Nachtrag zu Ostern


Die ungläubig-angewiderten Blicke, die einen treffen, wenn man erklärt, dass einem der Besuch der Heiligen Messe wichtiger ist.

Endlich. Für dieses Jahr haben wir das Osterfest mal wieder überstanden. Doch wegen des Tanzverbots am Karfreitag kann ich mich noch immer nicht beruhigen. Denn ich tanze normalerweise jeden Tag – morgens, mittags, abends, nachts. Ein Tag ohne Tanz ist wie ein Hund ohne Schwanz. Wenn ich nicht tanzen kann, bin ich entsetzlich unausgeglichen. Dann kann es passieren, dass mir verstärkt zwischenmenschliche Fehler unterlaufen wie Ungeduld, Ungerechtigkeit oder spontanes Einkoten. Wer mich kennt, weiß: Der Tanz ist mein Lebenselixier.

Doch eine Minderheit gläubiger Christen hält die Mehrheit in spaßfreier Geiselhaft, und beeinflusst seit Jahr und Tag auf anachronistischste Weise die irdische Gesetzgebung, als hätten fundamentale Bundesayatollahs die Christliche Republik Deutschland ausgerufen.

Dabei ist Deutschland eigentlich ein säkulares Land. „Es gibt keine Staatskirche“, steht in Artikel 140 des Grundgesetzes. Aber scheiß auf die Verfassung, so lange Gläubige davon beleidigt werden könnten, dass in irgendeinem Tanzlokal noch Licht brennt.

Mein schwelender Zorn über diesen Rechtsbruch ist sicher auch der Grund, warum Tobias Haberl, bei der SZoffenbar zuständig für kulturkonservative Ansätze, für mich ein rotes Tuch ist. Ein Eigenleben innerhalb des Hauses ist ja typisch Feuilleton. Und wo sich die reaktionäre NZZ exotische Abweichler leistet, deren Wirken im Gegensatz zur sonstigen Blattlinie nicht vor Niedertracht strotzt, bietet analog die linksliberale SZ einen Flügelstürmer auf, der hier unermüdlich die rechte Seitenlinie beackert.

So einer ist Haberl. Der Autor der Maskulinistenfibel „Der gekränkte Mann“, bei deren Lektüre der Rezensent der FAZ das Bedürfnis verspürte, es „gegen die Wand zu hauen“, serviert uns pünktlich zum Gründonnerstag im SZ-Magazin die Frömmigkeitsgeschichte „Unter Heiden“, die sich großenteils damit befasst, wie ernsthaft und spirituell er selbst drauf ist, und wie behämmert, oberflächlich und verderbt im Vergleich alle anderen sind, die nicht an zweitausend Jahre alte Gespensterwesen glauben.

Mit ähnlich lautenden Worten muss ihn wohl mal irgendjemand provoziert haben. Nun zieht er gegen den altbösen Feind ordentlich vom Leder: „Ich meine die ungläubig-angewiderten Blicke, die einen treffen, wenn man erklärt, dass man am Sonntagvormittag leider nicht in dieses neue Café zum Frühstücken kommen kann, weil einem der Besuch der Heiligen Messe wichtiger ist.“

Die haben bestimmt einfach nur ganz normal geguckt. Aber wo die Unsicherheit gedeiht, treibt der Interpretationsdrang bunte Blüten: Der gekränkte Mann, der gekränkte Christ, die gekränkte Leberwurst – beim Lesen dudelt in meinem Kopf in Endlosschleife „By the Rivers of Mimimi“, frei nach Boney M. Meine Güte, ich wurde doch selber provoziert: Ich durfte nicht tanzen. Und trotzdem bleibe ich superfair und bewahre hier die absolute Ruhe.

Dasselbe denkt er vermutlich auch von sich: Ich werfe 50 Cent in den Opferstock, zünde eine Kerze an, bete, denke nach, betrachte eine Heiligenstatue, um dann wundersam erfrischt nach draußen zu treten, in den Verkehr und den Stress – was man halt so Freiheit nennt.“

Ja, klar, geilo Abgase und Krach, so kennt man ihn, den crazy Atheisten und seinen Freiheitsbegriff aus der Hölle; da geht ihm natürlich einer ab, wie einem Fünfzehnjährigen bei der Bühnenshow von Rammstein. Wie vollumfänglich manche Gläubige eine realistische Vorstellung vom Mindset Nichtgläubiger eingebüßt haben, hätte ich nicht für möglich gehalten.

Bereits früh im Text rutscht Haberl auf der vergammelten „Früher-war-alles-besser“-Bananenschale aus, gerät schwer ins Schlingern, und kommt danach nie mehr so recht ins Gleichgewicht: Erst dann fällt mir wieder ein, dass es für viele Menschen heute wenig Schlimmeres gibt als Stille, die Abwesenheit von Whatsapp- und Push-Nachrichten, weil dann Fragen auftauchen, deren Antwort sie nicht googeln können.“

Das will ich überprüfen. Also google ich „Ist Tobias Haberl blöd?“ und stoße schon an zweiter Stelle auf Florentin Schuhmachers erwähnte Besprechung von „Der gekränkte Mann“. Nach wenigen Zeilen verstehe ich immerhin, warum Haberl nicht möchte, dass die Leute googeln. Geht doch: kurze Frage, schnelle Antwort. Wie eine Push-Nachricht des Herrn.

Und weiter unkt, barmt, mahnt und heult es seitenlang in der immergleichen Melodie: Technologie, Satan, Instagram, Finstagram, buhu, schluchz …: „Viele Menschen strömen nicht mehr in die Kirchen, sondern in Apple-Stores, sie wollen keine frohe Botschaft, sie wollen das neue Smartphone.“

Die angebliche Unversöhnlichkeit von moderner Technik auf der einen, und tiefem, gottgegebenen Verständnis für das Leben auf der anderen Seite, ist das ständig wiederkehrende Hauptmotiv, ein ununterbrochenes, nervtötendes Hintergrundrauschen wie von einer sehr alten Autobahn. Computer sind doof. Wer Social Media nutzt, lügt. Früher war mehr Lametta.

Außerdem ist, wenig überraschend, Gott anscheinend rechts, und der Teufel links: „Da versucht man, ein guter Mensch zu sein – und, schwups, ist man ein fragwürdiger Rechtsausleger, und alles nur, weil man Barmherzigkeit und Nächsten­liebe schlüssiger findet als zur Schau gestellte Moral, weil man sich nicht permanent vor der Twitter-Gemeinde, sondern am jüngsten Tag vor seinem Schöpfer rechtfertigen will, der nicht nur die Timeline, sondern auch das Verborgene sieht.“

Ach ja, Twitter ist ebenfalls scheiße, wie sonst nur Onanie und freitäglicher Fleischverzehr. Die moralische Selbstüberhöhung des schreibenden Märtyrers geht einem extrem auf den Zeiger. Er ist ein Ausbund an menschlicher Reife und Achtsamkeit; hingegen sind die Ungläubigen dekadente, aufmerksamkeitstechnisch scheintote Clowns, in deren Kopf in einem fort nur bunter Wackelpudding blubbert. Oder noch kürzer: Ich: toll. Die anderen: doof. Das hätte als Analyse komplett gereicht, zugegeben, aber ich bin, sorry, jetzt doch ein bisschen ins Labern gekommen.

Zum Glück bin ich ja nicht der einzige, der sich hier andauernd wiederholt:„… weil ich weiß, wie leichtgläubig sie sonst sind, wenn man ihnen weismacht, dass ihr Glück in digitalen Tools liegt … blabla, rausch, brumm …dass unsere Fixierung auf Rationalität und Technologie eine schmerzliche Lücke aufweist, weil Google jede Frage beantworten kann – nur nicht, wozu wir leben und was uns Halt gibt.“

Gähn, schnarch, und schon wieder Google. Mit denen hat er es ja wirklich, als hätten sie den Heiland mit Google Cross gekreuzigt. Nun, Herr Haberl, versuchen Sie es doch mal mit einer anderen Suchmaschine. Vielleicht kommt dann das gewünschte Ergebnis, dass nämlich – lasst mich raten – der Herr Jesus für unsere Sünden gestorben ist. Seitdem kehrt er jedes Jahr in Hasengestalt zu uns zurück, und versteckt mit Likör gefüllte Eier im Garten. Was für ein Heidenspaß. Warum uns die Jünger des spendablen Nagers das Tanzen verbieten, ist mir allerdings nach wie vor schleierhaft.

Gasmuttering

Woher kommt das bloß, warum bin ich eigentlich so ein Arschloch?

Im Laden entdecke ich vor der Reihe mit den Kühlregalen, da, wo sich die Fischprodukte befinden, eine Person, die in Kürze einen schlimmen Fehler begehen wird. Dessen bin ich mir sicher. Sofort werde ich ziemlich fuchsig.

Ich postiere mich hinter ihr, leicht genervte Ungeduld ausstrahlend. Sie muss denken, dass ich genau an dieser Stelle auch ans Sortiment will, sie im Weg ist, und sich besser beeilen sollte. Wahrscheinlich deshalb lässt sie nach einem hastigen Griff ins Kühlregal die Schiebetür sperrangelweit offen.

Jetzt habe ich sie! Ich blicke sie, die sich im Weggehen etwas verunsichert nach mir umdreht, böse und traurig an. Atme dabei verächtlich aus. Geh nur, sage ich damit, gesellschaftskonformes Benehmen ist leider nicht Allen gegeben. Ich bin der personifizierte Vorwurf.

Sie nicht aus den Augen lassend, schiebe ich – peng! – mit ostentativem Schwung die Tür zum Kühlregal zu. Seufze dabei noch einmal, menschlich zutiefst enttäuscht. Irgendwer muss das ja machen, soll das heißen. Irgendjemand muss schließlich die Fehler der Asis ausbügeln, und die von den Rücksichtslosen hinterlassene, verbrannte Erde mühsam mit den Pflänzchen zivilisierten Verhaltens wieder aufforsten.

Denn wenn die Waren – und ganz besonders der Fisch! – zu warm werden, entstehen darin Gifte. Daran können Menschen sterben, Kinder, wehrlose unschuldige kleine Kinder. Aber das ist Leuten wie ihr ganz offensichtlich scheißegal.

Ich spüre, wie ich immer wütender werde, je länger ich darüber nachdenke: Die Alte hat doch einen Knall! Ist die im Iglu aufgewachsen? Die kann froh sein, wenn ich ihr nicht hinterherrenne, sie am Kragen packe, schüttle und anschreie. Hau bloß ab. Ja, du, genau du.

Tatsächlich wollte ich selber Fisch kaufen. So ein Zufall. Aber das kann sie ja gar nicht wissen. Sie hat einfach nur die Kühlung offen gelassen – meine Meinung. Andernfalls hätte sie sich zumindest vergewissern müssen, mich fragen oder so, ob ich da wirklich dran wollte. Das wäre nun mal ihre Bürgerpflicht gewesen. So zählt das nicht. Dumme Sau.

Ich kann jetzt natürlich nicht direkt vor ihren Augen die Tür wieder aufschieben, und mir die gewünschte Ware nehmen. Nicht, solange sie noch in der Nähe ist, und die Gefahr besteht, dass sie mich dabei sieht. Ich darf nicht unvorsichtig werden. Das nähme mir komplett den Triumph. Meine ganze Belehrungsarbeit wäre mit einem Schlag zunichte gemacht, und mein Ruf als altruistischer und verantwortungsvoller Ordnungsmensch ruiniert. Meine Einkaufsliste ist ohnehin noch länger. Dann komme ich eben nach ein paar Runden durch die anderen Regalreihen wieder.

Während ich im Nudelgang Zeit schinde, beruhige ich mich ein wenig. Man könnte sogar sagen, ich reflektiere meine Niedertracht: Ständig muss ich geradezu zwanghaft fremde Menschen für ihre angeblichen Fehler im Nörgelton zurechtweisen – eine Vorliebe, die ich als „Gasmuttering“ bezeichne, ein Mix aus Gaslighting und Muttering. Stets sollen andere Leute denken, dass sie irgendetwas falsch gemacht haben. Das macht mich dann immerhin ein kleines bisschen glücklich.

Woher kommt das bloß, warum bin ich eigentlich so ein Arschloch? Ich habe keine Ahnung. Es ist wie ein unaufhaltsamer Sog in ein schwarzes Loch hinein, das meine Seele ist. Derselbe dunkle Trieb, der einen nachts besoffen zu McDonald’s zieht, oder in anderweitige Eskapaden der bescheuerten Art hinein, wie sie in meiner Jugend, also bis etwa Mitte 40, fast die Regel waren. Da hat Mister Hyde den Dr. Jekyll aber manchmal so richtig gefickt. Im Vergleich dazu empfinde ich den Blockwart-Spleen noch als harmlos.