Im Armenhaus der Fauna

Doch heute sind die meisten Freigehege leer, und es ist bitterkalt.

In meiner Kindheit war bereits die blanke Aussicht auf einen Zoobesuch das ultimative Premiumereignis. Es war ein Dammbruch der Begeisterung: Glücksneurone überfluteten meinen Hirnfrontallappen, und schwappten in Form von Freudentränen vorne aus den Augen. Kein Kindergeburtstag und kein Heiligabend konnte annähernd dagegen anstinken. Derart ekstatische Vorfreude sollte sich im Leben nie wieder einstellen – einen faden Abklatsch bot in späteren Jahren bestenfalls die Anbahnung von unverhofftem Sex, oder heute nur noch der Duft nach frisch gegrillten Hähnchen.

Umso größer ist fast 50 Jahre später die Sehnsucht, diesem rauschhaften Gefühl noch einmal wenigstens ansatzweise nachzuspüren. Der Westberliner Zoo ist der Späti unter den zoologischen Gärten Deutschlands, dicht auf dicht vollgeramscht mit Tieren, optimale Auswahl auf wenig Raum. Doch heute sind die meisten Freigehege leer, und es ist bitterkalt. An drei verwaisten Käfigen nebeneinander lese ich jeweils „Jaguar“, wo ehrlicherweise „Januar“ oder „Kein Jaguar“ oder „Nüscht“ stehen müsste. Selbst in den warmen Innenbereichen sind erstaunlich viele Areale leer, und wenn mal nicht, sind die Tiere trotzdem irgendwie enttäuschend. Gerade die Klassiker, deretwegen man ja überhaupt erst herkommt. So sind zum Beispiel die Tiger wahnsinnig klein. In meiner Erinnerung waren die immer viel größer. Um den Schwindel zu vertuschen, erfinden sie dann mal eben schnell so ein Fantasy-Label wie „Sumatra-Tiger“, aber das ändert gar nichts: Ich komm doch nicht hierher, um mir winzige Tiger anzugucken.

Ernüchterung macht sich breit. Ich hatte das alles wesentlich beeindruckender im Kopf. Allerdings stammen sämtliche meiner Zoo-Erlebnisse aus einer Zeit, als ich selbst klein war, so dass die Tiere auf mich zwangsläufig größer wirkten. Auch die Giraffen sind überraschend mickrig – gibt es eigentlich Shetland-Giraffen? Ich hab mich schon von weitem gewundert, wie niedrig das Giraffenhaus ist – bücken die sich etwa die ganze Zeit über, habe ich gedacht –, jetzt weiß ich es. Elefanten scheint es gleich gar nicht zu geben, aber vielleicht sind die so klein, dass wir sie übersehen haben.

Nur das Armenhaus der Fauna ist mal wieder komplett am Start. Wohl um den peinlichen Leerstand zu reduzieren, ist in jedem zweiten Käfig so eine Statisten-Spezies untergebracht. Angestrengt scannt man das bis zum Anschlag mit Baumstämmen, Felsen und dichtem Pflanzenbewuchs vollgestopfte Gehege, bis man nach einer halben Stunde endlich ein erbarmungswürdiges Wollknäuel in einer Baumhöhle erspäht. Grau, unscheinbar und wie tot liegt es da, und spottet unseren Erwartungen.

Das kümmerliche Kleinvieh sieht zwar original aus wie eine Hauskatze der Güteklasse C, aber auf dem Schild steht „Zimtkatze“ oder so, und das angeblich wahnsinnig seltene Nachttier will man am anderen Ende der Welt aus dem tiefsten Dschungel gezogen haben.

Verarschen kann ich mich selbst. Das ist so typisch für unsere von vorn bis hinten auf Betrug fußende Eulenspiegelwirtschaft. Die Konsumentin, der Kunde, die Wählerin, der Bürger – sie alle werden mit den billigen Lügen, die man ihnen gegen gutes Geld auftischt, systematisch abgefrühstückt: Behelfstiere im Zoo, Schrott im Museum, Autos ohne Reserverad, belgische Tomaten, umgekehrte Wagenreihung.

Mein Langmut endet genau hier und jetzt an diesem erneut sich auftuenden Abgrund mitten in der Dienstleistungswüste Deutschland. „Verdammtes Scheißvieh!“ Ich schreie sie so laut an, dass die anderen Besucher zusammenzucken, doch das ist mir egal. Die Leute lassen sich offenbar alles gefallen, gut, das ist ihre Entscheidung, aber ich mach da nicht mit. „Für so was habe ich nicht 20 Euro Eintritt bezahlt!“

Und es ist ja auch nicht so, dass die Katze nichts dafür könnte – mit einem Minimum an Zivilcourage hätte sie sich schlicht nicht instrumentalisieren lassen, und sich womöglich sogar als Whistleblowerin angeboten. Die Öffentlichkeit soll ruhig wissen, was hier abläuft.

„Du feige Sau, du Fähnchen im Wind, du Mitläuferkatze!“ Ich spucke wutentbrannt gegen das Sicherheitsglas. Kinder weinen, junge Chinesinnen zücken ihre Kameras – Leute, geht weiter, und filmt (in der Erwachsenenversion des Textes steht an dieser Stelle ein anderes Verb) doch euren toten Panda. Nur die Adressatin meines gerechten Zorns schläft seelenruhig weiter. Die Scheiben im Lügenzoo scheinen schallisoliert zu sein.

Unsere letzte Hoffnung ist das Affenhaus, früher traditioneller Höhepunkt eines jeden Zoobesuchs. Doch jetzt sitzen da nur noch völlig apathische Affen herum, und haben sich offensichtlich aufgegeben. Einer hantiert lustlos mit einem kaputten Plastikteil, wie ein Handwerker, der eigentlich schon Feierabend hat, ein anderer mit einem Strohbündel – mehr Ablenkung gibt es nicht. Besonders artgerecht dürfte das nicht sein.

Wir überlegen uns, wie es wohl umgekehrt wäre. Wenn wir Menschen in einem Menschenzoo von den Menschenaffen eingesperrt wären: Ob sie uns besser behandeln würden als wir sie, und uns wenigstens was zum Lesen mit ins Menschenhaus gäben?

Aber das wahrscheinlich gerade nicht. Denn für das Publikum ist es ja interessanter, wenn die Tiere, also in diesem Fall die Menschen, mehr Aktivität zeigen. Und nicht einfach nur so dasitzen und lesen. Vor allem für die kleinen Affenbesucher wäre es folglich viel aufregender, wenn man uns mit Spielkarten, Alkohol, Stichwaffen, pornografischem Material, Rollschuhen und Feuerwerk ausstattete. Oder Internet und Social Media. Und … action!

Wenn die Menschen dann lallend, schreiend und mordbrennend durch ihre Anlage tollen, würde das ein dankbares Leuchten in die Augen der Affenkinder zaubern. Meine Güte, diese Menschen sind so drollig. Da hinten in der Ecke neben der Futterluke erschießt sogar einer einen anderen, der gerade am Computer sitzt. Die Schimpansen kreischen vor Freude. Im Menschenhaus ist es immer mit Abstand am lustigsten – scheiß auf die Minigiraffen, Mogeltiger und Miezekatzen.

Die Metaebene

Derweil ich mehr Müll in mein Körbchen schmiss, plante ich die Kolumne weiter.

Beim Betreten des kleinen Supermarkts, sprach mich eine, ähnlich einer riesigen Mensch-ärgere-dich-nicht-Figur gesichtslose und nur grob umrissene, Gestalt in einer Art Wehrmachtsanorak an, nanu, er sei doch der taz-Kollege Rudi Hupf* (*Name geändert), ob ich ihn denn nicht erkennte, und nach Abnehmen der Brille fiel bei mir der Groschen.

Ich begegne ihm ab und zu, er wohnt wohl in der Nähe, und ist also keiner der vielen Menschen, die ich nach nur einmaligem Sehen nicht wieder erkenne. In diesem Fall verwies ich entschuldigend auf meine beschlagene Brille: „Sorry, aber ich konnte dich so gar nicht sehen.“

Daraufhin sprach er diese klugen Worte: „Da kannst du doch auch mal eine Kolumne drüber schreiben“. Genauer gesagt waren es auf den ersten Blick dermaßen dumme Worte, dass ihre Dummheit nur noch von der darunter liegenden Geringschätzung übertroffen wurde, die der Knabe offenbar meinen Kolumnen gegenüber hegte. Denn etwas Boringeres als über das zufällige Ansichtigwerden eines Kollegen im lokalen Kaufladen zu berichten, ist objektiv wie subjektiv kaum denkbar.

Doch auf den zweiten Blick fand ich die Idee megaschlau, so dass ich dachte „Yessiyess! Das mach ich!“ Schließlich beschränkte sich mein aktives (Er-)Leben wie für so viele ältere Menschen im Wesentlichen auf den gelegentlichen Einkauf von Lebensmitteln, die dafür sorgten, dass ich sinnlos weiter fraß und schiss und atmete. Und dann erneut einkaufen ging. Worüber also könnte ich sonst noch groß schreiben?

Während ich schon atemlos plottete, entwickelte und ganze Stränge wieder verwarf, kreuzten sich am Kühlregal noch einmal unsere Wege. Ich griff dort zu einem Fischprodukt von Gut & Günstig und sagte, „Du kannst ja drüber schreiben, was ich hier für einen Schrott kaufe.“ Völlig unlogisch im Grunde, denn ich sollte ja die Kolumne schreiben. Und nicht er. Was daran hatte ich bitteschön nicht verstanden?

Und dann der Geistesblitz. Ich könnte eine sogenannte „Metaebene“ einflechten, wie so viele, die im Brustton eines Zweijährigen, der beim Anblick eines Hundes erkenntnisstolz „Wauwau“ sagt, behaupten, allein durch die Verwendung dieses Zauberworts etwas fürchterlich Banalem die Weihe des Nichtbanalen zu verleihen. Dabei ist die angebliche Metaebene für Normalsterbliche nur eine Ablenkung davon, dass es noch nicht mal eine Ebene gibt. Nur ganz wenige, wirklich kluge Menschen (etwa eine aus einer Million) sind ernsthaft metaebenenfähig. Beziehungsweise wären es, denn speziell die würden ihr wertvolles Hirnpulver kaum für eine derartige Lappalie verschießen. Ich wäre also der einzige.

Super. Derweil ich mehr Müll in mein Körbchen schmiss, plante ich die Kolumne weiter. Ich könnte darin behaupten, den Kollegen wider das eingeführte, und ja per se nicht unglaubhafte Narrativ, ich hätte ihn wegen der trüben Gläser nicht erkannt, absichtlich ignoriert zu haben. Aus Hass oder Gleichgültigkeit. Aus Bequemlichkeit, damit ich ihn nicht grüßen musste. Oder schlicht, um seine Seele aus der Balance zu bringen, da ich auf lange Sicht nach seinem Redakteursposten trachtete. Das klassische Gaslighting („Welcher Uli? Sie verwechseln mich hier!“) würde am Ende wirken wie kleinste Dosen Gifts, die ein Mörder dem Opfer über Jahre hinweg geduldig einflößt.

Andersherum wäre eine rein anekdotische Schilderung tatsächlich etwas dröge. Denn das Großartige am magischen Realismus eines Murakamis, der Autofiktion eines Knausgårds, den bunten Fantasiewelten eines Prechts, ist ja gerade, dass sie eine Geschichte an der Stelle beliebig fortspinnen können, wo sie beim gewöhnlichen Chronisten bereits endet, nämlich im Eingangsbereich von Edeka in der Pannierstraße.