Eis

„Kampf gegen grüne Verkehrspolitik“

Zurück aus dem Urlaub empfängt mich Schnee und Eis. Von dreißig Grad plus grade ich down auf neun Grad minus, und von null Paar Socken grade ich up auf drei Paar. So wirklich helfen will das aber nicht. Es gibt keine falsche Kleidung, es gibt nur falsches Wetter. Vielleicht sollte ich auch mal Schuhe anziehen.

Das alles hindert mich nicht daran, am Abend wie gewohnt mit dem Fahrrad ins Kino zu fahren. „Huiuiui“, denke ich auf den ersten Metern. Danach denke ich gar nichts mehr, das Gehirn ist eingefroren. Aber ich muss ja auch nicht denken. Ich fahre einfach nur der reifenbreiten freien Rille auf dem sonst eisbedeckten Radweg nach. Dann komme ich schon ans Ziel.

Meine Augen tränen, warum, weiß ich nicht. Ich bin weder traurig noch gerührt. Zur Erinnerung: Ist ja immer noch vor dem Kino. Ich fahre schnell, denn wenn ich zu lange brauche, falle ich wie so ein erfrorener kleiner Vogel tot vom Fahrrad. Wie zur Warnung überholt mich ein Rettungswagen mit eingeschaltetem Martinshorn.

Geräumt ist ja nicht so richtig. Also die Straßen schon, und die Radwege gehen zum Teil, und wo nicht, gibt es immer noch die Straße. Hier trägt Kai Wegners „Kampf gegen grüne Verkehrspolitik“ (BILD) erste Früchte. „Wir machen Schluss mit der einseitigen Politik gegen die Autofahrer“, hatte der Regierende Bürgermeister angekündigt.

Für alle anderen, vor allem für die Fußgänger, heißt es jetzt: „Wir müssen leider drinnen bleiben.“ Der Winterdienst scheint zu streiken, oder man hat die Mitarbeiter bereits abgeschoben.

Insgesamt ist die Räumsituation noch schlimmer als zu Wowereits schlimmsten Zeiten, mit seinem nonchalanten Senf: „Berlin ist nicht Hawaii“, als einsame Greise zuhause verhungert sind, weil wochenlang nichts geräumt war. Aber war halt nicht Hawaii, da musste man schon auf den Karneval der Kulturen warten. Dann, wer noch lebte, Blumenkette um, kulturelle Aneignung an, helau, alaaf, aloha he und ab die Post!

Aber nicht jetzt. Jetzt ist Winter. „Ich will dafür sorgen, dass in Berlin wieder alles funktioniert“, hatte der König bei der Machtübernahme getönt. „Na dann geh mal Schnee schippen, Alter“, wäre man im ersten Moment versucht, zu sagen, angesichts der völlig unbehandelten Eisbuckel überall auf den Gehwegen. „Und das Eis kann ruhig auch weg. Ist super glatt da draußen. Oder ist dir der Anblick deiner Untertanen vom Dienstwagen aus mit seinen North Face Islandic Crosscountry XXL Cruel Grip Winterreifen zu unangenehm?“

Doch das ist zu kurz gedacht, denn das Ganze folgt offensichtlich einem ausgefeilten Plan. Und der lautet, „Ausgangssperre für Alte, damit die Rettungsdienste nicht überlastet werden“. Das wiederum ist nur durchsetzbar, wenn absolut nichts getan wird. So dass den renitenten Alterchen spätestens nach dem Öffnen der eigenen Haustür sofort klar wird: Umkehren oder Tod. Das funktioniert also prächtig.

„Nur eine saubere Stadt ist auch eine sichere und lebenswerte Stadt“, hat Wegner versprochen. Sauber ist es ja. Kein Wunder, wenn die ganzen Schmutzfinken schön zuhause bleiben. Bevölkerung stört nur, und macht immer alles dreckig.

Ah, das steht der Notarztwagen auf der Kreuzung Alte und Neue Jakobstraße. Die Sanis sind schon auf dem Bürgersteig daneben, wo ein älterer Mann mit verbogenen Beinen auf dem Eis liegt. „Aua, aua“, sagt der Verunglückte, und will auf diese Weise Mitleid schinden.

Selber schuld der Typ. Der hat wohl den Schuss nicht gehört. Ich würde ihn ja liegenlassen. „Betreten der Eisfläche verboten“: Kam das nicht genau so im Radio? Aber die Retter haben bestimmt irgend so einen hypokritischen Eid geschworen. Da müssen sie dann eben wohl oder übel mit Hand anlegen. Sonst schimpft wahrscheinlich Gott oder so.

Ulf und Uwe

Wer Friends wie uns hat, braucht jedenfalls keine Enemies mehr.

„To-käh! To-käh!“, schreit es in der Nacht, als wir schon längst zu Bett gegangen sind.

Wer da brüllt, ist Ulf. So haben wir den vermeintlichen „Riesengecko“ genannt, der Abend für Abend hinter dem Sofa auf der Terrasse unserer Ferienunterkunft an der Wand klebt, während wir davor sitzen. Ulla, Uli und Ulf. Wir drei, Freunde in der Fremde, und frei nach Andy Möller: „Ob Thailand oder Madrid – Hauptsache Italien.“

Eine Bildersuche ergab allerdings, dass Ulf eigentlich ein Tokeh ist, der „alles frisst, was er überwältigen kann.“ (Wikipedia) Wer von dem Aggrovieh gebissen wird, so der Rat im Internet, solle sich nicht wehren. Dann würde der Tokeh irgendwann loslassen, eventuell. Seitdem sitzen wir dort stets ein bisschen wie auf Kohlen. Ihm das Möbel ganz zu überlassen, kommt für uns bislang noch nicht in Frage.

Doch der Nervenkitzel lohnt sich: „Drei Grad minus, gefühlt sieben Grad unter Null“, lesen wir aus Berlin. Das hört man gern. Wir posten Bilder von Ulf, und von exotischen Biermarken, mit Palmen und Meer und Sonnenuntergang als Hintergrund. Die Motive gleichen Fototapeten in Jugendzimmern der 1980er Jahre, minus das Bier. Das hat nur den einen Zweck, Hass, Zwietracht und Neid unter den Daheimgeblieben zu schüren. Wer Friends wie uns hat, braucht jedenfalls keine Enemies mehr.

Von unserer Terrasse aus sehen wir eine Gruppe hässlicher alter Menschen durch die Anlage gehen, hoffentlich bleiben die nicht, die spiegeln uns zu sehr. Wir erfreuen uns lieber täglich an den Jungen und Schönen hier: die Typen alle so braungebrannte, superakzentuierte Muckitröten; die Frauen durch die Bank normgestreamlint, als ob es dafür jetzt irgendwo eine Orkfabrik gäbe. Und dann eben wir. Die Ökonische für die schrulligen Alterchen mit ihrem creepy Hausdrachen, die immer so früh schlafen gehen, ist mit uns bereits besetzt. Haut ab, ihr Krepel. Danke.

Ulf sieht die Konkurrenten nicht; er klebt wie immer hinterm Sofa. Dafür ist im Bad jetzt Uwe unterwegs, eine gigantische Kakerlake, die nicht mal abhaut, wenn man kommt und Licht macht, wie Schaben das normalerweise tun. Nein, ich muss zur Seite treten. Nicht zufällig haben wir für beide Männernamen gewählt: dumm, groß, stark und grundlos selbstbewusst – das haben Ulf und Uwe gemein. Sie machen keinen Platz, ihnen wird Platz gemacht, wie man das sonst eher von Elefanten, Nashörnern oder Frauen (sic!) mit Kinderwagen kennt.

Am „Hidden Beach“ soll es heute eine Party geben. Gut zu wissen, dann gehen wir da nicht aus Versehen hin. Sollen sich dort ruhig die Jungen und Schönen verausgaben. Wenn die das brauchen, bitte. Für Rambazamba à la Berlin sind wir nicht nach Thailand gebrummt. Wir gehen hier früh zu Bett und stehen früh wieder auf. Das ist für uns Urlaub. Wir vermissen ja auch keine Crackraucher im Hauseingang, Currywurst oder Shopping Malls mit H & M.

Aus gutem Grund. Denn mittlerweile erreichen uns nur noch absurd klingende Nachrichten aus einer jetzt schon längst entfremdeten Welt: David Lynch ist tot; Hitler soll ein Linker sein, dafür sind in den USA endgültig alle Nazis geworden; Kai Wegner will in Berlin aus Kostengründen eigenhändig alle Zootiere töten.

Apropos. Jetzt haben wir Ulf schon zwei Tage nicht mehr gesehen. Vielleicht sucht er sich woanders leichtere Beute, die nicht so laut schreit, und die er nicht erst mühsam in tausend Stücke zerteilen muss; vielleicht haben wir ihn auch durch unsere relative Furchtlosigkeit zermürbt. Oder er ist beleidigt, weil wir ihn ständig über Social Media dissen, und nun sogar in diesem Blök. In Wahrheit ist er nämlich voll sensibel.

Ulla, Uli und Ulf. Wir drei, Freunde in der Fremde.

Das schöne Haus

Die beiden schauen mich mit großen Augen an.

Ich wäre ja lieber zu UNIQLO gegangen. Da ist es billiger. Außerdem mag ich den Namen, der mich an meine fruchtlosen, aber dennoch schönen Jahre im Tempel der Gelehrsamkeit erinnert. An die Toiletten in der sogenannten Silberlaube der Freien Universität. An den Wänden dort die lebensklugen Sprüche gewitzter junger Menschen, der geistigen Elite Westberlins, neben geschmackvoll stilisierten Pimmelzeichnungen.

Stattdessen stehen wir jetzt in einer Friedrichshainer Boutique. Ich soll wohl eine neue Hose oder so bekommen. „Sag der Verkäuferin, was du möchtest“, ermuntert mich meine Frau.

„Keine Ahnung“, sage ich. „Du wolltest doch hierher. Sag ihr einfach, was du willst, das ich anziehen soll.“

„Das ist ja niedlich“, quietscht die Verkäuferin. Sie meint uns. Vielleicht, weil wir sie an ihre Großeltern erinnern: Zwei gräuliche Freaks, mental, körperlich und organisatorisch derart ineinander verkeilt, das eins allein nicht existieren könnte. Kann schon sein, kein Problem. Ich hab nichts gegen alte Ehepaare. Einige meiner besten Freunde sind alte Ehepaare. Schon seit ihrer Geburt.

In einer Kabine probiere ich mehrere Edeljeans mit posttestosteronischer Bundweite an. Passt. Als ich damit vor die Damen trete, soll ich sagen, ob ich die Hose schön finde. Das überfordert mich, nicht zuletzt, weil es mir völlig schnurz ist. Auch ist die manuskriptfreie Rede nicht wirklich mein Ding. Irgendwas muss man halt anziehen. Schließlich wird es kalt draußen.

„Weiß ich doch nicht“, sage ich. „Sag du mal besser, mir ist das echt egal. Ich muss das ja zum Glück nicht sehen, wenn ich‘s anhabe.“

Die beiden schauen mich mit großen Augen an. Aber ist doch wahr: Ich sehe die Hose nun mal nicht, solange ich nicht den Fehler mache, in irgendeinen Spiegel zu gucken, und dergleichen Fauxpas ist mir jetzt bestimmt schon acht Jahre lang nicht mehr unterlaufen. Im Grunde ist das so, wie wenn man in einem scheißhässlichen Haus eine richtig schöne Wohnung hat. Wenn man da aus dem Fenster guckt, muss man das Haus ja ebenfalls nicht sehen. Am besten schleicht man da auch immer nur spätabends, wenn es dunkel ist, und möglichst besoffen rein, dann wird man gar nicht mehr damit konfrontiert, wie übel das Haus von außen aussieht. Und – schwupps – schon ist man wieder in seiner geilen Butze drinne.

Genau so bin ich, ein Mensch von großer innerer Schönheit. Denke ich zumindest. Mein Geist ist mein Wohnzimmer, meine Seele die Girlande mit den leuchtenden Plastikdelfinen im Bad, mein Körper das Haus mit dem Mund als Eingangstür und dem Arschloch als Schornstein, und meine Kleidung ist die wärmegedämmte Fassade. Allerdings deute ich die großen Augen meiner Frau nun doch dahingehend, dass ich den Bogen gerade überspanne.

Ich muss mich zusammenreißen, sonst bekomme ich später keine Bärchenwurst. „Vielleicht probiere ich doch mal lieber diese Hose da“, sage ich, ohne hinzuschauen, und fake mittels minimaler Stimmmodulation Engagement, Eigeninitiative und Geschmack. Ich bin nicht nur ein toller Typ, sondern auch ein hervorragender Schauspieler. Und ein genialer Autor, eh klar, ihr Wichser.

So. Drei Sekunden. Die neue Hose sitzt perfekt. Wie eine zweite Haut. Wir können gehen. Doch die beiden gucken komisch. Ich kann mir fast schon denken, warum. Ich lasse jetzt nämlich schon lange grundsätzlich den Hosenstall offen. Das ist einfach praktischer, weil inzwischen muss ich eh so oft aufs Klo; da lohnt sich das umständliche Auf- und Zuziehen des Reißverschlusses längst nicht mehr, da geht der ja so schnell kaputt.

Turnmutter Ulimann

Auf dem fruchtbaren Humus von körperlichem Abbau.

„Muskelaffen“, brummle ich feindselig, als ich in der Hasenheide an einer der Turnstationen vorbeikomme, die sie dort vor einer Weile aufgestellt haben. Es sind nicht mehr diese Nachbauten historischer Holzgeräte, mit denen sie früher auch mal den deutschnationalen Turnvater Friedrich Jahn abgefeiert haben, der hier Anfang des 19. Jahrhunderts seinen ersten Turnplatz für die kriegsbegeisterte Jugend errichtet hatte, sondern brandneue aus Stahl auf Beton. Drei verschiedene Anlagen erinnern in Zweck und Gestalt an die Features, die man in Zoos als sogenanntes „Environmental enrichment“ den Menschenaffen baut, damit die beschäftigt sind, und nicht in Apathie verblöden.

An den Einrichtungen stählt sich der Nachwuchs nun nicht mehr für den Befreiungskampf gegen den Franzmann, sondern für die Schlacht von Tindern, was nicht in Belgien liegt. Stechend riecht es nach ausgelaufenem Testosteron. Denn jetzt stehen da immer solche Kraftmännchen herum und präsentieren ihre tollen Bodies.

Hello Hautkrebs, my old friend …“ In der Herbstsonne protzen sie mit ihren nackten Oberkörpern, wenn sie nicht gerade mithilfe irgendeines Klimmzuggerüsts daran arbeiten, noch geiler zu werden. In fachmännischen Choreografien, die freilich wie zufällig wirken sollen, recken sie ihre dicken Ärmchen in die Höhe und lassen ihre Muckis spielen. Manche machen dabei Gesichter wie Goldfische und im Kopf dahinter dürfte es auch nicht besser aussehen. Ich glaube, wenn ich mich selbst derart geil fände, würde ich gar nicht mehr aus dem Bett kommen mit mir.

„Muskelaffen.“ Keuchend wie eine Dampflok der Schweizer Bergbahn schnaufe ich an den Leibesübenden vorüber. In meiner Laufrunde passiere ich nämlich reihum sämtliche Turnplätze. Das geht nur noch reichlich schleppend, weshalb ich manchmal den leisen Verdacht hege, dass ich schlicht neidisch auf die Posemuckel bin. Auch weil ich selbst mittlerweile eher die Konsistenz von Sponge Bob habe. Oft bin ich nach wenigen Metern schon derart erschöpft, dass ich aufgebe, und den Rest der Strecke spazieren gehe.

Warum gibt es analog zu den Paralympics eigentlich keine eigene Klasse für die Untrainierten? Die Suckolympics oder so. Das heißt die, die sofort schlappmachen messen sich mit denjenigen, die immer den Turnbeutel vergessen, die sich jede Woche wegen Menstruationsbeschwerden abmelden und denen, die sich während des Dauerlaufs hinter der Sporthalle im Busch verstecken und rauchen.

Auch eine allgemeine Grumpyness mag eine Rolle für mein übellauniges Geningel spielen. Besagte Grundgrumpiertheit konnte im Verlauf der Jahre auf dem fruchtbaren Humus von körperlichem Abbau, seelisch-moralischer Verkrustung sowie allgemeinem Niedergang die wunderbarsten Sumpfblüten der Arschlochhaftigkeit entwickeln. Oft zische ich bloß noch „geh weg!“, wenn mir irgendwo jemand im Weg herumsteht, aber nicht zu laut, weil ich obendrein jeden Tag feiger und konfliktunfähiger werde.

Frauen finden sich übrigens ebenfalls an den Turnstationen, aber komischerweise meist an denen, die schön im Schatten liegen, und wo keine Männer zugange sind. Keine Ahnung, woran das liegen mag. Wenn ich eine Frau wäre, würde ich doch, also natürlich erst, nachdem ich mir was schönes gekocht, gehäkelt, alles sauber gemacht, die Kinder betreut, ein Sektchen getrunken und am Telefon mit den Freundinnen geklönt hätte … also, wenn ich eine Frau wäre, würde ich doch schnurstracks in den Park wetzen, und mir die nackten Angeber zu Gemüte führen. So kann ich mir wie auf dem Fischmarkt die leckersten Exemplare auswählen – „komm jetzt“ –, und dann zuhause mit reichlich Butter in die Bettpfanne hauen. So stell ich mir das jedenfalls vor.

Aber wie man sieht, tun sie das gar nicht. Komisch. So ungewöhnlich das ist, aber es scheint fast so, als ob da irgendwo ein Denkfehler meinerseits vorläge. Doch wo der jetzt genau sein soll, bin ich weiter voll am Suchen.

Der letzte Tag

Nur an diesem Tag wirken Stadt und Leute stets so fremdartig blankgeputzt und aufgeräumt.

Marathon vorbei, alles vorbei. Und auch heuer war es wieder dieser eine seltsame Tag des Jahres, an dem Berlin ein freundliches Gesicht zeigt. Wie fast immer Ende September bei schönem, klaren Wetter und angenehm moderaten Temperaturen. Fast 60.000 Läuferinnen und Läufer aus 161 Ländern, fröhliche Menschen aus der ganzen Welt.

Nur an diesem besonderen Tag wirken Stadt und Leute stets so fremdartig blankgeputzt und aufgeräumt. Die Massen lächeln vom Straßenrand aus wie besoffen den ebenfalls lächelnden Laufenden zu und feuern sie an. Es ist, als wolle Berlin noch einmal sagen, „seht, so könnte ich theoretisch auch sein“, ehe es von diesem einzigartigen Höhepunkt aus am nächsten Tag wieder für lange Zeit in den gewohnten Abgrund aus Kälte und schwärzester Nacht hineinkippt, den Herbst, die Bitterkeit, die Wut, den Fatalismus, Schnauze mit Schmerz. Morgen sind sie dann alle wieder wirklich besoffen. Dafür lächelt keiner mehr, und wenn umgekehrt jemand angelächelt werden sollte, von einem leichtsinnigen Fremden, der sich nicht auskennt, fauchen sie zurück: „Was grinst du so dämlich?“ Es ist Winter in Berlin.

Erst im folgenden Mai geht es langsam wieder aufwärts, doch der heilige Ausreißer in einer schier endlosen Ansammlung relativ trüber Stunden bleibt der Tag des Marathonlaufs.

Im Grunde ist das eins zu eins wie die berühmte Geschichte von dem Löwen und dem Lämmchen, aus, was weiß ich, der Bibel oder so. Weil der Löwe ist normalerweise immer komplett scheiße, jeden Tag, und brettert dem Lämmchen so – wämm! – in die Fresse, und am nächsten Tag gleich wieder: wämm! Und zwar volle Pulle.

Das Lämmchen hat sich dann schon irgendwann drauf eingestellt, Verbandskasten und Schmerztabletten immer parat, bisschen Sarkasmus auch antrainiert auf so ne resignierte Art – Anzeige hat eh keinen Zweck, das reicht den Bullen irgendwie nie, kein Wunder, die sind ja auch selbst alle Leoparden und Wölfe und so –, aber dann kommt der Marathon der Tiere und voll das schöne Wetter. Ende September, stabiles Hoch, achtzehn Grad Celsius. Und der Löwe ist auf einmal superfreundlich, lächelt das Lamm an, und tut so als wäre nie was gewesen. Er zeigt sich von der besten Seite. Selbst läuft er nicht mit wegen Knie und Rücken und so. Aber er hat eine kleine Trommel, und jedes Mal, wenn ein Lamm mit Startnummer und Turnhose vorüberrennt, trommelt er und brüllt aufmunternd.

Das Lämmchen traut dem Braten nicht, natürlich, weil am nächsten Tag beginnt der Winter. Und dann kriegt es vom Löwen wieder in die Fresse, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche, das weiß es schon: Wämm!

Nächstes Jahr findet der Marathonlauf übrigens eine Woche früher statt, wegen der Bundestagswahlen am darauffolgenden Wochenende. Die Diskrepanz wird umso größer sein, denn je nachdem, wie die Wahl ausgeht, ist der Marathonsonntag dann nicht wie bisher immer, nur der letzte strahlende Festtag des jeweiligen Jahres, sondern der letzte gute Tag überhaupt.

Wenn der Lauf nicht sowieso gecancelt wird, wegen der bunten Farben, der guten Stimmung und der vielen Ausländer, werden keine Leute mehr aus 161 Ländern kommen. Nur wenige werden am Straßenrand stehen, und dabei gegen die GEZ-Gebühren protestieren, obwohl die längst abgeschafft sind. Das Fernsehen zeigt entsprechend keine Bilder. Niemand lächelt, wenn die paar Läufer aus Deutschland, Österreich-Ungarn, Russland und Nordkorea mit verbissenen Gesichtern vorbeilaufen. Läuferinnen gibt es nicht, wegen der Gefahr plötzlicher Gebärmutterabsenkungen. Denn die können wir im Namen der Zukunft unseres Landes keinesfalls riskieren.