Serotonin in der Südsee

p1100268

Normalerweise bin ich ja für meine Fröhlichkeit berühmt. Mord, Totschlag, Kacke am Schuh: Egal, was passiert, ich habe immer gute Laune. Natürlich eckt man damit bei den Sauertöpfen, die mir meine Einstellung insgeheim neiden, auch mal an. So wurde ich, als ich neulich über einen in der Tat saulustig aussehenden Sturz eines Radfahrers auf feuchtem Laub lauthals lachen musste, von spröden Spaßbremsen in Sanitäteruniform gefragt, was ich denn da um Gottes Willen täte. Meine Antwort war ganz einfach: „Ich freue mich. Wie immer.“

Doch irgendwas in mir ist nun zerbrochen. Das Wetter hat mich kleingekriegt, zusammen mit seinem bösen großen Bruder, der Jahreszeit und dessen Führungsoffizier, der Zeitumstellung. Das einzig Gute an der Winterzeit ist, dass man früher anfangen darf zu trinken, weil es früher dunkel wird. Das ist meine letzte kleine Freude. Ansonsten habe ich keine Lust auf gar nichts. Also noch nicht mal so richtig fett Bock auf endlich mal volle Pulle gar nichts, sondern sogar auf gar nichts habe ich überhaupt keine Lust. Wie diese „Gegenstände, die aussehen wie ein Gesicht“, die ständig gepostet werden – Häuser, Schränke, Stromkästen, Klappsitze – starre ich leer vor mich hin. Absolute Antriebsschwäche, vollkommene Unfähigkeit zu arbeiten. Die ersten paar Wochen klingelt noch das Telefon, mit der Zeit dann immer seltener, bis es schließlich verstummt.

Jetzt könnte man eigentlich denken, macht doch nichts und ist doch super, weil ich ja zum Glück auch überhaupt nichts machen muss, da schließlich sowieso alles keinen Zweck hat. Das ist Freiheit. Keiner will mehr was von mir, keiner hat noch irgendwelche Erwartungen an meine Person (welche „Person“ überhaupt?). Da könnte ich mich doch ganz bequem in den weichen Sessel der Erfolglosigkeit zurücklehnen und aufs prächtigste gehenlassen. Wenn nur diese saudämliche, präsuizidale Grundstimmung nicht wäre. Die nervt. Wenn ich in den Spiegel blicke, sehe ich statt der üblichen verschmitzten Pausbäckchen nur eine aschfahle Fratze, die lautlos vor sich hin winselt.

Bereits der Oktober hatte die wenigsten Sonnenstunden seit 1974, der November hat nun gar keine mehr. Kein Mensch weiß mehr wie die Sonne aussieht. Bei ihrem Anblick würden die Leute inzwischen wahrscheinlich vor Panik schreiend in die Häuser rennen und sich im Keller verbarrikadieren. Weil sie denken, ein Komet stürzt auf die Erde oder Donald Trump gibt seinen Einstand mit einem zünftigen Atomkrieg. Nein, wer in dieses Land flieht, muss wirklich einen verdammt triftigen Grund haben. Das sollten wir nie vergessen.

Was ist nur mit mir los? Als ich mit letzter Kraft die Begriffe „Verderben“, „Wahnsinn“, „Depression“ und „Scheiße“ eingebe, stoße ich auf das sogenannte Glückshormon Serotonin, das für Ausgeglichenheit, erholsamen Schlaf und Lebensfreude sorgen soll. Ob es das ist? Aber ausgeglichen bin ich ja. Sehr sogar: immer gleichmäßig niedergeschlagen. Doch spätestens als ich den Menschenauflauf unter meinem Balkon bemerke, von dem ich seit zwei Stunden, nur mit einem dünnen, grauen Hemdchen angetan, klagend herunter rufe, „oje, oje, bald kommt der erste Schnee, dann tut es noch mehr weh“, wie sie mich mit gezückten Smartphones filmen und „spring doch“ rufen, muss ich mir selber zugestehen, dass es zumindest mit der Lebensfreude wohl nicht so wahnsinnig weit her sein kann.

Im Netz finden sich Ratschläge, wie man den speziell im Winter oft zu niedrigen Spiegel des komischen Kasper-Hormons wieder erhöht. So könnte man gemäß der Quacksalbertipps zum Beispiel auch einfach mehr Gemüse essen, aber davon werde ich persönlich gleich noch viel trauriger. Eine Mahlzeit, für die keine Tiere unter möglichst großen Qualen gestorben sind, macht keinen Spaß. Das wäre ja wie ein Spaziergang, bei dem man nicht Zeuge wenigstens eines Autounfalls wird, am besten mit Verletzten.

Eine realistischere Lösung ist jedenfalls eine Tageslichtlampe. Die soll die Stimmung aufhellen, was mir logisch erscheint. Lampe, Licht, hell. Ich bestelle mir eine bei den Schweinen von Amazon (klingt fast wie der Titel eines Fantasy-Films: „Die Schweine von Amazon“), das geht am schnellsten und es ist nun mal ein Notfall. Wenn der noch schneller liefern würde, hätte ich die Lampe sogar bei Assad bestellt, oder sie einer armen Oma aus den ersterbenden Händen gerissen.

Mit müdem Gesicht packe ich die Lampe aus und stelle sie auf den Schreibtisch. Ich schalte sie an und warte darauf, dass die Traurigkeit verschwindet. Ich merke nichts. Ich warte noch länger. Murmle kurz „Heißa“, um die nun doch hoffentlich bald einsetzende Wirkung autosuggestiv zu unterstützen, wie mit einem Wehenmittel eine schwere Geburt. Oder eine Abtreibung. Passt hier vielleicht besser. Und bald beginnt auch noch der Karneval. Helau.

Grün. Grüner. Deutsche Bahn

P1090814.JPG

Weder Ameisen noch Zauneidechsen halten die Bauleute auf. Beide sind umgesiedelt. So kommt der Ausbau der Bahnstrecke zwischen Berlin und Dresden voran“, schreibt der Tagesspiegel. Der Leser beginnt zu ahnen, warum es mit der seit den neunziger Jahren geplanten neuen Strecke nur sehr langsam vorangeht, aber auch, dass das schwerste Stück des Wegs damit geschafft sein dürfte. Der Rest ist ein Klacks. In zehn Jahren wird die tippitoppi Sausewindverbindung zwischen der Hauptstadt des notorischen Nörgelns und der Metropole der dümmlichen Feindseligkeit fertig sein.

Die Zauneidechsen sind längst in ihrer neuen Heimat und dem Vernehmen nach nicht unzufrieden – zumindest hört man keine Klagen. Da sie sich im Schotter der Gleisanlagen äußerst wohl fühlen, hat die Deutsche Bahn schon vor Jahren provisorisch mehrere Nebenstrecken für sie stillgelegt. Diese Großzügigkeit und Weitsicht zahlt sich nun aus, denn dort finden sich jetzt ideale Habitate für umgesiedelte Reptilien.

Doch mit den roten und gelben Waldameisen war das Verfahren komplizierter. Sie sind klein, sie sind viele und sie sind äußerst anspruchsvoll. Erst dieser Tage sind die letzten Umzugswagen mit Ameisen, die die Umsiedlung zunächst verweigert und zum Teil sogar mit Selbstmord gedroht hatten, unterwegs. Erst nachdem man ihnen zugesichert hatte, mithilfe chinesischer Experten in der Nähe von Blankenburg maßstabsgetreue und bis in die letzten Details der Inneneinrichtung (Klodeckel, Nachttischschränkchen) identische Ersatzhaufen zu errichten, gaben die letzten ihren Widerstand auf. Nur die Klagen zweier hochbetagter Ameisendamen laufen noch. Sollte ihnen stattgegeben werden, müssen sämtliche Schienen wieder entfernt und die frisch errichteten Bahndämme gesprengt werden. Dann bliebe für die Reisenden in Zukunft nur noch der Bus.

Die Bahn spielt hier offenbar auf Zeit und hofft auf ein baldiges Ableben der Klägerinnen. Selbstverständlich hat der Naturschutzbund Deutschland rund um die Uhr mehrere Mitarbeiter mit der Bewachung der beiden Insekten betraut. Denn der Argwohn der Naturschützer ist groß. Sie scheinen der Deutschen Bahn alles zuzutrauen, sogar Mord. Es muss ja nicht wie ein Verbrechen aussehen: Oft genügt es, die Tiere heftig zu erschrecken, indem man direkt neben ihnen mit dem Fuß aufstampft oder auf ihren Bau pinkelt, und schon hätte man freie Bahn. Gegen Geld lassen sich für jeden noch so schmutzigen Job halbseidene Halunken finden, die diesen gern und skrupellos erledigen. Menschliche Mieter in begehrten Innenstadtlagen können von solch mafiösen Methoden längst ein Lied mit vielen hässlichen Strophen singen.

Nicht zu vernachlässigen ist auch bei kooperativen Ameisen die Schwierigkeit, sämtliche Individuen zu lokalisieren und zu informieren, ehe überhaupt an Verhandlungen und Umzug gedacht werden konnte. Denn Ameisen sind nun mal sehr klein und oftmals schwer zu finden. Sie wuseln durcheinander, nicht selten auch noch unter der Erde, und sehen einander für das grobe menschliche Auge obendrein sehr ähnlich. Das bedeutet, dass alle an den Füßen verschiedenfarbig beringt werden mussten, um wenigstens ansatzweise den Überblick zu wahren. Erst anschließend konnten sie mitsamt persönlicher Habe zu den Sammelplätzen gebracht werden, von wo aus schließlich der Transport in die neue Heimat erfolgte.

Daher waren zehntausende freiwillige und auch bezahlte Helfer auf den 125 Kilometern des Neubauabschnitts jahrelang im Einsatz, was eine Steigerung der ursprünglich veranschlagten Kosten um siebzigtausend Prozent zur Folge hat. Nicht, dass die Bahn ohne Bindung an entsprechende Gesetze widerspenstige Elemente aus Flora und Fauna nicht einfach mit dem Flammenwerfer eliminiert hätte – DB ist ja nicht die Abkürzung für Mutter Teresa -, aber immerhin: Sie hat die Herausforderung angepackt und exzellent gemeistert.

Unter diesen Umständen grenzt es an ein Wunder, dass die Arbeiten bereits so weit fortgeschritten sind. Die Verantwortlichen am BER, für dessen Bau bloß eine Handvoll Aufsichtsräte auf adäquate Posten umgesiedelt werden mussten, könnten sich an so viel Akribie durchaus ein Beispiel nehmen.

Fahrt endet hier

p1100262

Der M41 kommt. Doch er kommt nicht richtig, denn vorne drauf steht: „Fahrt endet hier.“

Ich weiß nicht, warum mich das so entsetzlich traurig macht. Schließlich wollte ich gar nicht mit dem fahren, ich fahre eigentlich nie mit dem Bus. Außerdem könnte man ja auch denken: okay, Fahrt endet hier, dann beginnt in zehn Minuten eben eine neue. Was für eine positivistische Kackscheiße so unbefangene junge Menschen eben denken würden, diese kleinen dummen Mäuse. Doch meine Lebenserfahrung verbietet mir solch flatterhaften Selbstbetrug. Und dort steht nun mal definitiv und unverrückbar: Fahrt endet hier. Sonst nichts.

Die Fahrt endet hier, der Spaß ist vorbei, The Party is over, wie der Finne sagt, wenn ab 120 Grad in der Sauna das Hirn im Kopfe kocht, das Eiweiß im Hirn gerinnt und aus dem Arschloch es zum allerletzten Male wie ein Wasserkessel pfeift. Das Spiel ist aus, es ist Kehraus, es fällt das Laub, das Haar, der Zahn, der erste Schnee, es endet auch die Fahrt. Endgültig.

Hier endet nun die Fahrt von Tier und Pflanze, Mensch und Hoffnung. Sie alle steigen aus dem Bus des Lebens, zerstreuen sich und ihre Asche schnell in alle Winde. Fahrt endet hier. Wie auch das Wetter endet, Tag und Nacht sind nahezu gleich dunkel, bei beständig sieben Grad und Nieselregen. Auf DAISY steht nur noch: Nächste Abfahrt kömmt am Jüngsten Tag, kömmt gar nicht oder nimmermehr. Das Ziel – zum Teufel – wird auf alle Fälle trotzdem mühelos erreicht.

Endet hier auch unsere Fahrt? Die wir so lang gemeinsam über Stock und Stein, durch Jauchegrube, Minenfeld, zum Glück auch ganz oft über Blumenwiesen, absolviert? Trennen sich denn nun auch unsere Wege?

Wenn die Fahrt endet, beginnt der Stillstand. Stillstand ist Zersetzung. Du fliegst auf einem Teppich dunkelblonder Löckchen fort in deine Heimat, wo die Sonne scheint. Ich segle in entgegengesetzter Richtung auf einer Nussschale aus Binsenquark in die Finsternis hinein, darauf ein Segel mit Schachbrettmuster. Auf dem sind abgebildet die Figuren. Sie heißen nicht mehr Läufer, Turm und König, sondern Säufer, Wurm und Hönig. Genauer gesagt: Heinz Hönig. Wie der kastenbrotartig aussehende und auch agierende Schauspieler.

Der Säufer durchmisst das Brett in raumgreifenden Schlangenlinien. Der Wurm kriecht stets nur geradeaus. Des Hönigs Spielraum aber ist beschränkt auf simple, kurze Moves, erinnernd an des Mimen magere Möglichkeiten. Das ist mein Spiel, mit dem ich mir die Zeit vertreibe auf meinem langen einsamen Törn durch die Dunkelheit.

Was will ich damit sagen? Nix. Allenfalls indirekt noch dies: Im Wurmfortsatz des Interludiums versickert nun auch noch das letzte Körnchen karger Message. Der Traum ist aus, die Fahrt endet und der Spuk beginnt.

Der fliegende M41er rast, nach allem Anschein leer, weiter über die Kreuzung am Hermannplatz, an Bord nur Schatten, auch den Fahrer sieht man nicht. Wie Buchstaben aus Feuer brennt hell am Bug die unheimliche Botschaft: Fahrt endet hier. Doch sie endet nur für die Lebenden, die sich beim Anblick des höllischen Ersatzverkehrs stumm bekreuzigen und rasch nach Hause gehen. Tag des Zorns, Tag des M 41ers.

Der M41 hält nur für Tote. Versucht ein Lebender zuzusteigen, so geht direkt vor seiner Nase – PPFFFHHHH!! – die Bustür zu, der unsichtbare Fahrer brüllt, „kanna nich lesen, Meesta/Piepel/Frollein/junge Frau: ick hab jetzt Pause, für immer – die Fahrt endet hier!“, und bespritzt den Unglücklichen beim Losfahren auch noch absichtsvoll mit einem Schwall von schwarzem Blut aus einer tiefen Pfütze. Das Grauen greift mit klammer Kralle den Tropfnassen am Genick. Schauerlich lacht der Busfahrer, heiser wie ein sterbender Wolf, derweil der Fahrgast kreidebleich zum Taxistand sich schleicht. Bei den Droschkenkutschern weiß man wenigstens seit jeher, dass man von Untoten gefahren wird.

Doch für die Toten fängt die Fahrt nun offenbar erst richtig an. Der Totenbus fährt immer über Mariendorf, dort holt er sich die Alten, die zugleich seine neuen Passagiere sind. An jedem Friedhof steigen viele ein und aus. Ein Ticket hat hier keiner – die Sterbeurkunde genügt als Nachweis. Man sieht sie nicht, man riecht nur Moder, spürt nur einen kalten Zug und erschauert bis ins Mark.

Bockwurst mit Schrippe

p1090911

Vor der Wahl muss ich mich unbedingt stärken und hole mir an der Tanke, Ecke Sonnenallee, eine Bockwurst mit Schrippe für einen Euro. Mit meiner Stimme kann ich dafür sorgen, dass es auch in Zukunft solche Angebote gibt. Wähle ich hingegen falsch, werden Bockwürste womöglich verboten. Oder jeder Zweite wird erschossen – so was gibt’s ja auch. Beim Wählen sollte man sich also gut konzentrieren. Und Nahrung ist wichtig für das Gehirn und damit für die Konzentration. Deshalb stärke ich mich.

Die Angaben auf der Wahlbenachrichtigung führen mich auf ein verwahrlost wirkendes Areal. Um ein fabrikähnliches Backsteingebäude herum gruppieren sich in loser Streuung mehrere abgewrackte Schuppen. Drinnen verfestigt sich der Eindruck, dass die deutlichen Spuren des Verfalls hier durch, eine heile Welt vorgaukelnde, Accessoires wie Kinderbilder an den Wänden übertüncht werden sollen. Was für ein grandioses Symbol: sowohl für Berlin, als auch für dessen Zustand; sowohl für die Notwendigkeit dieser Wahl, als auch für deren Vergeblichkeit. Kinder sind unser höchstes Gut, du mich auch. Laut meinem Zettel befinde ich mich in einer Grundschule, doch ebenso gut könnte es sich bei den Flachbauten um Baracken für Mastschweine handeln, denen man ein paar Buntstifte in die Koben gelegt hat, damit sie abgelenkt sind, wenn das Bolzenschussgerät auslöst: hallo, Bockwurst!

Ich betrete das für mich zuständige Wahllokal. An zwei nebeneinander geschobenen Tischen sitzen die Wahlhelfer – eine Frau und zwei Männer. Vor mir ist noch ein Bürger dran. „Aaahh“, macht er und sperrt weit den Mund auf. Der mittlere Wahlhelfer drückt ihm mit einem Spatel die Zunge herunter und leuchtet ihm mit einer kleinen Taschenlampe tief in den Rachen.

Ich staune. „Diskretion bitte“, ermahnt mich der rechte Wahlhelfer. „Achten Sie das Wahlgeheimnis.“ Er deutet auf den Andrang an der Zimmertür. „Machen Sie sich lieber schon mal frei. Dann geht nachher alles schneller und Sie sehen ja, was hier los ist.“

Zögernd komme ich seiner Aufforderung nach. Ich will schließlich wählen. „Unterhose auch?“, frage ich unsicher.

„Ja, natürlich.“ Er wirkt ehrlich erstaunt. „Wie soll das sonst gehen?“

Ich verkneife mir die Frage, „was soll gehen?“, denn aus dem Augenwinkel bekomme ich noch mit, dass der Mann vor mir schreit und aus dem Mund blutet, als er mit den Wahlzetteln zur Kabine wankt. Vor der links sitzenden Wahlhelferin liegen zwei rosig-blutige Klumpen. Während ich mich auszog, müssen sie ihm die Mandeln rausgenommen haben. Da möchte ich lieber niemanden provozieren. Die sitzen hier ja auch sechzehn Stunden lang. Ehrenamtlich, nur für ein Erfrischungsgeld. Quasi für Bockwürste.

„So, jetzt mal vorbeugen“, spricht mich nun der mittlere Wahlhelfer an.

„Vorbeugen?“

„Hallo? Sind sie Erstwähler? Oder sprech‘ ich Klingonisch? Was an ‚Vorbeugen‘ ist denn bitte so schwer zu verstehen?“ Der Wahlhelfer schüttelt den Kopf: „Bei Manchen fragt man sich schon, warum die wählen dürfen. Vielleicht sollte nicht das Alter entscheiden, sondern Intelligenz und Kooperationsbereitschaft … so … jetzt bücken Sie sich … weiter … ja, so, genau.“

Er erhebt sich von seinem Stuhl und begibt sich hinter mich. Ich beuge mich vornüber, bis ich mich mit den Unterarmen auf der Tischplatte abstützen kann, einer umfunktionierten Schulbank, was zusätzlich böse Erinnerungen weckt: an Machtlosigkeit gegenüber Autoritäten, an Angst und Scham. An Schule eben. In meinem Rücken höre ich nun ein markantes Quietschen, wie vom Überziehen eines Latexhandschuhs, und als nächstes spüre ich den Zeigefinger des Wahlhelfers im Enddarm. Das ist ein bisschen unangenehm, obwohl er vermutlich Gleitmittel benutzt – immerhin ist das hier die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus und kein Volksentscheid.

Nach nur wenigen Sekunden zieht er den Finger wieder heraus und ich darf mich aufrichten. „Die Prostata ist etwa wallnussgroß zu ertasten und unauffällig“, diktiert er der dritten Wahlhelferin links neben ihm, die seine Angaben notiert, bevor sie mich zu sich winkt, und mir drei Wahlscheine aushändigt. „Können sie sich vielleicht mal wieder anziehen?“ Sie klingt ungeduldig. „Das ist echt kein schöner Anblick. Und andere wollen auch noch wählen.“ Mittlerweile wedeln hinter mir zehn Leute mit den Wahlbenachrichtigungen. Ich brauche einfach zu lange.

Trotzdem versuche ich, mich lässig und ohne Hast anzuziehen. Sie sollen nicht merken, wie sehr sie mich gedemütigt haben. Den Triumph gönne ich ihnen nicht. Doch dann stolpere ich beim Versuch, in das linke Bein meiner Jeans zu steigen. Alle lachen. „Jeder nur ein Kreuz“, scherzt die Wahlhelferin nun plötzlich gut gelaunt. Eine der beiden Wahlkabinen wird frei. Für diese Wahl ist es mal wieder überstanden.

Dennoch hier einmal grundsätzlich: Ich will meinen staatsbürgerlichen Pflichten wirklich gerne nachkommen, aber ich finde die Wahlprozedur jedes Mal schlimmer. Manchmal denke ich auch, die dürfen das gar nicht. Und ich meine, ein klares Muster zu erkennen: Immer ist irgendeine Form von Entwürdigung im Spiel – das scheint für sie das Wichtigste zu sein – und das Wahllokal 107 ist in dieser Hinsicht eines der berüchtigtsten in der ganzen Stadt. Vor vier Jahren musste ich auf Zehenspitzen von acht bis achtzehn Uhr die Sesamstraßenmelodie singen – hinterher wunderte sich die Presse über die geringe Wahlbeteiligung. Bei einer Wahl zum Europaparlament – zu so was gehe ich seitdem echt nicht mehr hin – ließen sie mich durch einen, für meinen Geschmack auch viel zu hoch aufgehängten, brennenden Reifen springen, wobei ich mir üble Brandwunden zufügte. Und die Wahlhelfer haben nur gelacht.

Da fragt man sich schon, was wohl als nächstes kommt. Außerdem ist meiner Meinung nach jemand, der Freude darüber empfindet, dass ein Lebewesen Schmerzen erleidet, ob psychisch oder physisch, einfach kein guter Mensch. Ehrenamt hin oder her: So jemand dürfte eigentlich kein Wahlhelfer sein – die können einem das Wählen echt vergällen. Von daher wäre es vielleicht besser, ich wählte eine Partei, die dafür sorgt, dass das heute aber auch die letzte Wahl gewesen ist. Das Angebot an solchen Parteien wird ja zum Glück immer größer.

Wettstreit der Verweigerung

p1090905

Das wohl häufigste Plakat für die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus zeigt einen unscheinbaren Brillenträger mit dem Viertellächeln einer Mona Lisa. Neben dem Gesicht steht, „Michael Müller“, sonst nichts. Das hinterlässt Ratlosigkeit: Wer ist dieser Müller und was will er uns sagen? Manche munkeln, hinter Namen und Erscheinung verberge sich der aktuelle Bürgermeister – doch nichts genaues wisse man nicht. Andere kontern gleich mit einer Gegenfrage: „Was ist denn eigentlich mit diesem Wowereit? Von dem hört man irgendwie gar nichts mehr.“

Somit wäre es tatsächlich sinnvoll, den Mann einmal über Insiderkreise hinaus bekanntzumachen. Am besten in einfachen, klar verständlichen Sätzen: „Das ist Michael Müller. Herr Müller ist der Regierende Bürgermeister von Berlin. Er möchte Wohnungen bauen/Den ÖPNV fördern/Den totalen Krieg/Weeß icke.“ Was Politiker normalerweise eben so versprechen.

Doch bis auf wenige Ausnahmen wird in diesem Jahr auf Aussagen verzichtet. Parteiübergreifend und mehr sogar noch als bei früheren Wahlen. Der FDP-Spitzenkandidat Sebastian Czaja funkelt in einen Nimbus aus psychedelischen Farbexplosionen getaucht, doch nach enigmatischen Gesichtspunkten toppt der Text selbst noch die Optik dieses Horrortrips: „Plan B. Zeit für das nächste Berlin.“ Gruselfaktor: Eins. Information: Sechs. Plan: Null. „Frank Henkel für Berlin“, tut es wiederum der CDU-Chef Henkel jenem ominösen Müller gleich und verzichtet auf jedes weitere Wort. Gar nicht dumm, denn die Geschichte lehrt, dass die Namen der Bösen noch wie Wespenhonig im Gedächtnis kleben, wenn die der Guten längst vergessen sind. „Freilandhaltung auch für Großstadtmenschen“, fordern vollkommen suspekt die Grünen und werden doch von anderen unterboten: „Berlin kann mehr.“ Was? „Starkes Berlin.“ Warum? „Berlin bleibt weltoffen.“ Warum nicht? „Berlin bleibt gradlinig.“ Wie? „Berlin ist Blablabla“ – die Straßen der Stadt sind dieser Tage ein verwunschener Zauberwald: Eisernen Bäumen des Irrsinns gleich raunen die Laternen dem Wanderer kryptische Botschaften zu, wie um ihn in die Sümpfe zu locken, wo er vor Durst und geistiger Umnachtung elendiglich zugrunde geht. Zumindest aber wird er nicht wissen, wo er sein Kreuz zu machen hat.

Produktwerbung sieht anders aus. Zeigen wir das mal beispielhaft an den beiden, von uns nur zu diesem Zweck erfundenen, Waschmittelmarken Aprilfrisch und Maienduft. Um sich auf dem Markt durchzusetzen, würde jede der konkurrierenden Firmen versuchen, sich von der jeweils anderen abzuheben, indem sie ihr gesamtes Arsenal an Alleinstellungsmerkmalen, Vorzügen, Argumenten und Scheinargumenten auffährt. Aprilfrisch würde auf seinem Plakat prahlen, „Wäscht besonders weiß“, oder ,„Ist total umweltschonend“, Maienduft mit praktischen Vorzügen kontern: „Im Sparkarton mit hartem Henkel.“ So geht Werbung.

Die Parteien interessiert das herzlich wenig. „Kauf mich eben oder lass es bleiben, Fucker“, ist ihre dem Bürger verächtlich vor die Füße gerotzte Botschaft. Nur, um diese Frechheit zu verbreiten, haben sie auch noch tausend Bäume totgemacht, selbst die Grünen. Weil man das eben immer so gemacht hat: Wahlkampf, Plakate, Wahl. Das Geld ist nun mal da – soll man das jetzt etwa den Armen schenken oder anderweitig verbrennen? Es ist, als gäbe es in der Hauptstadt nichts zu sagen. Keine Pläne. Keine Hoffnung. Keine Wünsche. Keine Zukunft. Kein Gott. Kein Staat. Keine Arbeit …

Die Parteien verweigern durch die Bank die Aussage, als stünden sie vor dem Ankläger – und damit haben sie vermutlich gar nicht mal so unrecht. Daher möchte man eigentlich nichts sagen, sich bedeckt halten, Pokerface bewahren. Nach der Wahl wird man das ändern, eventuell, vielleicht.

Offenbar zieht sich Berlin nun wieder in die erbarmungswürdige Nische zurück, aus der es vor nicht mal dreißig Jahren zurück ans Licht der Welt gekrochen kam: die eine Hälfte ein pathetisch aufgeblasenes Provinzkaff voller trunk- und drogensüchtiger Schmarotzer am Tropf der BRD – die wichtigsten Themen waren zu gleichen Teilen, welche Politiker ein Bordellbetreiber namens Otto Schwanz bestach und welches prominente Zootier gerade Geburtstag hatte; die andere Hälfte ein postapokalyptisches Riesengefängnis aus Trümmerhäusern, zwischen denen graugesichtige Zombies herumschlurften und sich gegenseitig verpfiffen, ähnlich wie wir es aus John Carpenter’s dystopischem Film „Die Klapperschlange“ kennen.

Die freiwillige Selbstdemontage erlebt ausgerechnet dort ihren Tiefpunkt, wo noch rudimentäre Inhalte transportiert werden: So in den kurzen Wahlspots der Grünen Neukölln, in denen „Karl und Nina“, zwei blutleere Hybride aus Hipstern und Theologiestudenten, ihre mahnenden Zeigefinger schonungslos in winzigkleine Wunden legen: Es gibt nicht genügend Fahrradbügel, an die man sein Rad anschließen kann. Der Landwehrkanal ist schmutzig und der Bus M41 oft verspätet. Wenn sie kiffen wollen, meckert der Schutzmann – laut Karl und Nina ein „Ganja-Hater“ – den Ausdruck hätte meine Oma selig ohne Zögern „flott“ genannt. Die Radwege sind zu holprig. Aus dem Sauerland, wo Nina herkommt (und wohin sie zu ihrem eigenen Besten hoffentlich bald zurückgeht), ist sie „makellose Straßenbeläge gewohnt.“ Diese Vergartenzwergisierung politischer Themen ist fast schlimmer als die Leere der Plakataussagen. In die könnte man mithilfe von ein wenig Ganja immerhin noch ein Lot Brisanz hinein phantasieren.

Wie kann es sein, dass in Berlin sogar die Müllabfuhr – „Eimer für alle“ – mit Leichtigkeit schafft, woran die Parteien in schon stalingradeskem Ausmaß scheitern: eine Imagekampagne entwickeln zu lassen, die zugleich zeitgemäß, charmant und informativ wirkt. Und neben der Stadtreinigung BSR gelingt dasselbe auch den Berliner Verkehrsbetrieben BVG: „Nicht mal deine Mudda holt dich morgens um 4:30 Uhr ab.“ Was mögen sich die in den Wahlkampf involvierten Agenturen bloß dabei gedacht haben?

Auf der Suche nach den Gründen nähert sich wie ein scheues, kleines Tier die Erkenntnis, schnuppert sichtlich angewidert an den Zusammenhängen und schlägt dann doch entschlossen ihre spitzen Zähnchen hinein: Die Parteien wollen gar nicht gewählt werden. Nach einer Analyse des kargen Restinhalts, der sich aus der Gesamtheit der Plakate extrahieren lässt, dürfte es in den Köpfen des politischen Berlins nämlich wie ein Blitz eingeschlagen haben: O Mann, Alter, diese Stadt scheint ja ganz schöne Probleme zu haben. Stell dir vor, du musst diesen zerschlissenen Sack voll bunter Flöhe regieren – das ist doch Last Exit Arschkartenhausen: Keine Kohle weit und breit, niemand weiß, wer der Bürgermeister ist, und überall fehlen Flughäfen und Fahrradbügel. Wer um Gottes Willen sollte sich so etwas ans Bein binden? Da hast du erst mal vier Jahre lang null Fun und hinterher meckern trotzdem wieder alle rum.

So schiebt man den schwarzen Peter lieber weiter und fährt eine gezielte Strategie der Abschreckung. „Kauft mich nicht! Wer mit Aprilfrisch wäscht, pult hinterher stinkende Stoffreste aus der Trommel“, warnen die einen. „Pfoten weg von Maienduft! Leichtentzündlich! Hochtoxisch! Antisemitisch! Radioaktiv!“, kreischt die Konkurrenz in Panik, da ihr die zum Greifen nahe Niederlage von den Aprilfrisch-Arschgeigen entrissen zu werden droht. Denn natürlich liegt hier kein Versagen der beauftragten Werbeagenturen vor, sondern vorzügliche Arbeit. Die am Ende aber doch nichts bringt, da alle Beteiligten derart großartige Negativergebnisse geliefert haben, dass die sich am Ende gegenseitig aufheben werden in ihrem Wettstreit der Verweigerung.