schmeckt es gleich doppelt gut. Die müssen dann ja auch viel besser als im Laden sein, denkt sich der Kunde. Das sind noch richtige Erdbeeren, summt es in seinem Kopf. Nostalgische Gefühle mischen sich mit falschen Kindheitserinnerungen (hat damals nicht so ein kriegsversehrter Erdbeermann die Erdbeeren aus Ostpreußen mit einem dreirädrigen Lieferwagen geradewegs in unsere Hochhaussiedlung gefahren, und dort mit einer riesigen Glocke geläutet? Von überall liefen barfüßige Gören und Muttis in Kittelschürzen zusammen. Alles hat damals viel intensiver geschmeckt. Auch der Mond hat heller geschienen). Klammer zu. Dafür nimmt er auch gerne einen höheren Preis in Kauf. So ein Kunde bin ich.

Dabei sind die Früchte, die auf den ersten Eindruck super aussahen, beim letzten Mal ziemlich schnell oll geworden. Auf jeden Fall schneller als die aus dem Supermarkt. Trotzdem will ich schon wieder zu „Karls Erdbeerhäuschen.“ Irgendwann muss es doch endlich mal klappen mit der erwarteten Geschmacksexplosion plus Haltbarkeit.

Wenn ich „Erdbeerhäuschen“ sage, findet meine Frau das immer sehr niedlich. Ich soll überhaupt möglichst niedlich sein, obwohl ich längst nur noch ein klobiger alter Freak bin. Vielleicht sogar gerade deswegen; psychologisch wäre das nachvollziehbar. „Und dann gehst du auch noch in so ein Erdbeerhäuschen“, gurrt sie. „Und guckst dann da zusammen mit dem Verkäufer raus, obwohl das viel zu klein für zwei ist. Was für eine unfassbar niedliche Vorstellung!“

Es mag zugegebenermaßen niedlich klingen, aber so ist es nicht gemeint. Ich könnte genauso gut „Erdbeerhaus“ dazu sagen, oder „Erdbeerfestung“. Denn ich meine es im Gegenteil äußerst böse, ein Resultat enttäuschter Liebe. Der Erdbeermann soll sterben. Also jetzt nicht direkt sterben, aber nach der Erdbeersaison sollte es das schon für ihn mit seinem Job hier gewesen sein. Und ich will dann auch bitte nicht, dass er im Herbst Quitten verkauft, in so einem quietschgelben Quittenhäuschen („Gott, wie niedlich!“), oder im Winter Lebkuchen.

Da wäre dann nämlich Schluss mit niedlich. Ich hab langsam echt keinen Bock mehr auf Lebkuchen, Quitten oder Erdbeeren, die schon am nächsten Tag vergammelt sind. Kein Wunder, denn im Erdbeerhäuschen arbeiten in Wahrheit nämlich gar keine Erdbeerbauern. Wir sollen das nur denken, dabei haben sie ganz saubere Fingernägel.

Sie sind nicht mit dem Herzen bei der Sache, im Grunde hassen sie Erdbeeren. Sie wissen nicht, wie man die richtig beschneidet, die tückische Erdbeerlaus bekämpft, und die Blüte vor dem Frost schützt. Sie sind nur Erdbeerbauerndarsteller in einer miesen Show, zu der auch das kitschige Erdbeerhäuschen in diesem Märchenland für Gutgläubige gehört. Die meisten von ihnen sind Freigänger, weil man sie jetzt braucht, und Personal fehlt. Ebenso gut könnten sie Lose auf dem Rummelplatz verkaufen. Egal, ich nehme wieder eine große Schale, 750 g für 7 Euro 50, danke Karl.

Das sind noch richtige Erdbeeren, summt es in seinem Kopf.

Hansdampf in allen Gassen

Genau genommen war alles, was er machte, Schrott und Scheiße.

In unserer Reihe „taz goes artsy-fartsy“ möchten wir euch heute Gernot Bübchen aus Plauzburg an der Steinstraße vorstellen. Ob Malerei, Architektur, Musik, Theater, Film, Literatur, Performance, Stand-up-Comedy, Comic-Kunst, Darts, Freestyle-Kamasutra und vieles andere mehr: Der polyvalente Künstler beherrschte nach eigener Aussage als einziger perfekt die komplette Palette künstlerischer Ausdrucksmöglichkeiten.

Im Nachhinein können wir es ja sagen: Das ist so nicht ganz korrekt. Genau genommen war alles, was er machte, Schrott und Scheiße, meistens sogar wortwörtlich.

Doch Kritik ist ja oft ein zweischneidiges Schwert. Als ein Kunstkritiker den Fehler machte, Bübchens Zyklus „die zehn Gebote“ (6 x 10 Meter, Schrott und Scheiße auf Leinwand) als „fickende Strichmännchen“ zu verspotten, lernte die Welt Gernot Bübchen aber mal so richtig kennen.

Seine Angewohnheit, jedes Mal laut zu weinen, sobald jemand eines seiner Werke kritisierte, ließ die Experten rasch verstummen. Feuilletons wurden entweder komplett eingestellt, oder verlangten von neuen Mitarbeitern schon vor Aufnahme ihrer Tätigkeit eine Ausschlusserklärung, die die negative Besprechung von Gernot Bübchens Kunst verbot.

Denn „lautes Weinen“ ist der falsche Ausdruck. Vielmehr handelte es sich um ein markerschütterndes, in nicht für möglich gehaltenem Maße Nerven zerreißendes Plärren, eine abartige Hyperkakophonie, die im Umkreis von vielen tausend Kilometern Gläser zerspringen ließ, Autoreifen in schneller Fahrt zum Platzen brachte und Kurzschlüsse in die Herzschrittmacher zauberte. Den Kühen gerann die Milch im Euter zu verschimmelter Crème fraiche, Föten gingen ab, Vulkane kotzten Blut und Lava, und tektonische Platten verrutschten wie Spielkarten auf einem ICE-Vierertischchen im Verlauf einer Notbremsung.

Diese existenzielle Prüfung für den Planeten beeinflusste die Rezeption von Bübchens Schaffen nicht unwesentlich. Genauer gesagt, beförderte sie die Entstehung eines überaus treuen Publikums, das jedes mal laut jauchzte, wenn das verschmitzte Lächeln des Gelingens auf des Künstlers Antlitz stolz erstrahlte. Dann freuten sich alle mit diesem großen Kind, und ein wohlwollendes Gurren erfüllte die Theater, Konzertsäle, Galerien, Kinos, Sportarenen und Reichsaufmarschfelder, die im Zeichen des erstarkenden Faschismus überall wieder wie braune Brandenburger Bio-Champignons aus dem Boden schossen.

Schließlich wollte ja auch keiner sterben. So wurde seine Malerei völlig neu bewertet. Man habe entscheidende Element übersehen, hieß es, nun aber sei die Kunstszene reif für die neuen grandiosen Einflüsse. Das Lästermaul mit den Strichmännchen kam bei einem mysteriösen Autounfall ums Leben. Die Bremsleitungen, Karma, Kismet, ein Marder wohl.

In der Folge nahm Bübchens Karriere erst so richtig Schwung auf. Seine Fotografien des Nachthimmels über Plauzburg bei Neumond wurden im London, Barcelona und New York ausgestellt, alles Städte, die mutmaßlich keinen Bock hatten, in Schutt und Asche geheult zu werden.

Das „Karussell der Gartenzwerge“ in Fies Moll, eine Symphonie für Hackbrett, Dudelsack und Singende Säge tourte jahrelang vor ausverkauften Hallen. Wenn er Bock hatte oder betrunken war – und meist war beides der Fall – ließ es sich der Kunstschaffende nicht nehmen, selbst zu „singen“, ob in Bayreuth oder bei „Monster Ronson’s Ichiban Karaoke“ – überall gab die „lebende Mittelohrentzündung“ (Untergrundkritiker vor seiner Verhaftung) ihre grölende Visitenkarte ab. Opportunistisch huldigte die Öffentlichkeit seinem Gesangsstil als „betörendes Kreischen“.

Auch literarisch konnte ihm keiner ein X für ein U vormachen. Das machte er schon selbst, ein Pionier der Sprache, der die Buchstaben endlich aus der Bedeutungsenge ihrer ursprünglichen Lautzuschreibungen befreite. Daneben wird sein berühmtes Herbstgedicht („Herbst, Schnerbst; alles bunt, scheißt der Hund“) seit Jahrzehnten in jedem Deutschabitur analysiert.

Großen Einfluss hatte Bübchen auf die Weltarchitektur. Tesafilm, Sicherheitsnadel und Pattex waren die Stabilisierungselemente seiner Wahl. „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt“, lautete das Motto des Meisters, der auch privat als kettenrauchender Kondommuffel im Wingsuit stets voranflog. Die extreme Fallhöhe zwischen Schein und Sein bildete einen immanenten Bestandteil seines Kunstkonzepts. Sein Film über den spektakulären Einsturz der von ihm zusammen getackerten „Golden Tape Bridge“ wurde wiederum zum eigenständigen Kunstwerk.

Kein Wunder angesichts all dieser Leistungen, dass die Saftgemeinde Plauzburg ihrem größten Sohn ein Denkmal setzte. Dabei war er da noch gar nicht tot. Sicher steckte hinter der verfrühten Weihe auch der heimliche Wunsch, er wäre es, denn bei aller Bekanntheit die er seiner Heimatstadt verschaffte, lag zugleich stets ein dräuender Schatten über dem Wirken Bübchens.

Denn nie wusste man, was dem begnadeten Utility Artist wohl als nächstes einfiele: Würde er ohne Vorwarnung ein lebendes Schwein aus dem Hubschrauber auf den Marktplatz fallen lassen? Sich in einer Satire-Aktion zum Bundeskanzler wählen, und anschließend in einem teuflischen Krippenspiel alle Erstgeborenen töten lassen? Würde er einen seiner berüchtigten farbigen Riesenpupse in den Äther furzen? Auch dass das Genie bei allem, was es tat, stets konsequent nackt auftrat, schmerzte Vielen in der Seele. Ja, der Name Plauzburg lag in aller Munde, allerdings meist als Synonym für das Unaussprechliche, das Grauenhafte mit der Postleitzahl, die da lautet: 666.

Wenig überraschend fiel die Wahl des Skulpteurs auf Gernot Bübchen selbst. Das hätte er sich sowieso nicht nehmen lassen; andernfalls hätte er auf jeden Fall geweint. Denn neben Stickerei, Rhythmischer Sportgymnastik und dem Zusammensetzen von Ü-Ei-Figuren auf seinem Youtube-Kanal hatte er natürlich auch die Bildhauerei mit der Muttermilch eingesogen. Dazu sei angemerkt, dass jene Generation von Müttern in puncto Enthaltsamkeit während Schwangerschaft und Stillzeit noch nicht so dogmatisch indoktriniert war, wie man es heute kennt. Nikotinentzug? Zu stressig für Körper und Seele einer werdenden Mutter. Auch rieten die Ärzte zu regelmäßigem Alkoholkonsum gegen Langweile, Niedergeschlagenheit und Angstzustände. „Löten Sie sich ruhig jeden Abend ordentlich zu, Frau Bübchen“, hatte Frauenarzt Dr. Haarmann geraten. „Dann wird es garantiert ein Junge.“

Und er hatte Recht. Dieser Junge formte aus eingeweichten Brötchen, Lehm und Kot eine Reiterstatue von gigantischer Größe. Sie überragt die Saftgemeinde und den nahen Höhenzug des Schwalm sogar noch, nachdem sie eingestürzt ist, und unter anderem ihren Schöpfer unter sich begraben hat. Dort ruht er nun in und unter sich selbst, und wir dürfen es endlich wagen, sein Zeug als das zu kritisieren, was es ist: ein elender Pfusch, ein schamloser Schund, der sämtliche Sinne demütigt, schändet und beleidigt; das Salz auf dem einst fruchtbaren Boden der Kultur. Zum Glück ist die Ratte tot.

Kein Deutsch

Nazis sind Leute wie du und ich. Also natürlich mehr noch wie du.

Wir kommen an einem dieser poshen Frühstücksläden in Friedrichshain vorbei, und ich sage: „Die können hier auch kein Deutsch.“

Sofort fange ich mir einen Anpfiff ein. Ob ich überhaupt wisse, wie ich gerade klinge?

„Na ja“, sage ich, „was soll ich denn machen: Ich war da schon zweimal drin, und immer, wenn ich was bestellen will, heißt es, ‚sorry, I don’t speak German.‘ Also, wenn ich hier in der Gastronomie arbeite, dann sollte ich eigentlich schon …“ Ich verstumme, um mich nicht noch mehr als Nazi light zu outen. Aber vielleicht mache ich dadurch alles nur noch schlimmer. Auf „sollte ich eigentlich schon …“ könnte nun nämlich genau so gut folgen: … einen Ariernachweis haben; …wissen, wie man aus ein paar Beilagengürkchen auf dem Teller ein Hakenkreuz formt; …die Gäste mit Marschmusik empfangen.

Sie seufzt. „Das ist eben Friedrichshain.“

„Was soll das denn heißen: Das die hier russisch sprechen müssten?“

„Nein, und ich verstehe ja, was du meinst. Aber gerade in diesen Zeiten bekommt das wieder einen total merkwürdigen Klang. Hör dir doch mal zu – sie fakt die heisere Stimme eines üblen Unholds : „Die können hier auch kein Deutsch.“

So habe ich nicht gesprochen. Außerdem sehe ich das anders. Rechte können doch zufällig auch mal etwas schlecht finden, was Nichtrechte ebenfalls nicht mögen. Pest zum Beispiel. Oder beide können das gleiche gut finden, wie „New York Cheesecake“. Obwohl er bei denen wahrscheinlich Neu-Jorker Käsekacke heißt oder so.

Und Nazis können auch mal recht haben, zum Beispiel, bei der Frage wie das Wetter wird. Soll man ihnen das nicht glauben, nur weil sie Nazis sind? Denn die Vorstellung, „die Nazis“ wären in jedem Detail so was wie komplette Negative eines humanistischen Menschenbilds, wirkt ähnlich ignorant, wie wenn Ulf Poschardt „die Radfahrer“ beschreibt: als wie vom Himmel gefallene Antiwesen, lächerlich verzerrte Gespinste des eigenen Vorurteils, die man weder verstehen kann noch will. Alle Nazis mögen Graupelschauer, essen lieber Fleisch als Gemüse, hassen Kätzchen und lieben Wespen?

So einfach ist es aber nicht. Nazis sind Leute wie du und ich. Also natürlich mehr noch wie du. Wie wir aus „Zone of Interest“ wissen, fahren sie total auf Blumen ab. Nazis lieben Kinder, wenn auch nur die eigenen – die anderen müssen sterben, aber manche bedauern das sogar. Sie schreiben für „Welt“, „NZZ“ oder „NIUS“, spielen Fußball, arbeiten bei Edeka und bei der Polizei. Nazis lachen gern und viel.

Ein Kollege hat mal gesagt, man dürfe keine Witze machen, über die Nazis lachen könnten. Aber das basiert auf der weltfremden Annahme, Nazis würden nur über geschredderte Küken oder verhungernde Eisbären lachen. Und nicht „wie wir“ auch über die Szene in der „Nackten Kanone“, in der O. J. Simpson als Detective Nordberg vom Schiff fällt.

Es kann schon sein, dass sie weniger wegen des Slapsticks lachen, sondern weil sich eine schwarze Filmfigur schlimm weh tut. Aber immerhin lachen sie über dieselbe Szene. Und über abgemagerte Eisbären lachen sie obendrein, allein den vielen lustigen Lachsmileys unter jedem Klimabeitrag im Netz nach zu schließen. Nazis sind also rein quantitativ und auf ihre ganz spezielle Art noch fröhlicher und humorvoller als andere.

So viel erst mal dazu. Ob wir in das Café reingehen könnten, bettele ich nun. Ich hätte Lust auf ein Stück Käsekacke. Dafür würde ich selbst meinen überbordenden Rechtsextremismus kurz hintanstellen. Nicht lästern, schön Englisch sprechen. Aber ich bekomme keinen Kuchen, leider, aus der Nazi-Schublade komme ich jetzt schlecht wieder raus.

So nicht, Freunde

Junge Menschen machen mir oft einfach nur noch Angst.

Als ich im Treppenhaus auf die Öffnung des Mehringhoftheaters warte, strömen Massen hemmungslos schnatternder Kids weit unter 50 an mir vorbei, die im Stockwerk drüber in die Abendschule gehen. Ich drücke mich fest an die Wand, denn junge Menschen machen mir oft einfach nur noch Angst. Schon wenn ich sie nur von weitem sehe, denke ich: Oh nein! Bitte nicht! Denn junge Leute bewegen sich immer so schnell und reden so laut. Ich empfinde es als rücksichtslos, wenn sie wieder viel zu dicht an mir vorübertrampeln, gerade so als wäre ich gar nicht da. So was kann ich inzwischen nur noch ganz schlecht ertragen. Mit den Jahren bin ich schreckhafter und lärmempfindlicher geworden.

Natürlich fahre ich jedes Mal furchtbar zusammen. Was da alles passieren könnte. Ich könnte stürzen und mir den Oberschenkelhals brechen oder auch irgendwelche Gehörknöchelchen, allein durch ihre Unachtsamkeit. Ach was. „Unachtsamkeit“, im Grunde vermute ich längst böse Absicht dahinter. Bei Lichte betrachtet, ist das doch die schiere Mordlust. „Ihr wollt mich töten, ist es das?“, möchte ich ihnen entgegen rufen, doch meinem Mund entfährt nur verzagt ein tonloses Maunzen.

Ich bin in ihren Augen offensichtlich vogelfrei. Was habe ich ihnen eigentlich getan? Und ist es von anderen Personen im Ernst zu viel verlangt, einen normalen Sicherheitsabstand von etwa dreißig Metern einzuhalten, und im Umkreis von, sagen wir, hundert Metern mit gedämpfter Stimme zu sprechen, und zwar nur das allernötigste, und am Wochenende gar nicht? Ich denke, kaum. Schließlich ist das schon ein Kompromiss an sich. Ich komme den Aggressoren damit wirklich bereits äußerst weit entgegen. Ich müsste das nicht tun.

Aber nein. Am liebsten würde ich gar nicht mehr aus dem Haus gehen, doch praktikabel ist das nicht. Außerdem wäre das die reinste Täter-Opfer-Umkehr. Auch sehe ich überhaupt nicht ein, warum ich mir von den jungen Menschen komplett das Leben versauen lassen soll. Sollen die doch zuhause bleiben, wenn sie sich nicht zu benehmen in der Lage sind. Dort können sie sich das ja noch mal in aller Ruhe überlegen: Ausgang unter der Prämisse zivilisierten Betragens, oder eben Hausarrest.

Denn das wohl bedrückendste an der ganzen Sache ist, sobald ich irgendwas sage, wie, „So nicht, Freunde – ihr habt mich fast umgerannt“, „Etwas mehr Ruhe, bitte“ oder „Passt doch um Himmels Willen besser auf – ich könnte jetzt tot sein“, und sie mich dann stumm und, wie ich finde, oft auch ziemlich feindselig anstarren. Die verstehen das einfach nicht. Da mangelt es schlicht an der emotionalen Intelligenz und wohl auch am Willen, sich in andere hineinzuversetzen. Respekt vor dem Alter? Ebenfalls Fehlanzeige. Es fehlt bloß, dass sie mir irgendwann auch noch die Brille wegnehmen. Man hört ja so Sachen.

Deshalb schlucke ich meine Empörung lieber runter. Ich will doch nur in Frieden leben. Jetzt drängen immer mehr von denen durch das enge Treppenhaus. Und fast jede rempelt mich beinah an. Da fehlt echt überhaupt nicht viel. Woher kommt dieser Hass? Ich war stets nur gut zu den Jungen. Geduldig habe ich ihnen erklärt, wie die Welt funktioniert, was sie unbedingt wissen müssen, und wie sie sich am besten verhalten. Politik. Erdkunde, Geschichte, Biologie. Selbstlos habe ich all mein Wissen geteilt, auch und gerade hier in diesem Blök. Sie sind quasi nur durch mich lebensfähig. Und das ist jetzt der Dank?

Was lernen die eigentlich in ihrer verfickten Abendschule? Anstand jedenfalls nicht. Inzwischen frage ich mich, warum sie mir nicht einfach mit einer Trompete direkt ins Ohr blasen, den Hammer über den Kopf ziehen, meine Leiche anzünden und sie in den Müll werfen. Das wäre immerhin ehrlicher, und weniger hintenrum. Aber nein, stattdessen rasen die hier schrill plappernd kaum einen halben Meter an mir vorbei und checken mich um ein Haar brutal gegen die Wand. Hilfe! Und der Staat unternimmt mal wieder nichts. Das ist so typisch.