Der Fluch des Rubbelloses

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Normalerweise nehme ich morgens immer nur ein halbes Glas lauwarmes Wasser zu mir. Das reinigt die Seele von Anhaftungen und bringt den Geist zum Leuchten. Danach bin ich für einen weiteren Tag des verzweifelten Ringens mit meiner brotlosen Kunst gewappnet. Aber ich brauche ja kein Brot, da ich doch das Leuchten habe.

Dennoch stapeln sich in meinem Kühlschrank neuerdings die Lebensmittel. Denn bei Edeka erhält man bei jedem Einkauf nun ein Rubbellos. Da gibt es ganz tolle Preise zu gewinnen. Ein Auto zum Beispiel oder ein Jahr Mietfreiheit. Man muss nur auf sechs Feldern dreimal das zum jeweiligen Gewinn gehörende Symbol freirubbeln. Drei von sechs: ein Kinderspiel, sollte man meinen, und ich war schon öfter so nah dran! Zweimal hätte ich fast die Vespa gewonnen. Das heißt, ich hatte schon nach kurzem Rubbeln zweimal das Vespa-Symbol freigelegt. Es fehlte nur noch ein korrektes Feld, praktisch ein Elfmeter, und was kam dann? Nichts! Das muss man sich mal vorstellen! Und beim zweiten Mal genau dasselbe.

Das kann im Grunde gar nicht sein, dass man da immer so knapp vorbeischrammt. Hab ich mir irgendwann gedacht. So viel Pech kann doch ein Mensch allein überhaupt nicht haben. Manchmal denke ich fast, die wollen einen richtiggehend dazu verlocken, dass man dort einkauft. Und es geht ihnen gar nicht darum, dass sich irgendjemand freut, weil er was gewonnen hat. Das riecht doch nach Betrug!

Ich hätte gute Lust, zur Polizei zu gehen, aber ich hab ja keine Beweise. Jedenfalls noch nicht. Als ich wie so oft zum dritten Mal am Tag in der Kassenschlange stand, kam mir die Idee: Im Grunde müsste ich mich in die Schaltzentrale der Betrüger schmuggeln, um ihre Machenschaften aufzudecken. Erst die Kamera am Zaun mit einem Steinwurf ausschalten und die Hunde mit so einer Schlafmittelwurst, dann hinter den Wachen vorbeischleichen und durch so enge Lüftungsschachts kriechen, bis hin zu dem Raum, wo die Halunken Sekt trinken und ihre Verbrechen planen. Und dann von oben durch so ein kleines Lüftungsgitter hindurch alles in Bild und Ton dokumentieren. Haarklein. Das wäre sicher gefährlich, aber einer muss es ja tun. Und viele Leute scheinen gar nicht zu wissen, wie sehr sie manipuliert werden. Die kümmern sich bloß um Armut, Ausbeutung, Unterdrückung und so’n Kram anstatt um die richtigen Schweinereien.

Denn längst bin ich rubbellossüchtig. Edeka hat mich verantwortungslos angefixt. Es ist die undankbarste Variante der Spielsucht. Denn der gewöhnliche Spielsüchtige wird wiederholt mit kurzen Zwischenerfolgen belohnt, die ihn dann weitermachen lassen – ähnlich dem Mechanismus bei der Sucht nach Substanzen: Sucht nach dem Kick, Befriedigung durch den Kick, Abflauen des Sättigungszustands, Anschwellen der Sucht und alles wieder von vorn.

Die Rubbellossucht läuft anders ab: Sucht nach dem Kick, Rubbeln, Enttäuschung, erneute Sucht. No kick. Erfolglos rubbelt man sich die Finger wund: Es ist wie Masturbation ohne Höhepunkt. Die Sucht nach Substanzen kennt nur ein vergleichbares Beispiel: Auch beim Rauchen fehlt weitgehend ein spürbarer Belohnungseffekt, es sei denn, man bezeichnete es als Belohnung, nicht auszurasten. Nur wer länger nicht geraucht hat, spürt allenfalls mal so einen leichten Duller in der Birne. Und der ist noch nicht einmal besonders angenehm, nicht zuletzt da einem der üble Geschmack nun noch mehr auffällt als sonst.

Wie sinnvoll und ergiebig ist im Vergleich das edle Trinken. Konsum und Effekt, Likörchen und Späßchen, Batsch und Bumm. Den simplen Zusammenhang schnallen sogar Versuchstiere, und die wissen bekanntermaßen eh immer am besten, was gut für sie ist.

Vom Rauchen bekommt man hingegen bloß Kopfschmerzen. Der Missbrauch von Rubbellosen wiederum führt zu wunden Fingerspitzen, überfüllten Schränke, in denen überflüssige Lebensmittel vor sich hin gammeln, sowie einem überzogenen Girokonto. Die mit der Entwöhnung verbundene Verhaltenstherapie ist aufwändig. Die besten Erfolge erzielt man noch mit präparierten Losattrappen, die, sobald man sich zu den „Gewinn“-Feldern durchgerubbelt hat, Stromstöße verteilen. Der Strom muss allerdings grenzwertig stark sein, um Schmerzen in einer Intensität auszulösen, die auch das Unterbewusstsein speichert. Das überlebt nicht jeder, doch vielleicht ist ein rascher Tod besser als die ewige demütigende Abhängigkeit von Edeka.