Okay, Boomster!

Das ist hier sichtlich keine Veranstaltung für Risikogruppen.

Es ist ein Samstagabend im Winter. An einer Art Loch in der Wand harren wir in der Kälte aus, vor uns eine hundert Meter lange Schlange: eine Wohnungsbesichtigung, Vernissage oder der beste Gemüsedöner Schönebergs? Nein, wir warten auf die Booster-Impfung. Die Leute sind mit Termin da und ohne, das macht offensichtlich keinen Unterschied. Am Ende der Schlange sind wir alle gleich.

Ich komme mir erwählt vor, als holte ich mir heimlich Superkräfte oder einen Zaubertrank. Als sogenannter Boomer gelte ich in der öffentlichen Meinung nicht als sonderlich erhaltenswerte Lebensform und dennoch verschaffe ich mir listig einen Überlebensvorteil – ein Schelm, der hierin keinen Zusammenhang erkennt. Ein bisschen ist Boostern auch wie Lebenspunkte zu horten bei einem Fantasyspiel. Mein character könnte wie andere Mitspieler auch Abenteuer-, Gold-, oder Machtpunkte sammeln, doch ich setze alles auf die Karte Leben.

Auch die regelmäßige Einnahme von Vitamin D und Bier in der dunklen Jahreszeit dient einem Auslesevorsprung, der umso besser greift, solange ich solches Herrschaftswissen für mich behalte. Sollen die andern doch verrecken, lautet meine Devise. Nett ist das nicht, doch das letzte Zeugnis hat keine Betragensnote, und ich bin ohnehin nicht mit dem Ziel angetreten, am Lebensende mit 100.000 Likes, Bienchen oder Sympathiepunkten in die Grube zu fahren. Davon kann ich mir nichts kaufen, und schon gar keine neuen Lebenspunkte.

Unsere Schlangennachbarn sehen das offenbar genauso. Nett ist für sie nicht nur die kleine Schwester von scheiße, sondern auch die von ungeimpft. Das ist hier sichtlich keine Veranstaltung für Risikogruppen und organisatorisch schwer Erreichbare. Wir sind vorwiegend zwischen 30 und 60, und tendenziell eher bildungsbürgerlich; eine hält ein Buch (richtig herum!) in der Hand, auch Englisch ist zu hören, manche haben sogar ne Brille. Wir wirken wie Leute, die bereit und in der Lage sind, die evolutionären Ellenbogen auszufahren, und auf einer Website wie Doctolib zur Not auch noch drei Klicks weiterzublättern, um sich hier zusammen mit fünfhundert anderen Topcheckern eine klandestine Vorzugsbehandlung zu krallen. Im Grunde ist das hier ein sozialdarwinistischer Prozess analog zur Gentrifizierung, nur dass der eine nach Wohnraum und der andere nach Überleben segregiert.

Nach einer Dreiviertelstunde bin ich dran, und kriege nun schon meine dritte Sorte Impfstoff. Damit bin ich besser kreuzimprägniert als Siegfried und Achilles zusammen. Die sagenhaften Pfeifen haben sich verarschen lassen, ich lasse mich boostern. Jetzt müsste es wirklich mit dem Teufel zugehen, wenn ich noch an dem Scheiß krepiere. Ok, Boomster!

Mein Ehrgeiz ist es jedenfalls, am Ende als einziger Mensch auf der ganzen Welt übrigzubleiben. Hundertster Booster, zweihundertste Mutante, dreihundertste Nachimpfung – irgendwann steigen die anderen alle nacheinander aus aus diesem Chicken Game, dieser Reise nach Jerusalem mit acht Milliarden Stühlen. Von da an muss ich mich selber spritzen und auch die Vakzine weiter entwickeln; ach nein, muss ich nicht, schließlich kann mich dann niemand mehr anstecken. Das ist ZeroCovid in Reinform.

Nun wird manche fragen: „Was machst du denn dann so völlig allein auf der Welt?“ Ganz einfach, erst mal ordentlich chillen, so ohne Laubsauger, nerviges Gelaber und blöde Fragen. Ich muss auch keine Maske mehr tragen. Und keine Hose. Alles gehört mir. Ich komme überall rein, ohne Beschränkungen, kann überall umsonst tanken und hoffe, dass die Konservendosen nicht zu schnell verfallen.

Der verlorene Zahn

So sieht ein guter Glaube aus.

Ich sitze im Wartezimmer meines Zahnarztes, als es an der Praxistür klingelt, und eine Chinesin hereinkommt, kaum anderthalb Meter groß und ungefähr in meinem Alter. Am Empfangstresen fragt sie die Arzthelferin, ob sie wohl ihren Zahn wiederhaben könne. Den habe sie vorhin vergessen.

Hier im Wedding kommen manchmal auch Notfälle herein, die sich an Hunden oder Kronkorken die Zähne ausgebissen haben; die Helferin wirkt daher kaum erstaunt. Da müsse sie mal schauen, einen Moment, den habe man sicher weggeschmissen, aber eventuell ließe sich da trotzdem noch was machen, „nehmen Sie bitte solange Platz.“

Die Patientin setzt sich und ich frage sie neugierig, wozu sie den Zahn brauche. Es ist ein sonniger, energetischer, und nicht zu kalter Wintertag, einer dieser wenigen, ganz speziellen Tage, da alle Leute irgendwie netter und aufmerksamer wirken; das liegt in der Luft und pflanzt sich fort, eine alle Bedenken brutal niederwalzende Lawine der Achtsamkeit.

Entsprechend freundlich reagiert sie auf mein Interesse. Natürlich hätte sie genauso gut denken können: geht den doch nichts an, das kapiert der eh nicht und dann diffamiert er am Stammtisch exotistisch unsere Sitten. Ich könnte ihr das kaum verübeln, in der Beziehung hat sie bestimmt schon negative Erfahrungen gesammelt. Doch sie verhilft mir gerne zur Erleuchtung. Mit vor der Brust zusammengelegten Händen und leichter Verbeugung mimt sie einen religiösen Akt, und erklärt, ihre Mutter habe das schon so gemacht und sie selbst – an dieser Stelle bin ich mir nicht sicher, denn ihr Deutsch ist nur etwa hundertmal besser als mein Chinesisch – gäbe wiederum ihre Zähne an ihre Tochter weiter.

Ich sage, ich hoffte, dass der Zahn noch da sei. Das ist zwar leider keine echte Empathie; über die verfüge ich nicht. Ich kann mich schwer in andere Menschen einfühlen, und es ist mir in Wahrheit scheißegal, ob sie hier ihren Zahn wiederkriegt oder nicht. Aber ich habe mir im Laufe der Zeit antrainiert, roboterhaft eine Art Mitgefühl zu faken – ich behaupte ja, das machen viele so. Durch lebenslange Beobachtung meiner Mitmenschen habe ich ein ganz gutes Gespür dafür erworben, wann so eine pseudozugewandte Floskel passen könnte. Und im Gegensatz zu früher, als ich stets nur lachen konnte, wo andere weinten, möchte ich heute, dass sich die Leute mit mir wohlfühlen und ich auf diesem Wege vielleicht auch ein bisschen. Es sei denn, ich bin schlecht gelaunt, unruhig, müde, traurig, gereizt, im Stress, abgelenkt oder nüchtern, dann möchte ich das nicht.

Aber jetzt bin ich ganz Mensch, oder tue zumindest so, und frage besorgt, was denn passiere, wenn der Zahn nun nicht mehr aufzufinden sei?

„Ach, das wäre auch nicht schlimm“, sagt die Frau fröhlich. Sie habe ja noch genug andere Zähne.

Das finde ich schon sehr flexi. Alles kann, nichts muss. Super. So sieht ein guter Glaube aus. Andere Religionen als dieser Zahnfeekult oder Zahn-Buddhismus hätten wahrscheinlich wieder auf die altbekannt verbissene Tour reagiert: „Nein, es muss unbedingt dieser Zahn sein, Auge um Auge, Zahn um Zahn – brüll, zeter – stirb, ungläubiger Hund, du hast meinen heiligen Zahn gestohlen und besudelt, nun ist mein Glaube entehrt, der große Löwenzahn zürnt und meine Sippe ist bis ins tausendste Glied verflucht“, und hätte – zündel, mordbrenn, knister, hack – die Zahnarztpraxis mit Feuer und Schwert dem Erdboden gleich gemacht. Denn das scheint mir neben dem immanenten Frauenhass und den nekrophilen Schwurbelmärchen ein Hauptproblem der großen Glaubensrichtungen zu sein: der notorisch unentspannte Umgang mit unerwarteten Störungen der eigenen Religionsausübung.

Hier aber sorgt das gute Karma für den gerechten Lohn, denn der Zahn ist tatsächlich noch da.