Fünf Quadratmeter Deutschland

Fünf Quadratmeter Deutschland

„Die Mutter der Dummheit ist immer schwanger!“ (Afghanische Weisheit)

Überall ist nun Ferienzeit. Schon in Freiburg, wo ich in den aus Basel kommenden Zug steige, ist es ohne Reservierung schwer, einen Platz zu finden. Ich muss also etwas genauer gucken und finde tatsächlich auch ein leeres Abteil, in dem fünf Plätze reserviert sind: von Offenburg, eine Station hinter Freiburg, bis nach Berlin. Ich setze mich auf den einzigen nicht reservierten Sitz.

Dann kommt die Frau mit dem Kinderwagen. In gewissem Sinne ist sie die Frau meines Lebens, denn so eine habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht getroffen. Sie hat fünf Plätze reserviert, einen zu wenig, wohl in der Hoffnung, dass der freie sechste übersehen wird, und jetzt ist sie spürbar sauer, dass ich da bin. Drei Plätze verstünde ich ja, sie braucht einen für sich und zwei für Kinderwagenaufsatz samt Inhalt. Allerdings benötigt sie darüber hinaus offenbar noch drei weitere für ihre Ruhe. Aber auf einem davon sitze jetzt ich. Meine Anwesenheit ist jedenfalls Grund genug, meinen Gruß beim Öffnen der Abteiltür schlicht nicht zu erwidern. Auch akzeptiere ich ihre bittere Enttäuschung über das harte Los, das Abteil nur zu fünf Sechsteln zu besitzen, als guten Grund, mir beim Hereinwuchten von Karre, Kind und Kegel, heftig auf den Fuß zu treten. Die Entschuldigung erfolgt pro forma und ins Leere.

Mag ja sein, dass eine kinderlose Null wie ich entsprechend auch behandelt werden will, doch als ausschließliche Handlungsmaxime greift das hier zu kurz, denn da draußen suchen schließlich auch noch andere Eltern mit kleinen Kindern verzweifelt Plätze. Tja, selber schuld, warum haben diese Rabenvögel nicht ebenfalls pro Arsch fünf Plätze reserviert? Und ich kann ja leider nicht stehen, wegen meiner Kriegsverletzung.

In Karlsruhe, fragen zwei Leute, ob die Plätze frei seien, die ja immerhin unbesetzt wirken und sowieso auch sind. Die Reservierungszeichen sind mittlerweile längst erloschen. Nein, sagt die Frau, die seien reserviert. Sorry. Nee, sorry natürlich nicht – das war nur mein persönlicher Wunschtraum. Sie lässt nicht zu, dass hier noch mehr lästige Fahrgäste das stille Glück der Kleinstfamilie stören. Denn gäbe man einmal nach, bräche der Wall gegen die Außenwelt endgültig und das Abteil würde von noch mehr Hunnen mit Fahrschein und Rucksack überschwemmt. Ich staune nur noch.

Konsequent über Bord geworfener Anstand begleitet uns über siebenhundert Kilometer verbrannter Erde hinweg, wo einst der Hafer menschlichen Miteinanders blühte, wuchs und gedieh, von Offenburg nach Berlin, und weil Prenzlauer Berg keinen eigenen Bahnhof hat, wird sie am Hauptbahnhof ins Taxi steigen müssen. Kein Gruß, kein Lächeln, kein Trinkgeld. Ja ja, ein Klischee und hier kommt gleich noch ein weiteres – Muttilein, in your face: Leichenblass, trotz ihrer Jugend verhärmt und spillerig wie ein Nacktmull, eine Persönlichkeit aus nichts als Knochen, vor allem Ellbogenknochen, die noch extern auf ein Baby erweitert werden – na, und, sollte man fragen, was kann sie denn dafür, gestresst und alleinerziehend, vielleicht ist oder war sie krank, fühlt und findet sich so nun mal gut, oder frisst eventuell auch einfach weniger Scheiße als ich, und was bitte geht es mich überhaupt an … aber es fällt schwer, unter Ausschluss lookistischer Denkmuster zu urteilen, wenn Ausstrahlung und Verhalten derart deckungsgleich sind. Und weil es eben so schwer ist, und man auch einfach mal loslassen soll, wenn die Rücksicht wehtut und die Nachsicht Magengeschwüre verursacht, frage ich mich gleich auch noch, was das um Gottes Willen für ein hominoider Wurm gewesen sein muss, der dieses asoziale Knochenhuhn geschwängert hat.

Zum Glück setzt sie sich nun vom Sitz direkt neben mir weg und hinüber auf den Platz schräg gegenüber – immerhin verfügt sie ja über ein breites Portfolio verschiedenst gelegener Sitzmöglichkeiten –, denn während der Fahrt durch den Tunnel leuchtet der Monitor so stark im Dunkel, dass ich Angst habe, dass sie mitlesen kann. Im Bordbistro gibt es Sauertopf im Tagesangebot.