Ein Buch mit leeren Seiten

Das nächste Mal fahren sie bestimmt rücksichtsvoller.

Jedes Mal, wenn Radfahrer auf dem Bürgersteig für meinen Geschmack zu dicht an mir vorbeifahren, bekommen sie von mir ein in die Seite gebrummeltes „Arschloch“ mit auf den Weg. Es ist wie ein Reflex.

Und so habe ich den Fluch schon auf den Lippen, als sich eine Frau mit so einem sperrigen Blagen-Bike zwischen mir und einem Baugerüst hindurchquetschen möchte. Doch stattdessen, ich weiß nicht warum, lasse ich sie aus einer Eingebung heraus stumm passieren, ja trete sogar noch freiwillig ein Stück beiseite. Erst dann erkenne ich in ihr die Freundin einer Kollegin. Ein Gruß, ein Lächeln und weiter. Sie ahnt nicht, welchem Schimpf sie knapp entgangen ist. Puh.

Umso mehr, da ich in solchen Fällen zu gegenderten Beleidigungen neige. Als eine mir flüchtig bekannte Radiomoderatorin mich mit ihrem Rad mal ohne hinzugucken übel schnitt, entfuhr mir automatisch ein, „och nö, Häschen.“ Sie drehte sich kurz um und sagte, „sorry.“ Ich lächelte falsch und hoffte, sie hätte mich nicht gehört. Sonst hätte sie sich kaum entschuldigt, weil dann wären wir ja quitt gewesen.

Man kann das Kind ruhig beim Namen nennen: Das ist Sexismus. Ich weiß das. Ich bin kein Heiliger, auch wenn die meisten das von mir denken, das ist mir schon klar. Für sie war ich immer nur Ikone, silbergraues Sexsymbol, Liebling der Massen. Die enttäusche ich natürlich, doch ich will hier wenigstens dieses eine Mal ehrlich sein.

Natürlich niemals das F-Wort – zum einen prinzipiell nicht und zum anderen wäre das hier sowieso viel zu groß -, aber so etwas wie ein halbironisches „Häschen“ kann mir schon entschlüpfen. Das fände ich normalerweise auch nicht so toll, doch genau deshalb mache ich das ja. Sie lernen was und ich kann die alte Sau rauslassen – eine klassische Win-win-Situation. Vierzigjährigen rufe ich im Wilden Westen des Straßenverkehrs hingegen gerne mal ein „ach nee, Muttchen“ zu, im gespielt gutmütigem Tonfall des in der Routine bitter gewordenen Altenpflegers, denn obwohl oder eben gerade weil auch die mittlerweile fast schon wieder meine Töchter sein könnten, verletzt es in seiner absurden Anmaßung ganz besonders, und das ist schließlich der Zweck. Sexismus, Ageismus und ein bisschen Lookismus in nur einem Wort – ein eleganter, ein großartiger Kniff wie ich meine. Besser noch als das F-Wort. Das nächste Mal fahren sie bestimmt rücksichtsvoller.

Ich beglückwünsche mich zu der zufälligen Ausnahmeentscheidung, die Frau nicht angeraunzt, sondern ihr in einem unerklärlichen Anflug von Milde im Gegenteil sogar noch Platz gemacht zu haben. Und das, obwohl ich in dem Moment noch nicht mal ihr Gesicht gesehen hatte.

Was für ein Glück! Denn andernfalls hätte sich das doch nur rumgesprochen: „Neulich hat mich so ein Typ am Hermannplatz vollkommen grundlos mit ‚blöde Sau‘ beschimpft. Und weißt du, wer das war? Dein komischer taz-Kumpel da, dieser Olli, der hat mich wohl erst nicht erkannt. Und dann aber so rumgenuschelt von wegen nicht gemeint und so. Also ich fand den ja schon immer spooky.“

Nein, nicht auszudenken. Einmal mehr stelle ich fest, wie wenig ich möchte, dass die Leute rausbekommen, wie ich wirklich bin. Das ist deswegen merkwürdig, da man mir meistens recht gut anmerkt, wie es in mir aussieht: Ob ich verlegen, wütend, ungeduldig oder aufgeregt bin. Nur, wenn ich mich freue, was ohnehin selten geschieht, weiß ich das gut zu verbergen.

Ansonsten aber bin ich ein offenes Buch, wenngleich mit leeren Seiten. Wenn ich es mir recht überlege, bin ich schon ein reichlich widerwärtiger Mensch. Doch, Hand aufs Herz, wer ist das eigentlich nicht?

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