Die Krönung seines Schaffens

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Bob Dylan stand in dem Schuppen, in dem er immer seinen Schrott zusammenschweißte, und schweißte seinen Schrott zusammen. Die Arbeit machte Spaß, er pfiff eine kleine Melodie. Im Grunde reichte ihm das völlig an Musik. Wenn es nach ihm gegangen wäre, würde er überhaupt keine Musik mehr machen, keine neuen Songs, keine Konzerte geben, nichts. Das brachte ja doch nur Ärger: Ständig riefen irgendwelche Leute an und wollten irgendwas von ihm. Viel lieber würde er bloß noch schweißen, hier in diesem Schuppen, Funken und Stahl und er allein mit sich und seinem Schweißgerät.

Bob Dylan schob die Schutzmaske hoch und betrachtete das Zwischenergebnis seiner neuesten Arbeit. Es sah ganz interessant aus: Er hatte ein paar Zinnsoldaten an eine alte Salatschüssel aus Gußeisen geschweißt, das ganze noch in eine Radfelge hinein und die wiederum auf den Literaturnobelpreis, einen in einem Horst aus Schreibfedern thronenden Adler aus Silber, der ein Buch zwischen den ausgebreiteten Schwingen hielt, und so tat, also ob er darin läse. Das geschmacklose Stück war erst gestern Nachmittag mit United Parcel gekommen und Bob Dylan war es gerade noch gelungen, den Boten abzufangen. Er musste ihm mit heruntergelassener Hose und einem zwischen die Backen geklemmten drei Meter langen Klopapierstreifen hinterherhetzen, damit das Paket nicht wieder beim Späti an der Ecke landete. Denn dort wäre es wohl wie so viele Sendungen für die Nachbarschaft unwiederbringlich verschwunden. Er wollte den Preis zwar nicht haben, aber als Material für sein Kunstwerk konnte er ihn immerhin verwenden.

Die Leute hielten ja eh immer alles für einen Teil seiner Kunst, da konnte er machen was er wollte. Sie waren offenkundig völlig durchgeknallt. „Man kann diese Reaktion mit gutem Recht unhöflich finden. Dylans Absage an die Akademie ist jedoch kein Affront. Sie ist die Krönung seines künstlerischen Schaffens“, soll zum Beispiel eine große deutsche Zeitung sein Nichterscheinen bei der Verleihung kommentiert haben.

Das war wieder so eine absolut typische Reaktion auf sein ganz normales, menschliches Verhalten. So genervt er auch war, musste der Barde dennoch stillvergnügt schmunzeln. Ohnehin schmunzelte er seit dem Tag der Preisverkündung für seine Verhältnisse ungewöhnlich oft vor sich hin. Es war schon irre. Er konnte sich so ignorant verhalten wie er wollte, sich wochenlang nicht melden, demonstratives Desinteresse zeigen, behaupten, er hätte „wichtigeres zu tun als in Dingenskirchen aufzuschlagen“ – einen Mau-Mau Abend mit seinen Hausangestellten, den Müll runterbringen -, ach was, er hätte auch einfach nur laut furzen können: Stets jubelten verlässlich irgendwelche intellektuellen Knalltüten aus dem Nobelpreiskomitee oder in den Medien, was für ein außerirdisches Genie hier eine neue Ausdrucksform gefunden hätte. Den abgespacten Späthippies fiel anscheinend nichts besseres ein als all seine, in ihrer Unverschämtheit eigentlich doch glasklaren, Ansagen in weitere Beweise seiner Größe umzudeuten, gerade so, als wäre sein ganzes Leben nichts anderes als eine einzige Performance im Dienst an einer kosmischen Kunst.

Dabei hatte er doch einfach bloß keinen Bock auf diesen Preis, den er nicht bestellt hatte, und fertig. Nicht auf die Zeremonie im Dezember, nicht auf eine Dankesrede im kommenden März und schon mal gar nicht auf den endlosen Flug mit dreimal Umsteigen und dem letzten Teil der Reise wahrscheinlich dann per Postbus oder Rentierschlitten in irgendein verschneites Kaff im hintersten Wurmfortsatz Europas, dessen Namen er schon Sekunden nach dem ersten Hören wieder vergessen hatte: Stuckem, Shockem, Stalker, was auch immer und falls das überhaupt noch in Europa war.

Aber bestimmt würden sie die nun folgende Botschaft verstehen, obwohl, aber auch gerade weil sie ausnahmsweise tatsächlich mal mit Kunst zu tun hatte. Er klappte die Maske wieder herunter, schmolz dem Adler mit dem Schweißgerät je einen ausgestreckten Mittelfinger in beide Flügel und lötete ein paar Nazi-Devotionalien und Blechdiddelmäuse dran. Anschließend startete er den zur Dampfwalze umgebauten Sitzrasenmäher und fuhr dreimal über den Schrottberg drüber. In die entstandene flache Vertiefung zwischen Salatschüssel und Felge schiss er am Ende noch einen großen Haufen.

Zufrieden musterte Bob Dylan das Resultat seiner Bemühungen. Er wickelte es bruch- und geruchsfest in Luftpolsterfolie ein, verstaute es in einem Packset Größe L und adressierte das Ganze an: „The Nobel Committee for Literature, Stalker, Sweden, Europe (?).“ Sollte ein solcher Wink mit dem Zaunpfahl immer noch nicht reichen, wäre diesen Leuten sowieso nicht mehr zu helfen.

Mahlsdorfers Mondfahrt

raketentaxi

Ein Raketentaxistand in Marzahn, Poelchaustraße/Allee der Kosmonauten.

Die Mahlsdorfer (öffnen hinten die Tür des Raketentaxis und steigen ein; im Chor): Guten Abend.

Raketentaxifahrer (faltet die Zeitung zusammen, in der er bis eben noch gelesen hat, und wirft sie auf den Beifahrersitz): Nabendchen. Solls’n hinjehn?

Mahlsdorfer: Zum Mond, bitte.

Raketentaxifahrer (alarmiert): Dit is aba keene Kurzstrecke.

Mahlsdorferin (beschwichtigend): Ja, kein Problem. Fliegen Sie einfach los.

Raketentaxifahrer (nölt): Aba da is ja nüscht. Da kriegick do‘ keene Anschlusstour. Da kommick do‘ nie wieder weg.

Mahlsdorfer: Keine Sorge. Wir wollen nur kurz was gucken und dann gleich wieder zurück. Na wie hört sich das an?

Raketentaxifahrer: Wie lang muss ick denn da warten? Ick lass dann aber solange die Uhr loofen.

Mahlsdorferin (seufzt): Meinetwegen können Sie das Ding anlassen.

Raketentaxifahrer (beruhigt, geschäftstüchtig): Na denn wollnwa ma‘. (drückt Raketentaxameter, rückt sein Käppi zurecht, dreht den Zündschlüssel, Höllenlärm, kurzer Blick in den Außenspiegel, fliegt los).

Raketentaxifahrer (brummelt und bruddelt): Brummelbruddelbrummel …. (drückt Sprechfunktaste) … Zentrale bitte für Raketenfunkkraftdroschke siemunfürzi‘ ölf …

Zentrale (gnarzt): Herr siemunfürzi‘ ölf?

Raketentaxifahrer: Die siemunfürzi‘ ölf meldet sich ab ssum Mond.

Zentrale (rauscht): Allet klar, Kolleje. Jute Fahrt.

Raketentaxifahrer: Danke.

Mahlsdorfer (versucht ein belangloses Gespräch zu beginnen): Und wie läuft das Geschäft so?

Raketentaxifahrer (startet Lamento): Hörnse bloß uff. Allet scheiße! Früher war allet besser. Da hatten die Leute no‘ Arbeet. Und Jeld. Da haste dann ahmts oft den Spaß-Handwerker …

Mahlsdorferin (stutzt, verbessert): …. ah, den Space-Handwerker …

Raketentaxifahrer: Jenau! Den Spaß-Handwerker. Is ja allet in Englisch jetze. Haste den also vom „Blauen Piephahn“ am Herzbergplatz in die Milchstraße jefahn. Oda sogar bis nach Reinickendorf. Konnta sich locker leisten. Aba hat ja keena mehr Jeld heute …

Mahslsdorfer (unterbricht): … Wenn ich mal was fragen darf: Sie sehen doch eigentlich ganz pfiffig aus. Sie fahren aber nicht nur Raketentaxi, oder? Sie machen bestimmt noch was anderes: Künstler, Musiker, Student? Hab ich recht?

Raketentaxifahrer (eingeschnappt): Wie wat anderet?? Is dit nich jut jenuch, oda wie? Bin ick nu’n schlechter Mensch, oda wat? Ick hab siebzich Semester Astronomie studiert. Aber da kriste ja keen Job, wa. Taxi jefahn bin ick schon die janze Zeit üba wäant dem Studium und da hab ick mia ehmt jesacht, machste no‘ ne Astronautenausbildung dassu und dann fährste Raketentaxi. Is do‘ supa, wa: Ick bin unabhängig, ick kann mir die Sseit sölba einteil’n …

Mahlsdorferin (wechselt rasch das Thema): Fahren Sie eigentlich immer nachts?

Raketentaxifahrer: Nur nachts, ja. Da is ni‘ so ville los im All, wa. Is entspannter. Und die Fahrjäste sind üantwie interessanter. Obwohl manche ja ooch eene Scheiße quatschen, dit jips ja janich.

Mahlsdorfer (unempfindlich): Aber in der Nacht sind doch sicher auch komische Leute unterwegs. Kann das nicht manchmal unangenehm werden?

Raketentaxifahrer (stolz): Kannet. Und wie! Aba mit der nöti’en Menschenkenntnis und orntli‘ Fingaspützenjefühl jehtit. Nur mit die – ick musset leider sagen (senkt die Stimme) und ick hab würkli‘ nüscht jejen Ausplaneter, ick hab ja sölba auch Kollejen vom Saturn, vom Uranus oder aus Spandau, die kennsi‘ besser aus als mansche von uns, sin‘ sauber, höfli‘, jute Astronauten, ha’ick jar keen Problem mit die …. aba (raunt): die Marsmenschen. Ick weeß ni‘, wie ick et sa’en soll. Mit die kommick echt ni‘ klar. Fast immer völli‘ besoffen, wa, schnall’n sich ni‘ an, neuli‘ wollte da sogar eena mi’m Döner mitfliegen, stöllnse sich ma vor, wa, mi’m Döner inner jeschlossenen Rakete, Knoblauchsoße, Zwiebeln, wie dit stinkt, wa, könnse sich vortsöll’n, und frech, wa, so richti‘ anmaßend, keen Trinkgeld, wissen allet besser, wa, eima schreit mi‘ do‘ eena an: der kürzeste Wech zum Mars wär über die Stadtautobahn, Kurt-Schuhmacher-Damm und dann Alpha Centauri, sin Kumpel wär ooch Raketentaxifahrer, und ick wär so’n Ijot. Den ha’ick aba hochkant rausjeschmissen, wa: Schleudersitz. Konnta ehmt loofen …

Stadtgespräch

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Das ist mal wieder typisch Berlin. Die Schulen sehen aus wie Barackensiedlungen, in denen Soldaten für den Häuserkampf trainieren. Bei der Senatsbefragung einer Wahrsagerin über den Eröffnungstermin des BER zerspringt die Glaskugel mit solcher Wucht, dass mehrere Abgeordnete von herumfliegenden Scherben verletzt werden. Auch haben es die Behörden, vom sensationell eingetretenen Wechsel der Jahreszeiten überrascht, versäumt, genügend warme Übernachtungsplätze für Bedürftige bereitzustellen. Das ist umso bitterer, da mit den einheimischen Obdachlosen nun auch EU-Ausländer, Flüchtlinge sowie Touristen, die infolge von Drogenkonsum und fehlerhaften Stadtplan-Apps die Orientierung verloren haben, zusätzlich um die knappen Plätze konkurrieren.

Aber das sind ja alles nur Menschen, sprich Randnotizen. Und spätestens, wenn in einem der hauptstädtischen Zoos ein Eisbär geboren wird, zählt das alles erst recht nichts mehr. Für die hiesige Presselandschaft gibt es fortan kein anderes Thema als die Hofberichterstattung aus der Eisbärenanlage. Fehlt nur noch der Live-Ticker. So sehr der Berliner den Menschen hasst, so sehr liebt er das Tier.

Jetzt ist es wieder so weit. Die Robbenfresser haben einen Thronfolger geboren. Sein Zwillingsbruder ist zwar gleich schon wieder futsch, aber das ist normal. Sagt der Zoo, sagt der Tagesspiegel. Dort lesen wir auch, dass Aika, die Oma des Neugeborenen ebenfalls gestorben ist. Mit 36 Jahren.

‚Alles jenseits der 30 Jahre ist ein stattliches Alter für Bären‘, sagte Zoodirektor Andreas Knieriem“, sagt der Tagesspiegel. „’Vielleicht hat Aika gespürt, dass neben ihr neues Leben entsteht, und sich jetzt verabschiedet.'“ Vielleicht hat sie aber auch den geharnischten Schwachsinn ihres Herrn und Meisters gelesen und daraufhin hat sie der Schlag getroffen. Erst stirbt man, und dann wird man obendrein verspottet. Das ist ja schlimmer als bei Fidel Castro.

Auch Mutter Tonja bekommt ihr Fett weg – im wahrsten Sinne des Wortes: „’Tonja hat ganz ruhig reagiert und sogar ein paar Mohrrüben gefressen‘, wird Pfleger Detlef Balkow vom Tierpark zitiert“. Einer Eingebung folgend googeln wir nach „Eisbär“ und stoßen, nicht gänzlich unerwartet, auf folgendes Ergebnis: Ein Eisbär braucht – im Gegensatz zu seinen braunen Brüdern – in allererster Linie Fleisch auf den eisigen Tisch. Fleisch, Fleisch und nochmals Fleisch. Würde einer der Tierpfleger wenigstens den Wikipedia-Eintrag lesen, würden ihnen ihre Viecher vielleicht nicht ständig krepieren. Dasselbe hatten wir uns schon bei Knut gedacht, dem legendären Vorgänger des jetzigen Todeskandidaten.

Warum war dieser Knut eigentlich so berühmt: etwa, weil er mit der Flasche großgezogen wurde? Aber das werden in Berlin doch die meisten Kinder bis ins hohe Erwachsenenalter hinein. Und die aus ihrer Puritanerhölle getürmten Neuberliner passen sich gern an, wie die permanente Präsenz der Billigbierpulle in Neuköllner Straßen schon am Vormittag zeigt. Bei einem Anblick, der einen früher denken ließ, „was für ein armer Mensch: alkoholkrank, obdachlos und durch die immer gröber werdenden Maschen im sozialen Netz gefallen“, vermeldet das Auge dem Gehirn nun Künstler, Start-Upper und Hobby-Hedonisten in kunstvoll zerschlissenen Vintagelumpen.

Okay, wir schweifen ab wie Tolstoj. Nutzen wir doch lieber die Gelegenheit, um an dieser Stelle mahnend, warnend, erinnernd den gütigen Zeigefinger zu heben: Wenn man die Bärchen angeblich so lieb hat, sollte man sie in Zukunft vielleicht auch besser und vor allem artgerechter behandeln. Aber sobald sie dem Knuddelalter entwachsen sind, ist alle Liebe sofort vergessen. Dann ist nämlich Schluss mit „ah“ und „oh“, mit „nein, wie niedlich“, „ei ei ei“ und „duziduzi“. Ab in die Tonne. Großer Bär, doofer Bär, hässlicher Bär, böser Bär. Der heranwachsende Bär ist nicht mehr klein und flauschig. Mit seinen Pubertätsproblemen (Pickel, Liebeskummer, Sinn des Lebens) alleingelassen, steht er nur noch einsam in der Ecke. Statt Möhren gibt es welken Sauerampfer. Die Zoobesucher wenden sich ab. Bis es eine neue Eisbärengeburt mit einem neuen Eisbärbabyhype gibt, ist sogar das Entengehege interessanter, vom Würstchenstand mal ganz abgesehen.

Kein Wunder, dass Knut in seinen letzten Tagen nur noch schmutziggrau war und glasig vor sich hinstierte. Nach fortgesetztem Missbrauch durch den Pfleger kam er im Grunde nie mehr so richtig auf die Beine. Dazu noch die kriminelle Gemüsediät und das Ende war praktisch vorprogrammiert. Da bedurfte es nur noch eines winzigen weiteren Anstoßes (Nieselregen) und Knut gab endgültig sein Salatbesteck ab.

Im Naturkundemuseum ist er jetzt wieder deutlich weißer. Gesund sieht er aus, obwohl er tot ist. Sie haben den ausgestopften Petz offensichtlich mit Perwoll gewaschen oder nachgebleicht. So viel Mühe hätte man sich mit ihm ruhig schon mal zu Lebzeiten geben können. Diese Einsicht der Verantwortlichen wünschen wir nun seinem Nachfolger.

Serotonin in der Südsee

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Normalerweise bin ich ja für meine Fröhlichkeit berühmt. Mord, Totschlag, Kacke am Schuh: Egal, was passiert, ich habe immer gute Laune. Natürlich eckt man damit bei den Sauertöpfen, die mir meine Einstellung insgeheim neiden, auch mal an. So wurde ich, als ich neulich über einen in der Tat saulustig aussehenden Sturz eines Radfahrers auf feuchtem Laub lauthals lachen musste, von spröden Spaßbremsen in Sanitäteruniform gefragt, was ich denn da um Gottes Willen täte. Meine Antwort war ganz einfach: „Ich freue mich. Wie immer.“

Doch irgendwas in mir ist nun zerbrochen. Das Wetter hat mich kleingekriegt, zusammen mit seinem bösen großen Bruder, der Jahreszeit und dessen Führungsoffizier, der Zeitumstellung. Das einzig Gute an der Winterzeit ist, dass man früher anfangen darf zu trinken, weil es früher dunkel wird. Das ist meine letzte kleine Freude. Ansonsten habe ich keine Lust auf gar nichts. Also noch nicht mal so richtig fett Bock auf endlich mal volle Pulle gar nichts, sondern sogar auf gar nichts habe ich überhaupt keine Lust. Wie diese „Gegenstände, die aussehen wie ein Gesicht“, die ständig gepostet werden – Häuser, Schränke, Stromkästen, Klappsitze – starre ich leer vor mich hin. Absolute Antriebsschwäche, vollkommene Unfähigkeit zu arbeiten. Die ersten paar Wochen klingelt noch das Telefon, mit der Zeit dann immer seltener, bis es schließlich verstummt.

Jetzt könnte man eigentlich denken, macht doch nichts und ist doch super, weil ich ja zum Glück auch überhaupt nichts machen muss, da schließlich sowieso alles keinen Zweck hat. Das ist Freiheit. Keiner will mehr was von mir, keiner hat noch irgendwelche Erwartungen an meine Person (welche „Person“ überhaupt?). Da könnte ich mich doch ganz bequem in den weichen Sessel der Erfolglosigkeit zurücklehnen und aufs prächtigste gehenlassen. Wenn nur diese saudämliche, präsuizidale Grundstimmung nicht wäre. Die nervt. Wenn ich in den Spiegel blicke, sehe ich statt der üblichen verschmitzten Pausbäckchen nur eine aschfahle Fratze, die lautlos vor sich hin winselt.

Bereits der Oktober hatte die wenigsten Sonnenstunden seit 1974, der November hat nun gar keine mehr. Kein Mensch weiß mehr wie die Sonne aussieht. Bei ihrem Anblick würden die Leute inzwischen wahrscheinlich vor Panik schreiend in die Häuser rennen und sich im Keller verbarrikadieren. Weil sie denken, ein Komet stürzt auf die Erde oder Donald Trump gibt seinen Einstand mit einem zünftigen Atomkrieg. Nein, wer in dieses Land flieht, muss wirklich einen verdammt triftigen Grund haben. Das sollten wir nie vergessen.

Was ist nur mit mir los? Als ich mit letzter Kraft die Begriffe „Verderben“, „Wahnsinn“, „Depression“ und „Scheiße“ eingebe, stoße ich auf das sogenannte Glückshormon Serotonin, das für Ausgeglichenheit, erholsamen Schlaf und Lebensfreude sorgen soll. Ob es das ist? Aber ausgeglichen bin ich ja. Sehr sogar: immer gleichmäßig niedergeschlagen. Doch spätestens als ich den Menschenauflauf unter meinem Balkon bemerke, von dem ich seit zwei Stunden, nur mit einem dünnen, grauen Hemdchen angetan, klagend herunter rufe, „oje, oje, bald kommt der erste Schnee, dann tut es noch mehr weh“, wie sie mich mit gezückten Smartphones filmen und „spring doch“ rufen, muss ich mir selber zugestehen, dass es zumindest mit der Lebensfreude wohl nicht so wahnsinnig weit her sein kann.

Im Netz finden sich Ratschläge, wie man den speziell im Winter oft zu niedrigen Spiegel des komischen Kasper-Hormons wieder erhöht. So könnte man gemäß der Quacksalbertipps zum Beispiel auch einfach mehr Gemüse essen, aber davon werde ich persönlich gleich noch viel trauriger. Eine Mahlzeit, für die keine Tiere unter möglichst großen Qualen gestorben sind, macht keinen Spaß. Das wäre ja wie ein Spaziergang, bei dem man nicht Zeuge wenigstens eines Autounfalls wird, am besten mit Verletzten.

Eine realistischere Lösung ist jedenfalls eine Tageslichtlampe. Die soll die Stimmung aufhellen, was mir logisch erscheint. Lampe, Licht, hell. Ich bestelle mir eine bei den Schweinen von Amazon (klingt fast wie der Titel eines Fantasy-Films: „Die Schweine von Amazon“), das geht am schnellsten und es ist nun mal ein Notfall. Wenn der noch schneller liefern würde, hätte ich die Lampe sogar bei Assad bestellt, oder sie einer armen Oma aus den ersterbenden Händen gerissen.

Mit müdem Gesicht packe ich die Lampe aus und stelle sie auf den Schreibtisch. Ich schalte sie an und warte darauf, dass die Traurigkeit verschwindet. Ich merke nichts. Ich warte noch länger. Murmle kurz „Heißa“, um die nun doch hoffentlich bald einsetzende Wirkung autosuggestiv zu unterstützen, wie mit einem Wehenmittel eine schwere Geburt. Oder eine Abtreibung. Passt hier vielleicht besser. Und bald beginnt auch noch der Karneval. Helau.

Grün. Grüner. Deutsche Bahn

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Weder Ameisen noch Zauneidechsen halten die Bauleute auf. Beide sind umgesiedelt. So kommt der Ausbau der Bahnstrecke zwischen Berlin und Dresden voran“, schreibt der Tagesspiegel. Der Leser beginnt zu ahnen, warum es mit der seit den neunziger Jahren geplanten neuen Strecke nur sehr langsam vorangeht, aber auch, dass das schwerste Stück des Wegs damit geschafft sein dürfte. Der Rest ist ein Klacks. In zehn Jahren wird die tippitoppi Sausewindverbindung zwischen der Hauptstadt des notorischen Nörgelns und der Metropole der dümmlichen Feindseligkeit fertig sein.

Die Zauneidechsen sind längst in ihrer neuen Heimat und dem Vernehmen nach nicht unzufrieden – zumindest hört man keine Klagen. Da sie sich im Schotter der Gleisanlagen äußerst wohl fühlen, hat die Deutsche Bahn schon vor Jahren provisorisch mehrere Nebenstrecken für sie stillgelegt. Diese Großzügigkeit und Weitsicht zahlt sich nun aus, denn dort finden sich jetzt ideale Habitate für umgesiedelte Reptilien.

Doch mit den roten und gelben Waldameisen war das Verfahren komplizierter. Sie sind klein, sie sind viele und sie sind äußerst anspruchsvoll. Erst dieser Tage sind die letzten Umzugswagen mit Ameisen, die die Umsiedlung zunächst verweigert und zum Teil sogar mit Selbstmord gedroht hatten, unterwegs. Erst nachdem man ihnen zugesichert hatte, mithilfe chinesischer Experten in der Nähe von Blankenburg maßstabsgetreue und bis in die letzten Details der Inneneinrichtung (Klodeckel, Nachttischschränkchen) identische Ersatzhaufen zu errichten, gaben die letzten ihren Widerstand auf. Nur die Klagen zweier hochbetagter Ameisendamen laufen noch. Sollte ihnen stattgegeben werden, müssen sämtliche Schienen wieder entfernt und die frisch errichteten Bahndämme gesprengt werden. Dann bliebe für die Reisenden in Zukunft nur noch der Bus.

Die Bahn spielt hier offenbar auf Zeit und hofft auf ein baldiges Ableben der Klägerinnen. Selbstverständlich hat der Naturschutzbund Deutschland rund um die Uhr mehrere Mitarbeiter mit der Bewachung der beiden Insekten betraut. Denn der Argwohn der Naturschützer ist groß. Sie scheinen der Deutschen Bahn alles zuzutrauen, sogar Mord. Es muss ja nicht wie ein Verbrechen aussehen: Oft genügt es, die Tiere heftig zu erschrecken, indem man direkt neben ihnen mit dem Fuß aufstampft oder auf ihren Bau pinkelt, und schon hätte man freie Bahn. Gegen Geld lassen sich für jeden noch so schmutzigen Job halbseidene Halunken finden, die diesen gern und skrupellos erledigen. Menschliche Mieter in begehrten Innenstadtlagen können von solch mafiösen Methoden längst ein Lied mit vielen hässlichen Strophen singen.

Nicht zu vernachlässigen ist auch bei kooperativen Ameisen die Schwierigkeit, sämtliche Individuen zu lokalisieren und zu informieren, ehe überhaupt an Verhandlungen und Umzug gedacht werden konnte. Denn Ameisen sind nun mal sehr klein und oftmals schwer zu finden. Sie wuseln durcheinander, nicht selten auch noch unter der Erde, und sehen einander für das grobe menschliche Auge obendrein sehr ähnlich. Das bedeutet, dass alle an den Füßen verschiedenfarbig beringt werden mussten, um wenigstens ansatzweise den Überblick zu wahren. Erst anschließend konnten sie mitsamt persönlicher Habe zu den Sammelplätzen gebracht werden, von wo aus schließlich der Transport in die neue Heimat erfolgte.

Daher waren zehntausende freiwillige und auch bezahlte Helfer auf den 125 Kilometern des Neubauabschnitts jahrelang im Einsatz, was eine Steigerung der ursprünglich veranschlagten Kosten um siebzigtausend Prozent zur Folge hat. Nicht, dass die Bahn ohne Bindung an entsprechende Gesetze widerspenstige Elemente aus Flora und Fauna nicht einfach mit dem Flammenwerfer eliminiert hätte – DB ist ja nicht die Abkürzung für Mutter Teresa -, aber immerhin: Sie hat die Herausforderung angepackt und exzellent gemeistert.

Unter diesen Umständen grenzt es an ein Wunder, dass die Arbeiten bereits so weit fortgeschritten sind. Die Verantwortlichen am BER, für dessen Bau bloß eine Handvoll Aufsichtsräte auf adäquate Posten umgesiedelt werden mussten, könnten sich an so viel Akribie durchaus ein Beispiel nehmen.