Ich klage an


Keiner traut sich mehr, zu flirten.

Das ist irgendwie nicht mehr mein Land: Jetzt wollen die hyperkorrekten Spaßbremsen auch noch das „Upskirting“ verbieten, eine wohlfeile Kunstform, bei der, im natürlich besten Sinne, ahnungslosen Frauen unter den Rock fotografiert wird, und zwar in den Teildisziplinen Rolltreppe, Museum und Tanzbar. Demnächst stellen sie dann wahrscheinlich noch das Atmen unter Strafe oder wie? Es ist eine Schande.

Ich mein, hallo, wir können das alles ruhig auch ganz sein lassen: Blumen, Kerzen, Komplimente. Sollen die Weiber doch versuchen, sich selbst zu befruchten. Dann gibt es eben in Zukunft keine Kinder mehr, nee, sorry, gibt‘s nicht, zu gefährlich – wir haben keinen Bock für nullkommanüscht an den Pranger gestellt zu werden, hingerichtet, kastriert, ermahnt oder lebenslänglich ins Gefängnis, tut uns leid, nicht mehr mit uns, auf Wiedersehen -, und die Menschheit stirbt aus. Wenn es das ist, was die verkniffenen Spinner wollen: können sie haben, kein Problem.

Der absurde Quatsch verunsichert uns Männer doch total. Keiner traut sich mehr, zu flirten. Wer lädt da noch eine nette Dame spontan zum Kaffee ein, um unter dem Kaffeehaustisch diskret ihren Schlüppi abzulichten – das kann ja wohl kaum der Sinn der Sache sein? Das ist doch nur ein Kompliment, das unser Interesse an ihr zeigt: Siehe, du bist schön; ich begehre dich; ich trage dich auf Händen und möchte ein Erinnerungsstück von dir. Für Mein Auge, für mein Herz, für meine Fotogalerie.

Es müsste sie eigentlich doch mit Stolz erfüllen: So ein gut aussehender fünfzig-, oder dreißig- oder achtzigjähriger mit kaum verschimmelten Zähnen und roter Nase zelebriert zu ihren Füßen das Hochpriesteramt des Eros, verneigt sich vor der weiblichen Grazie und baut ihr eine himmlische Brücke hoch in seine iCloud oder einen angemessenen öffentlichen Platz im World Wide Web.

Und was für hässliche Worte die lustfeindlichen Pharisäer in ihren verkniffenen Mündern führen,„Spanner“ oder „Voyeur“ oder „Arschloch“: Geht man so mit Menschen um, die doch einfach nur ihr Menschsein leben wollen? Eine illiberale Verbotskultur, die aus Bewunderern automatisch Verbrecher macht, ist das Ergebnis des Gesinnungsfaschismus‘ der Feminazis und ihrer kleinschwänzigen Stiefellecker.

Heute also die Männer. Und morgen? Morgen dann bestimmt die Frauen, die durch diesen fanatischen Wahnsinn doch vorgeblich geschützt werden sollten. Geschützt wovor denn: etwa vor ihrer eigenen Sexualität? Wenn wir damit wieder anfangen, kommen wir doch in Teufels Küche. Die sexuelle Befreiung, die Studentenbewegung, 1968, Dr. Sommer, nudefarbene Gummibärchen – soll das nun alles umsonst gewesen sein? Stattdessen droht das finsterste Mittelalter: Jeder Fotoapparat, jedes Smartphone, ja, sogar jede auf dem Schuh befestigte Minikamera gerät auf einmal unter Generalverdacht. Wenn es nach diesen selbsternannten Sittenwächtern geht, wird morgen der Kuppeleiparagraf wieder eingeführt, übermorgen die Burka, und am Ende wird jeder, der auch nur an einen Straßenbaum hinpullert, öffentlich gesteinigt. In Deutschland hält mich bald nichts mehr.

Mikroaggressionen


Auf einmal erstaunlich kühn geworden rüttelte ich das Volk auf … (Foto: Wolff)

Der Zug von Dresden nach Berlin ist voll. Eine gute Woche vor der sächsischen Landtagswahl nutzen offenbar Viele einer der letzten Gelegenheiten, den Freistaat freiwillig und als freie Menschen zu verlassen.

Kollegin J. und ich finden dennoch ein leeres Abteil, dessen Old School-Papierschnipselreservierungen ich offenbar missverstehe. Denn nun kommt ein Fahrgast nach dem anderen mit Platzkarte. Spätetstens ab Dresden-Neustadt wird klar, dass hier einer aus der Verlosung fliegt. Ich bin das siebte Rad am Wagen. Jesusmäßig ergebe ich mich und stelle mich in den Gang.

Au weia. Das wird eine lange Fahrt. Über zwei Stunden. Die Tür zum Abteil habe ich aufgelassen, damit jeder mein Leiden sieht und hört. Ich bin nicht der Typ, der mit seiner Opferbereitschaft hinterm Berg hält. „Bescheidenheit ist ein Messer in der Tasche“, sagt man in Montenegro. Mein Anblick soll ihnen weh tun. Sie sollen sich ruhig auch ein bisschen blöd dabei fühlen. Ob sie mal stehen solle, fragt jetzt bereits J..

„Ach nö, lass mal“, sage ich betont wehleidig. „Ich schaff das schon. Einer muss ja. Bis jetzt tut der Rücken auch nur ein bisschen weh.“ Ich ächze. Innerlich freue ich mich darüber, ihnen allen ein schlechtes Gewissen zu bereiten. Die Sitzarschgeigen fläzen da bräsig auf ihren breiten Ärschen, während sich nur einen Meter weiter ein nicht mehr ganz junger Mann zu Tode quält. Den Spaß verderbe ich ihnen. Ich ächze noch lauter.

In einem fort sondere ich solche Mikroaggressionen ab. Mikroaggression ist zurzeit mein neues Lieblingswort. Früher hätte man das „falsches Getue“ genannt, in einer Übergangsphase war auch „Mimimi“ in Mode. Man hat jetzt oft neue Begriffe für alte Dinge und die meisten mag ich nicht so gern wie Mikroaggression.

„Whataboutism“ zum Beispiel. Noch vor kurzem hätte man stattdessen, „Äpfel mit Birnen vergleichen“, oder statt „Narrativ“ einfach „Märchen“ gesagt. Hat doch auch jeder verstanden. Aber wahrscheinlich sollen die Doofen (die nun „Minderprivilegierte“ heißen) nicht mitschneiden, was über sie „ad hominem“ (zu deutsch: grundlos in die Fresse) gelabert wird, ähnlich wie bei Eltern, die bei Tisch vor ihren Kindern in fremden Sprachen über diese reden.

Am Vorabend hatten wir an einer taz-Gala anlässlich der bevorstehenden Wahl teilgenommen. Lustige Texte gegen rechts und so. Ursprünglich sollte die Veranstaltung ja in dem Sportpalast stattfinden, in dem Höcke seine berühmte Rede („Wollt ihr den totalen Krieg“) gehalten hatte: eine Provokation des politischen Gegners, in meinen Augen schon eher eine Midiaggression.

Die ich sofort mit einer Mikroaggression erwiderte, indem ich dem Veranstalter meine Blutgruppe mailte, und mir für den Ernstfall eine christliche Bestattung verbat. Auf diese Weise suggerierte ich, dass ich für eine Handvoll Kröten mein Leben riskierte, und prahlte gleichzeitig damit, dass ich mich dennoch darauf einließ, wider alle Vernunft und obwohl die Überlebenschancen nahe Null wären. Die Faschos würden uns alle killen.

Ich habe für mich ja die Theorie aufgestellt, die meiner Persönlichkeit zugegebenermaßen in die Karten spielt, dass der eigentlich Mutige der Angsthase ist, der über seinen Schatten springt. Und eben nicht irgendein Rambo mit Nahkampfabzeichen, der halt routiniert sein Kampfmaschinenprogramm runterspult: Pumpen, Schleudern, Legen. Einen Bäcker lobt man ja auch nicht dafür, dass er Brötchen bäckt.

Ich kleiner Feigling aber stehe mit weichen Beinchen wacker auf, sobald es wirklich ernst wird, obwohl ich für schwere Eskalationen über herzlich wenig Lösungen verfüge. Statt „herzlich wenig“ hätte man ja früher „keine“ gesagt. Es wird eben alles euphemisiert.

Am Ende stieg die taz-Gala jedoch in einem alternativen Hotspot vor einer gleichgesinnten Blase, die vor mir sogar noch mehr Angst hatte als ich vor ihnen. Keine Störer im Publikum und auch wenige Lacher. Dafür gab es Bier. Auf einmal erstaunlich kühn geworden rüttelte ich das Volk auf und demagogisierte eine letzte große Entscheidungsschlacht zwischen demokratischen und antidemokratischen Kräften herbei. Echt blöd nur, dass keine Rechten da waren. Ich hätte mich kamikazegleich auf sie gestürzt. Schade, so köchelten wir doch bloß wieder im eigenen Saft.

Es war trotzdem ein schöner Abend. Heute bin ich ein bisschen müde. Ein schwerer Seufzer entfährt meiner leicht verkaterten Seele. Mitleidig blicken die anderen im Abteil wiederholt zu mir herüber. Ich merke, wie unbehaglich ihnen zumute ist und werde davon immer fröhlicher, natürlich ohne es zu zeigen. Ihnen steht der Schweiß auf der Stirn, so sehr tragen sie an meiner Last.

„Ah“, sage ich. „Aaaahh.“ Und trete von einem Bein auf das andere. Nach einer Stunde Fahrtzeit habe ich die Frequenz des Gejammers auf halbminütig hochgefahren. Jetzt bietet mir ein Typ aus dem Nachbarabteil an, für mich mal ne Weile zu stehen, und mir solange seinen Platz zu überlassen.

„Nein danke“, sage ich weinerlich, „Nicht nötig, ich kriege das irgendwie hin.“ Ich weiß doch, dass er nur aus Eigennutz handelt: Schließlich habe ich mitbekommen, dass er als Lehrer mit seiner Schülergruppe im Abteil sitzt und die vorgebliche Generosität die einzige Chance darstellt, vorübergehend dem Gestank und Gefasel seiner Teenies zu entkommen. Da hat sich der Pauker aber mal schön verrechnet. Lieber sterbe ich.

Schild, Schild, tot


Hat man die Autobahn heil überstanden … (Foto: Uzi)

Die meisten der großen Warnschilder, die sie entlang der brandenburgischen Autobahnen aufgestellt haben, warnen vor der Benutzung des Mobiltelefons am Steuer und insbesondere dem Lesen und Schreiben von Textnachrichten. „Tipp, tipp, tot“, steht da zum Beispiel neben einem gestellten Selfie von zwei jungen Frauen.

Gerade haben sie noch Faxen gemacht. Jetzt sind sie tot. Das ist sehr schade. Hätten sie doch nicht. Sie würden beide noch leben. Das schmerzt den Betrachter und das soll es auch. Eine Schockwirkung wie auf den Zigarettenpackungen, nur, dass hier nicht das Hässliche gezeigt, das erzeugt, sondern das Schöne, das vernichtet wird. Wie auf dem Schild mit einem Kreuz über „Marie (38), abgelenkt von einer SMS“. Darunter das Bild einer sympathisch lachenden Frau mit einem kleinen Mädchen auf einem Smartphone mit zersplittertem Display. Hoffen wir mal, dass das nur irgendein Kind ist, das zufällig mit aufs Bild geraten ist, und nicht Maries Tochter, sonst wäre die jetzt Halbwaise.

Natürlich nimmt man für die Kampagne keinen einsamen alten Sack. Da würden die Fahrer nur sagen, „macht nichts“, „geschieht ihm recht“, oder, „bis der Technikklaus mit seinen unegalen Fingern eine SMS rausgewürgt hätte, wäre er sowieso an Altersschwäche gestorben.“ Anschließend würden sie rotzfrech die Elektrogeräte auspacken und eine letzte Runde Angry Birds spielen. Am Lenkrad und mit hundertvierzig Sachen.

Nein, es muss schon irgendwas in den Menschen ansprechen, sonst löst es auch nichts aus.

Dumm nur, dass die Schilder wahnsinnig ablenken. Ich fahr jedes Mal fast in die Leitplanke. Das riesengroße Schild. Der Schreck. Die glücklichen jungen Leute. Die schöne Marie. Der Kummer. Vielleicht sollte man mit einem weiteren Schild vor dem ersten warnen: „Pechmarie (28), abgelenkt von einem Schild, das davor warnt, sich beim Autofahren von einer SMS ablenken zu lassen.“ Und davor noch eins: „Doofmarie (18), abgelenkt von einem Schild, das davor warnt, sich von einem Schild ablenken zu lassen, das davor warnt, sich am Steuer von einer SMS ablenken zu lassen.“

Schild, Schild, tot. Und hinter dem dritten Schild dieser Art taucht rechterhand im Graben ein Riesenberg Schrottautos mit Skeletten drin, Gras drüber, dazwischen Spinnweben und darunter Handys auf. Die meisten Akkus sind längst leer, nur auf den letzten funzelt noch das Display: „Wo bist du?“, „Wann kommst du?“, „Ich liebe dich“, „Ich werde dich lecken, bis du schreist“, „Don‘t text and drive ;)“ Zwinkersmiley.

Hat man die Autobahn heil überstanden, und fährt nunmehr durch die Ortschaften, wird es nicht wirklich besser. Die Landtagswahl steht an, und die Wahlplakate sind genauso tückisch. Zum einen, weil sie den Blick auf Gefahrenstellen verdecken und zum anderen, weil man von deren Botschaft abgelenkt wird. Besonders die AfD lässt rätseln, und weil gefühlt dreiviertel der Plakate von ihr sind, rätselt man auf Schritt und Tritt.

„Der Osten steht auf.“ Danke, das ist nett junger Mann. Sie wissen wenigstens noch, was sich gehört. Der Westen hat ja keine Kinderstube. Sehen Sie mal da hinten: da sitzt der in aller Seelenruhe, liest in seiner Westzeitung und und lässt die schwangere Frau neben sich im Gang stehen.

„Unser Land, unsere Regeln.“ Dabei ist das eh schon schwer genug. Ob beim Mensch-ärgere-dich-nicht Schlagzwang gilt, um unheilige Allianzen zu verhindern. Ob beim Schieberramsch die Zehn hoch steht oder eingeordnet. Oder ob man beim „Stadt, Land, Fluss“ auf das Kommando „Stopp“ das jeweilige Wort, das man schon angefangen hat, noch vervollständigen darf, beziehungsweise wie viele Buchstaben man schon mindestens haben muss, denn manche schreiben sonst einfach überall schon mal den jeweiligen Anfangsbuchstaben hin und behaupten dann, sie dürften alles noch fertig schreiben, aber das sind Arschlöcher. Kurz, es ist so bereits ein einziges Regelwirrwarr.

Und wenn dann jetzt noch Leute aus Neukaledonien kommen, die das so kennen, dass man beim Malefiz in bestimmten Ausnahmefällen die Hindernisse überspringen darf, dann kennt sich wirklich keiner mehr aus. Es ist echt nicht böse gemeint, Freunde, aber dann käme man doch in Teufels Küche.

Doch natürlich ist es böse gemeint, denn sonst wäre es ja nicht die AfD. Da sind mir die Schilder auf der Autobahn schon lieber, obwohl die mich immer so traurig machen.

Soko Klauschwein

Besonders schwerer Fall

Nanu? Im Sichtfenster des Schreibens, das ich aus meinem Briefkasten ziehe, steht ein mir unbekannter Absender: AA Berlin, Kirchstraße 6. Eine komische Abkürzung, was kann das wohl sein?

Bestimmt was wichtiges: Das Auswärtige Amt bittet mich um meine kompetente Mithilfe bei der politischen Neuordnung Europas. Oder steht es um mich schon so schlimm, dass sich die Anonymen Alkoholiker ganz entgegen ihrer sonstigen Gepflogenheiten von sich aus bei mir melden? Das haben sie bis dahin bei keinem Menschen je gemacht. Die müssen sich ganz schön Sorgen machen. Ich bin fast ein bisschen gerührt, das gebe ich an dieser Stelle gerne zu.

Oder bei AA dreht es sich um irgendwas mit Scheiße. Die wollen mir Scheiß verkaufen, das hat man ja oft, nur nennen sich dann die Firmen anders. Die hier sind wenigstens ehrlich.

Ich öffne den Brief: Aha, bei AA handelt es sich um die Amtsanwaltschaft. Bestimmt geht es um mein gestohlenes Fahrrad. Endlich haben sie den Strolch gefangen!

Das wurde aber auch mal Zeit: Fast fünf Wochen ist das her. Allerdings häuften sich in den letzten Tagen die positiven Vorzeichen, da in meiner näheren Umgebung immer öfter Polizeisirenen zu vernehmen waren. Da hatte ich schon so ein Gefühl: Die kesseln den jetzt langsam ein; lange kann das nicht mehr dauern. Et voilà!

Ich beginne zu lesen und meine Miene verfinstert sich. Enttäuschung macht sich breit. Es geht in der Tat um den „Tatvorwurf: Besonders schwerer Fall des Diebstahls.“ Doch „die eingeleiteten Ermittlungen haben bisher leider nicht zur Feststellung des Täters geführt. Das Verfahren ist daher eingestellt worden.“

Ja, spinnen die denn? „Eingeleitete Ermittlungen“ – ich bin mir ja nicht sicher, ob die alles versucht haben. Hausdurchsuchungen, Check-Points, Rasterfahndung, Verhängung des Ausnahmezustands, allgemeine Ausgangssperre. Immerhin handelt es sich um „besonders schweren Diebstahl“, das schreiben die doch schließlich selbst, das habe ich ja nicht erfunden.

Ich stelle mir die Elitebeamten der eigens gebildeten SoKo „Klauschwein“ im „LKA VII für besonders schwere Diebstähle“ vor. Im Bürobunker direkt unter der Amtsanwaltschaft in der Moabiter Kirchstraße hängt die Wand voll mit Bildern vom Tatort, dem Fahrrad des Opfers, dem Opfer sowie den hundert Hauptverdächtigen. Dazwischen überall bekritzelte Post-it-Zettelchen und mit verschiedenfarbigen Eddings gezogene Verbindungspfeile.

Irgendwo dort unter all den Zetteln und Pfeilen müssen sich die Elitebeamten verfranst und die Spur verloren oder gar nicht erst gefunden haben. Und daraufhin haben diese emsigen Bienchen der Bürgersicherheit sich verzweifelt die Haare gerauft, resigniert den Bettel hingeschmissen und mir jenen Brief geschrieben, einen schnöden Formbrief wie ich nun sogar befürchte.

Herrschaften, so geht das nicht. Es ist doch wohl überhaupt kein Problem, sämtlichen einschlägig bekannten Fahrraddieben im Umkreis von, sagen wir, fünfzig Kilometern mal einen klitzekleinen Besuch abzustatten: „Herr Rabe-Langfinger: Wo waren Sie am 10. Juni 2019 zwischen 12 Uhr 30 und 14 Uhr 30?“

Und er antwortet: „Ich war noch nie in der Hasenheide. Und das Fahrrad habe ich auch nicht gestohlen.“

„Wer hat denn etwas von Hasenheide gesagt? Oder von Fahrrad?“, merkt die erfahrene und scharfsinnige Kommissarin gespielt beiläufig an. Das macht sie wirklich sehr geschickt. Das muss man ihr lassen.

„Das Fahrrad, äh …“ Der Verdächtige gerät ins Stottern. Seine braunen Zähne klappern im Takt der Lüge, in den aufgerissenen Mundwinkeln bilden sich schaumige kleine Spuckewülste. Ekelhaft sieht das aus. „… äh, Sie doch. Ich nicht. Ich habe gar nichts gesagt.“

Doch er merkt, dass er längst in der Falle sitzt, rennt plötzlich los, und wird beim Versuch, über die Zwischenmauer zum Hof des Nachbarhauses zu türmen, von hinten in beide Beine getroffen. Die Schreie klingen entsetzlich. Der arme Hund wird nie wieder richtig laufen können. Im Keller wird das Rad sichergestellt. Leider nicht meins, schade. Die Jagd geht weiter.

Ostsee ist Rostsee

Ohne Hitler hätten wir jetzt nur Landstraßen.

Als wir die Autobahn verlassen und uns auf der Landstraße unserem Reiseziel an der Ostsee nähern, ist plötzlich alles voller lebensmüder Idioten. Motorradfahrer, die übermütige Fahrkunststückchen zeigen und unvorbereitet überholen. Die denken, ein Motorrad wäre ein Spielzeug, sie wären weiß Gott wie gut, und weiß der Teufel wie unsterblich.

Apropos. Ich kriege zwar jedes Mal zu viel, wenn ich Jens Spahn nur sehe, aber die Idee einer Widerspruchslösung bei der Organspende finde ich gut. Ebenso natürlich sein Engagement für das Verbot sogenannter Konversionstherapien. „Es ist eben nicht immer alles nur schlecht“, doziere ich vor meiner Verlobten. „Ohne Hitler hätten wir jetzt zum Beispiel nur Landstraßen.“

Sie würde sich sehr freuen, sagt daraufhin die Verlobte, wenn ich nur mal einen einzigen Tag ohne Nazivergleich auskäme, aber ich fürchte, auf diese Freude kann sie lange warten.

Das Hotel ist dann relativ old school; für den Parkplatz muss man extra bezahlen, ebenso wie für die Kurtaxe, diese urdeutsche Fantasy-Maut allein fürs Dasein. Das Personal, vor allem in der Gastronomie, wirkt oft erstaunlich pampig und wie von einer geheimnisvollen Bitterkeit erfüllt. Mal möchte man ihnen zurufen, „Freunde, ihr müsst das nicht machen, keiner zwingt euch dazu“, mal will man sie einfach nur in den Arm nehmen, ihnen über das Köpfchen streicheln und sanft zuflüstern: „Ja. Ist gut. Ist alles gut. Lass es raus. Tränen sind gut …“

Am Abend ereilt uns der nächste Schock. Wir haben schon extra unsere bequemen Fernsehhöschen angezogen, aber das Netz auf dem Zimmer kann man vergessen. W-Lan nur im Foyer, auf den Zimmern soll das gute Buch regieren. Kein Netflix möglich. Scheiß-Osten.

Scheiß-Osten.

Man ist hier auf ältere Kundschaft spezialisiert. Der ganze Ort ist ein Disneyland für Senioren. Dazu noch ein paar Familien mit Kleinkindern, mittelalte Berliner Lesbenpärchen in wetterfester Funktionskleidung und vor allem Sachsen. Die Sachsen brauchen kein Netflix; die sind ja froh, dass sie nun endlich ARD gucken können, damit sind sie völlig ausgelastet. Neue, bunte Welt. Es sind dieselben Sachsen, die schon in der DDR die Ostseestrände überrannt haben. Deshalb wirken die Einheimischen so angefressen. Ich kann sie verstehen.

Der ganze Ort ist ein Disneyland für Senioren.

Am nächsten Morgen im Frühstückssaal beäugen uns die Alten misstrauisch und wickeln die Henkel ihrer Handtaschen noch ein drittes Mal um die Stuhllehnen: Wir sind um diese Zeit die einzigen Jugendlichen unter siebzig Jahren; erst später werden noch ein paar Irrläufer dazustoßen. Zinnowitz – wo der Tod Urlaub macht.

Wir werden platziert, es gibt echten Bohnenkaffee. Non c‘è il cappuccino? Die Verlobte greift sich an den Kopf. Was für eine kaputte Zeitmaschine hat uns bloß hier ausgespuckt? Seit meiner Kindheit habe ich nicht mehr in einer derart spießigen Umgebung Urlaub gemacht. Damals hätte man nicht „spießig“ dazu gesagt, sondern einfach gar nichts, denn was anderes gab es nicht – es waren halt die 1970er Jahre.

Nun aber fix zum Strand. Strandkorb mieten. Da muss man schnell sein, die erste Reihe zum „Meer“ hin ist bereits von Rentnern okkupiert – gelobt sei die senile Bettflucht. „Moin, moin“, begrüße ich die Nachbarn mit schlecht imitiertem sächsischen Akzent, „wir kommen auch schon seit dem Mauerbau hierher.“

Spießigkeit steckt offenkundig an. Deshalb schreibe ich hier auch immerzu „Verlobte.“ Im Strandkorb Nr. 34, Mittelreihe hinten, versuchen wir die Atmo ironisch zu brechen. Und zwar mithilfe einer THC-Pille, die ich neulich von dem Kalifornier abgestaubt habe. Was schon bei denen der heiße Scheiß ist, ist für mich in dieser Darreichungsform sowieso neu. Immerhin kommt so endlich mal der Pillenteiler zum Einsatz, den ich irgendwann angeschafft, aber nie gebraucht habe.

Eine Halbe ist wohl etwas unterdosiert. Wir sind dann auch nicht richtig breit, sondern fühlen nur so eine eigenartige und durch nichts zu begründende, stille Grundzufriedenheit, was eigentlich nicht übel zu dem schönen Strandtag passt. So muss sich ein gelungener Lebensabend anfühlen. Die Sonne scheint auch auf welke Haut. Sogar doppelt soviel, wegen der Falten. Auch das Wasser ist auf einmal gar nicht mehr kalt, so dass ich denke: Was für eine geile Methode im Gegensatz zu Joints, die im Hals kratzen, und erst labert man Müll, dann schreibt man den auf und am nächsten Tag reißt man die Seiten peinlich berührt aus dem Notizbuch.

Eine Halbe ist wohl etwas unterdosiert.

Ich glaube, denke ich mir in meinem Strandkorb mit Füße hoch und Blick aufs Meer, so ließe sich das aushalten. Ich könnte gut weiter bis zum Lebensende täglich halbe Tabletten einnehmen, in so einer Schachtel mit Fächern für Morgens, Mittags, Abends; so als hätte ich eine chronische Krankheit und im Grunde habe ich ja auch eine: schlechte Laune. Die ist jetzt erst mal weg – so geht sogar Ostsee.

So ließe sich das aushalten.