Bockwurst mit Schrippe

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Vor der Wahl muss ich mich unbedingt stärken und hole mir an der Tanke, Ecke Sonnenallee, eine Bockwurst mit Schrippe für einen Euro. Mit meiner Stimme kann ich dafür sorgen, dass es auch in Zukunft solche Angebote gibt. Wähle ich hingegen falsch, werden Bockwürste womöglich verboten. Oder jeder Zweite wird erschossen – so was gibt’s ja auch. Beim Wählen sollte man sich also gut konzentrieren. Und Nahrung ist wichtig für das Gehirn und damit für die Konzentration. Deshalb stärke ich mich.

Die Angaben auf der Wahlbenachrichtigung führen mich auf ein verwahrlost wirkendes Areal. Um ein fabrikähnliches Backsteingebäude herum gruppieren sich in loser Streuung mehrere abgewrackte Schuppen. Drinnen verfestigt sich der Eindruck, dass die deutlichen Spuren des Verfalls hier durch, eine heile Welt vorgaukelnde, Accessoires wie Kinderbilder an den Wänden übertüncht werden sollen. Was für ein grandioses Symbol: sowohl für Berlin, als auch für dessen Zustand; sowohl für die Notwendigkeit dieser Wahl, als auch für deren Vergeblichkeit. Kinder sind unser höchstes Gut, du mich auch. Laut meinem Zettel befinde ich mich in einer Grundschule, doch ebenso gut könnte es sich bei den Flachbauten um Baracken für Mastschweine handeln, denen man ein paar Buntstifte in die Koben gelegt hat, damit sie abgelenkt sind, wenn das Bolzenschussgerät auslöst: hallo, Bockwurst!

Ich betrete das für mich zuständige Wahllokal. An zwei nebeneinander geschobenen Tischen sitzen die Wahlhelfer – eine Frau und zwei Männer. Vor mir ist noch ein Bürger dran. „Aaahh“, macht er und sperrt weit den Mund auf. Der mittlere Wahlhelfer drückt ihm mit einem Spatel die Zunge herunter und leuchtet ihm mit einer kleinen Taschenlampe tief in den Rachen.

Ich staune. „Diskretion bitte“, ermahnt mich der rechte Wahlhelfer. „Achten Sie das Wahlgeheimnis.“ Er deutet auf den Andrang an der Zimmertür. „Machen Sie sich lieber schon mal frei. Dann geht nachher alles schneller und Sie sehen ja, was hier los ist.“

Zögernd komme ich seiner Aufforderung nach. Ich will schließlich wählen. „Unterhose auch?“, frage ich unsicher.

„Ja, natürlich.“ Er wirkt ehrlich erstaunt. „Wie soll das sonst gehen?“

Ich verkneife mir die Frage, „was soll gehen?“, denn aus dem Augenwinkel bekomme ich noch mit, dass der Mann vor mir schreit und aus dem Mund blutet, als er mit den Wahlzetteln zur Kabine wankt. Vor der links sitzenden Wahlhelferin liegen zwei rosig-blutige Klumpen. Während ich mich auszog, müssen sie ihm die Mandeln rausgenommen haben. Da möchte ich lieber niemanden provozieren. Die sitzen hier ja auch sechzehn Stunden lang. Ehrenamtlich, nur für ein Erfrischungsgeld. Quasi für Bockwürste.

„So, jetzt mal vorbeugen“, spricht mich nun der mittlere Wahlhelfer an.

„Vorbeugen?“

„Hallo? Sind sie Erstwähler? Oder sprech‘ ich Klingonisch? Was an ‚Vorbeugen‘ ist denn bitte so schwer zu verstehen?“ Der Wahlhelfer schüttelt den Kopf: „Bei Manchen fragt man sich schon, warum die wählen dürfen. Vielleicht sollte nicht das Alter entscheiden, sondern Intelligenz und Kooperationsbereitschaft … so … jetzt bücken Sie sich … weiter … ja, so, genau.“

Er erhebt sich von seinem Stuhl und begibt sich hinter mich. Ich beuge mich vornüber, bis ich mich mit den Unterarmen auf der Tischplatte abstützen kann, einer umfunktionierten Schulbank, was zusätzlich böse Erinnerungen weckt: an Machtlosigkeit gegenüber Autoritäten, an Angst und Scham. An Schule eben. In meinem Rücken höre ich nun ein markantes Quietschen, wie vom Überziehen eines Latexhandschuhs, und als nächstes spüre ich den Zeigefinger des Wahlhelfers im Enddarm. Das ist ein bisschen unangenehm, obwohl er vermutlich Gleitmittel benutzt – immerhin ist das hier die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus und kein Volksentscheid.

Nach nur wenigen Sekunden zieht er den Finger wieder heraus und ich darf mich aufrichten. „Die Prostata ist etwa wallnussgroß zu ertasten und unauffällig“, diktiert er der dritten Wahlhelferin links neben ihm, die seine Angaben notiert, bevor sie mich zu sich winkt, und mir drei Wahlscheine aushändigt. „Können sie sich vielleicht mal wieder anziehen?“ Sie klingt ungeduldig. „Das ist echt kein schöner Anblick. Und andere wollen auch noch wählen.“ Mittlerweile wedeln hinter mir zehn Leute mit den Wahlbenachrichtigungen. Ich brauche einfach zu lange.

Trotzdem versuche ich, mich lässig und ohne Hast anzuziehen. Sie sollen nicht merken, wie sehr sie mich gedemütigt haben. Den Triumph gönne ich ihnen nicht. Doch dann stolpere ich beim Versuch, in das linke Bein meiner Jeans zu steigen. Alle lachen. „Jeder nur ein Kreuz“, scherzt die Wahlhelferin nun plötzlich gut gelaunt. Eine der beiden Wahlkabinen wird frei. Für diese Wahl ist es mal wieder überstanden.

Dennoch hier einmal grundsätzlich: Ich will meinen staatsbürgerlichen Pflichten wirklich gerne nachkommen, aber ich finde die Wahlprozedur jedes Mal schlimmer. Manchmal denke ich auch, die dürfen das gar nicht. Und ich meine, ein klares Muster zu erkennen: Immer ist irgendeine Form von Entwürdigung im Spiel – das scheint für sie das Wichtigste zu sein – und das Wahllokal 107 ist in dieser Hinsicht eines der berüchtigtsten in der ganzen Stadt. Vor vier Jahren musste ich auf Zehenspitzen von acht bis achtzehn Uhr die Sesamstraßenmelodie singen – hinterher wunderte sich die Presse über die geringe Wahlbeteiligung. Bei einer Wahl zum Europaparlament – zu so was gehe ich seitdem echt nicht mehr hin – ließen sie mich durch einen, für meinen Geschmack auch viel zu hoch aufgehängten, brennenden Reifen springen, wobei ich mir üble Brandwunden zufügte. Und die Wahlhelfer haben nur gelacht.

Da fragt man sich schon, was wohl als nächstes kommt. Außerdem ist meiner Meinung nach jemand, der Freude darüber empfindet, dass ein Lebewesen Schmerzen erleidet, ob psychisch oder physisch, einfach kein guter Mensch. Ehrenamt hin oder her: So jemand dürfte eigentlich kein Wahlhelfer sein – die können einem das Wählen echt vergällen. Von daher wäre es vielleicht besser, ich wählte eine Partei, die dafür sorgt, dass das heute aber auch die letzte Wahl gewesen ist. Das Angebot an solchen Parteien wird ja zum Glück immer größer.

Wettstreit der Verweigerung

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Das wohl häufigste Plakat für die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus zeigt einen unscheinbaren Brillenträger mit dem Viertellächeln einer Mona Lisa. Neben dem Gesicht steht, „Michael Müller“, sonst nichts. Das hinterlässt Ratlosigkeit: Wer ist dieser Müller und was will er uns sagen? Manche munkeln, hinter Namen und Erscheinung verberge sich der aktuelle Bürgermeister – doch nichts genaues wisse man nicht. Andere kontern gleich mit einer Gegenfrage: „Was ist denn eigentlich mit diesem Wowereit? Von dem hört man irgendwie gar nichts mehr.“

Somit wäre es tatsächlich sinnvoll, den Mann einmal über Insiderkreise hinaus bekanntzumachen. Am besten in einfachen, klar verständlichen Sätzen: „Das ist Michael Müller. Herr Müller ist der Regierende Bürgermeister von Berlin. Er möchte Wohnungen bauen/Den ÖPNV fördern/Den totalen Krieg/Weeß icke.“ Was Politiker normalerweise eben so versprechen.

Doch bis auf wenige Ausnahmen wird in diesem Jahr auf Aussagen verzichtet. Parteiübergreifend und mehr sogar noch als bei früheren Wahlen. Der FDP-Spitzenkandidat Sebastian Czaja funkelt in einen Nimbus aus psychedelischen Farbexplosionen getaucht, doch nach enigmatischen Gesichtspunkten toppt der Text selbst noch die Optik dieses Horrortrips: „Plan B. Zeit für das nächste Berlin.“ Gruselfaktor: Eins. Information: Sechs. Plan: Null. „Frank Henkel für Berlin“, tut es wiederum der CDU-Chef Henkel jenem ominösen Müller gleich und verzichtet auf jedes weitere Wort. Gar nicht dumm, denn die Geschichte lehrt, dass die Namen der Bösen noch wie Wespenhonig im Gedächtnis kleben, wenn die der Guten längst vergessen sind. „Freilandhaltung auch für Großstadtmenschen“, fordern vollkommen suspekt die Grünen und werden doch von anderen unterboten: „Berlin kann mehr.“ Was? „Starkes Berlin.“ Warum? „Berlin bleibt weltoffen.“ Warum nicht? „Berlin bleibt gradlinig.“ Wie? „Berlin ist Blablabla“ – die Straßen der Stadt sind dieser Tage ein verwunschener Zauberwald: Eisernen Bäumen des Irrsinns gleich raunen die Laternen dem Wanderer kryptische Botschaften zu, wie um ihn in die Sümpfe zu locken, wo er vor Durst und geistiger Umnachtung elendiglich zugrunde geht. Zumindest aber wird er nicht wissen, wo er sein Kreuz zu machen hat.

Produktwerbung sieht anders aus. Zeigen wir das mal beispielhaft an den beiden, von uns nur zu diesem Zweck erfundenen, Waschmittelmarken Aprilfrisch und Maienduft. Um sich auf dem Markt durchzusetzen, würde jede der konkurrierenden Firmen versuchen, sich von der jeweils anderen abzuheben, indem sie ihr gesamtes Arsenal an Alleinstellungsmerkmalen, Vorzügen, Argumenten und Scheinargumenten auffährt. Aprilfrisch würde auf seinem Plakat prahlen, „Wäscht besonders weiß“, oder ,„Ist total umweltschonend“, Maienduft mit praktischen Vorzügen kontern: „Im Sparkarton mit hartem Henkel.“ So geht Werbung.

Die Parteien interessiert das herzlich wenig. „Kauf mich eben oder lass es bleiben, Fucker“, ist ihre dem Bürger verächtlich vor die Füße gerotzte Botschaft. Nur, um diese Frechheit zu verbreiten, haben sie auch noch tausend Bäume totgemacht, selbst die Grünen. Weil man das eben immer so gemacht hat: Wahlkampf, Plakate, Wahl. Das Geld ist nun mal da – soll man das jetzt etwa den Armen schenken oder anderweitig verbrennen? Es ist, als gäbe es in der Hauptstadt nichts zu sagen. Keine Pläne. Keine Hoffnung. Keine Wünsche. Keine Zukunft. Kein Gott. Kein Staat. Keine Arbeit …

Die Parteien verweigern durch die Bank die Aussage, als stünden sie vor dem Ankläger – und damit haben sie vermutlich gar nicht mal so unrecht. Daher möchte man eigentlich nichts sagen, sich bedeckt halten, Pokerface bewahren. Nach der Wahl wird man das ändern, eventuell, vielleicht.

Offenbar zieht sich Berlin nun wieder in die erbarmungswürdige Nische zurück, aus der es vor nicht mal dreißig Jahren zurück ans Licht der Welt gekrochen kam: die eine Hälfte ein pathetisch aufgeblasenes Provinzkaff voller trunk- und drogensüchtiger Schmarotzer am Tropf der BRD – die wichtigsten Themen waren zu gleichen Teilen, welche Politiker ein Bordellbetreiber namens Otto Schwanz bestach und welches prominente Zootier gerade Geburtstag hatte; die andere Hälfte ein postapokalyptisches Riesengefängnis aus Trümmerhäusern, zwischen denen graugesichtige Zombies herumschlurften und sich gegenseitig verpfiffen, ähnlich wie wir es aus John Carpenter’s dystopischem Film „Die Klapperschlange“ kennen.

Die freiwillige Selbstdemontage erlebt ausgerechnet dort ihren Tiefpunkt, wo noch rudimentäre Inhalte transportiert werden: So in den kurzen Wahlspots der Grünen Neukölln, in denen „Karl und Nina“, zwei blutleere Hybride aus Hipstern und Theologiestudenten, ihre mahnenden Zeigefinger schonungslos in winzigkleine Wunden legen: Es gibt nicht genügend Fahrradbügel, an die man sein Rad anschließen kann. Der Landwehrkanal ist schmutzig und der Bus M41 oft verspätet. Wenn sie kiffen wollen, meckert der Schutzmann – laut Karl und Nina ein „Ganja-Hater“ – den Ausdruck hätte meine Oma selig ohne Zögern „flott“ genannt. Die Radwege sind zu holprig. Aus dem Sauerland, wo Nina herkommt (und wohin sie zu ihrem eigenen Besten hoffentlich bald zurückgeht), ist sie „makellose Straßenbeläge gewohnt.“ Diese Vergartenzwergisierung politischer Themen ist fast schlimmer als die Leere der Plakataussagen. In die könnte man mithilfe von ein wenig Ganja immerhin noch ein Lot Brisanz hinein phantasieren.

Wie kann es sein, dass in Berlin sogar die Müllabfuhr – „Eimer für alle“ – mit Leichtigkeit schafft, woran die Parteien in schon stalingradeskem Ausmaß scheitern: eine Imagekampagne entwickeln zu lassen, die zugleich zeitgemäß, charmant und informativ wirkt. Und neben der Stadtreinigung BSR gelingt dasselbe auch den Berliner Verkehrsbetrieben BVG: „Nicht mal deine Mudda holt dich morgens um 4:30 Uhr ab.“ Was mögen sich die in den Wahlkampf involvierten Agenturen bloß dabei gedacht haben?

Auf der Suche nach den Gründen nähert sich wie ein scheues, kleines Tier die Erkenntnis, schnuppert sichtlich angewidert an den Zusammenhängen und schlägt dann doch entschlossen ihre spitzen Zähnchen hinein: Die Parteien wollen gar nicht gewählt werden. Nach einer Analyse des kargen Restinhalts, der sich aus der Gesamtheit der Plakate extrahieren lässt, dürfte es in den Köpfen des politischen Berlins nämlich wie ein Blitz eingeschlagen haben: O Mann, Alter, diese Stadt scheint ja ganz schöne Probleme zu haben. Stell dir vor, du musst diesen zerschlissenen Sack voll bunter Flöhe regieren – das ist doch Last Exit Arschkartenhausen: Keine Kohle weit und breit, niemand weiß, wer der Bürgermeister ist, und überall fehlen Flughäfen und Fahrradbügel. Wer um Gottes Willen sollte sich so etwas ans Bein binden? Da hast du erst mal vier Jahre lang null Fun und hinterher meckern trotzdem wieder alle rum.

So schiebt man den schwarzen Peter lieber weiter und fährt eine gezielte Strategie der Abschreckung. „Kauft mich nicht! Wer mit Aprilfrisch wäscht, pult hinterher stinkende Stoffreste aus der Trommel“, warnen die einen. „Pfoten weg von Maienduft! Leichtentzündlich! Hochtoxisch! Antisemitisch! Radioaktiv!“, kreischt die Konkurrenz in Panik, da ihr die zum Greifen nahe Niederlage von den Aprilfrisch-Arschgeigen entrissen zu werden droht. Denn natürlich liegt hier kein Versagen der beauftragten Werbeagenturen vor, sondern vorzügliche Arbeit. Die am Ende aber doch nichts bringt, da alle Beteiligten derart großartige Negativergebnisse geliefert haben, dass die sich am Ende gegenseitig aufheben werden in ihrem Wettstreit der Verweigerung.

Selbst Fliegen ist schöner

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Der Neubau der Bahnstrecke Berlin-München ist fertiggestellt. Nach einer Erprobungsphase verkürzt sich ab Dezember 2017 die Fahrtzeit auf vier Stunden. Im Thüringer Wald fährt man dann durch insgesamt 22 neue Tunnel bei einer Reisegeschwindigkeit von bis zu 300 km/h. Mit zehn Milliarden Euro kostet das überflüssige Projekt doppelt so viel wie zuvor veranschlagt.

Warum aber überflüssig? Nun, ganz einfach – die Baumaßnahmen berauben die Kunden der typischen Vorteile einer Bahnreise: Fahrkomfort, Stressfreiheit, das meditative Vorbeigleiten der Landschaft, das Baumeln der Seele, der Weg als Ziel.

Besonders mein Verhältnis zu hohen Geschwindigkeiten ist mit den Jahren problematischer geworden. Früher war das noch ganz anders. Auto, Rollschuh, Ski – stets fuhr ich so schnell wie möglich und nicht selten schneller als es meinen Fähigkeiten entsprach. Auf dem Fahrrad suchte und fand ich jede noch so kleine Lücke, die das schwindende Reaktionsvermögen nun für alle Zeit geschlossen hat. Ich kann auch nicht mehr so schnell laufen.

Auch die vielen Tunnel machen mir Angst. Wenn ich einer lebenden Rohrpost gleich mit einem Affenzahn durch zig Kilometer lange Röhren katapultiert werde, fühle ich mich wie ein Kätzchen, das aus Neugier mit der Schmutzwäsche in die Waschmaschine geraten ist und nun im Schleudergang verzweifelt aus der Trommel winkt. Doch dort draußen winkt nur mein unglückliches Spiegelbild im Wagenfenster zurück.

Ich komme mir überhaupt immer öfter vor wie ein Kätzchen, wenngleich wie ein sehr altes Kätzchen, das längst auf Neugier pfeift. In meinen Augen ist Neugier ebenso wie Lebensmut nur ein selbstzerstörisches Lifestyle-Tool aus dem Mindset hysterischer Lebensanfänger unter vierzig. Ich bin nun der Prototyp des klassischen Bahnfahrers: ängstlich, unflexibel und langsam. Man muss Zugreisende nur mal dabei beobachten, wie sie, von der Komplexität des modernen Lebens – die Technik! Das Wetter! Die Ausländer! – überfordert, ihre (aus Angst natürlich reservierten!) Plätze suchen. Denn seit fünfundzwanzig Jahren stehen die Reservierungen neuerdings auf Displays und nicht mehr auf Papierstreifen. Das ist Hexenwerk. Wie soll das gehen?

Das ist doch alles kein Reisen mehr, das ist ein liebloser Schnelltransport, ausgeführt von der Spedition Rumms & Zackig. Von Berlin nach München oder zum Mond oder zur Hölle – das ist für den Reisenden nun eins. Das geht nicht nur für den Körper viel zu schnell, sondern erst recht für die Seele. Laut einer indianischen Weisheit muss der Körper auf Reisen regelmäßig rasten, damit die Seele Zeit bekommt, ihn wieder einzuholen. Allzu rasante Verkehrsmittel verbieten sich somit von selbst.

Nun gibt es ja unendlich viele dieser angeblichen indianischen Weisheiten, wie zum Beispiel die mit den Bäumen, die man nicht essen kann … rhabarber tüdelüt. Entgegen der von Karl May verbreiteten Schwachsinnslegende von der Schweigsamkeit des edlen Wilden, quatschen die Indianer nämlich ziemlich viel, wenn der Tag lang ist. Und der Tag bei Indianers ist nun mal verdammt lang: Perspektivlosigkeit, Alkoholismus, Gewalt – ein voller Stundenplan (once again merci beaucoup, Monsieur Trudeau!). Dazu noch das Erstellen immer neuer Weisheiten im Akkord, damit der Weiße Idiot stets frische Munition für esoterische Facebook-posts bekommt. Doch der Bedarf ist derart groß, dass darüber hinaus noch zahlreiche Imitate auftauchen. Die Unterscheidung zwischen Original und Fälschung ist oft schwierig. Ein Beispiel gefällig? „Scheißt Bruder Bär in den Wald, feiert Schwester Fliege ein Fest.“ Klingt täuschend echt, ist aber Made in Taiwan. Hätte man nicht gedacht, oder?

Aber die Weisheit mit dem Reisetempolimit für die Seele ist wirklich wahr, ich schwör. Ich hab das schließlich selber mal probiert. Auf der Strecke Köln-Frankfurt gibt es nämlich schon lange viele Tunnel und zum Teil auch Tempo Dreihundert. Und, was soll ich sagen, es stimmt. Alles. Kätzchen, Waschmaschine, Seele weg. Den Verlust der Seele merkt man ja zunächst gar nicht. Doch dann wird es auf einmal von innen heraus immer kälter. Man grüßt nicht mehr im Treppenhaus. Alles ist einem egal. Man rast mit dem Rad rücksichtslos über den Bürgersteig und drängelt sich in der Schlange vorm Eisladen vor. Mit weiterem Fortschreiten des Seelenverlusts quellen einem schwarzer Rauch und obszöne Flüche aus dem Mund. Da kann ich auch gleich fliegen.

Bei vergleichbarer Geschwindigkeit sind wenigstens keine Hindernisse zu erwarten, solange bei Skyguide keiner pennt. Vor den Hochgeschwindigkeitszügen braucht doch nur ein etwas dickeres Gummibärchen auf den Schienen zu liegen und schon bleibt kein Auge trocken. In den Tunneln grasen Schafe wie putzige, weiße Geister des Todes. Hat man hingegen den Abendflug bei Easy Jet gebucht, kann man seine Seele oft sogar in aller Ruhe vorschicken, während man zusammen mit hundertfünfzig Leidensgenossen in einem gesichtslosen Airport Hotel je zwei trockene Sandwichs zum Nachtessen mümmelt, das Verzweiflungsbier zum Runterspülen des Esszements dürfen wir selbst bezahlen.

Wo ist es hin, das gründlich erfahrbare Erlebnis einer Zugreise, für das man in Zukunft mindestens bis in die Ukraine ausweichen muss? Damals, die Strecke München-Hamburg, die Interzonenzüge der Reichsbahn, München-Berlin, Berlin-Hoek van Holland – jede Fahrt dauerte mindestens zehn Stunden, im Grunde egal, wohin man fuhr. Es war, so paradox das klingen mag, Entschleunigung durch Fortbewegung. Die Gardinen knatterten im Fahrtwind, während man den Kopf aus dem offenen Abteilfenster des D-Zugs hielt. É pericoloso sporgersi; do not lean out; ne pas se pencher au dehors; nur den deutschen Wortlaut habe ich vergessen – zehn Stunden lang studierte das Kind die ihm fremden Worte, lernte sie sinnlos auswendig, während ihm der Sommer den Geruch der Felder, der schmorenden Bremsen und der einfach durch ein Loch auf die Gleise plumpsenden Fäkalien in die Nase blies, denn so roch Reisen.

Später nahm ich oft den Nachtzug. Der stand am Abend zunächst stundenlang am Bahnsteig wie um sich zu sammeln. Erst nach Einbruch der Dunkelheit setzte er sich ganz langsam in Bewegung. Wir waren zu zweit im Abteil – ich war 17 und sogar unbedarfter noch als heute, die Fremde vielleicht 19. Man konnte die einander jeweils gegenüberliegenden Sitze so weit herunterklappen und nach vorne schieben, dass man darauf einigermaßen liegen konnte. Die Gardine zum Gang hin war geschlossen, von draußen funzelten diffuse Lichtreste herein. Es war heiß. Sie blickte mir unverwandt in die Augen, während sie sich im Liegen unter den Rock griff und in lasziver Reisegeschwindigkeit die Strumpfhose auszog.