Der Fernsehexperte Oliver Kahn fand hinterher mal wieder alles in Ordnung. Sergio Ramos sei halt ein Fuchs, delirierte er im Studio, sei mit allen Wassern gewaschen und „wisse sich zu wehren.“ Das war noch die alte deutsche Fußballschule, ein Blitzkrieg reloaded: Scheiß auf das Spiel – wer Spaß will, soll ein Witzbuch lesen – und der Fiesere möge gewinnen.
Was war geschehen?
In einer Szene, in der die taz in Kahnscher Manier ein „Ausloten der Grenzbereiche“, der Jurist jedoch eine schwere Körperverletzung erkannte, entschied Ramos das Spiel für seine Mannschaft. Er liquidierte den gefährlichsten Stürmer des FC Liverpool, Mohamed Salah, und das ging so: Wie einen Schal wickelte er den deutlich schmächtigeren Gegenspieler um sich, zog noch einmal entschlossen straff, als hätte die Großmutter ihn ermahnt, sich bloß nicht zu erkälten, rammte das Männlein dergestalt ungespitzt in den Boden und planierte dann das unter ihm liegende Opfer so lange und ausgiebig, bis er das lang ersehnte Knacken oder Reißen in der Schulter des Patienten hörte, beziehungsweise als erfahrener Vorstopper auch nur spürte. Es war vollbracht, rien ne va plus.
Kein Foul natürlich und Ramos‘ Mitspieler waren nicht so unsubtil, nach der Szene jubelnd auf ihren kriminellen Kameraden loszustürmen. Salah wälzte sich derweil bitterlich schluchzend auf dem Rasen und verließ kurz darauf das Spielfeld. Eine halbe Stunde war gespielt und Liverpool bis dahin klar besser gewesen. Danach nicht mehr. Die Medien verkündeten, Salah habe „sich verletzt“, das klang wie ein ungeschickter Küchenunfall, selbst verschuldet. Stimmt aber nicht. Sergio war’s.
Jammerschade auch um den Spieler Ramos. Der war schließlich mal ein großartiger Abwehrspieler, der Beste, ein Zugochse für die Moral des gesamten Teams, wenngleich er mit dem Wort Fairness noch nie viel anzufangen wusste, aber das galt und gilt vermutlich für alle anderen Buchstabenkombinationen auch.
Nun nimmt mit dem Alter die Schnelligkeit ab, die Souveränität, darunter leidet auch die Technik. Die schwindenden Mittel versucht der Betroffene mehr denn je durch fußballfernes Handeln zu kompensieren. Es ist die uralte Mär vom Machtverlust. Er ist der zahnlose Löwe, der mit Glück im eigenen Rudel noch ab und zu ein Jungtier erdrossseln kann, wenn die Löwin schläft; die geknickte Edelfeder, die von einer Bierkiste herab einer Handvoll anderer Wichte rassistischen Kryptokram predigt; die Eintagsfliege, deren letzte Amtshandlung der abendliche Sturz ins Rotweinglas ist.
Und so wird Ramos immer mehr zum „Enforcer“, wie man diesen Spielertyp beim Eishockey nennt, der mit unfairen Aktionen systematisch das gegnerische Spiel zerstört. Das sind böse, aber irgendwo auch bedauernswerte Menschen. Für oft nur eine halbe Million Dollar im Jahr leiden sie nicht selten unter Depressionen, Süchten und bleibenden Hirnschädigungen durch die von ihnen selbst initiierten Prügeleien.
Apropos Hirnschädigungen. Real Madrid war schon immer ein Sammelbecken für Arschlöcher Individualisten aller Art. Obwohl man durchlässig bleibt, denn so wie bei den Glasgow Rangers längst auch Katholiken mitspielen dürfen, beschäftigt Real nun sogar Profis, die noch nie wegen eines Vergewaltigungsvorwurfs Schweigegeld gezahlt haben. Da zählt dann tatsächlich nur die Leistung. Dasselbe gilt auch für Kicker ohne Stuntman- und Schauspielausbildung – schließlich genügt es, wenn acht Schwalbenkönige auf dem Platz stehen.
Ich erinnere nur an den legendären Mexikaner Hugo Sanchez, unerreichter Spezialist für Schwalben und versteckte Fouls, einer der linkesten ausgebufftesten Typen aller Zeiten – dagegen loteten Hitler und Stalin mit offenen Karten fromm die Grenzbereiche aus. In der aktuellen Mannschaft ist zum Beispiel der Erpresser Karim Benzema zu nennen. Oder Ronaldo, ach, da muss ich gar nichts sagen und wiederhole stattdessen einfach nur den Namen: Ronaldo.
Doch vergessen wir nicht Oliver Kahn. Der hat zwar nie für Madrid gespielt, aber strange Charaktere gibt es ja auch noch jenseits des Estadio Bernabeu. Denn Real ist zwar ein großer Club, aber so groß nun auch wieder nicht, um sämtliche Asis dieser Welt in seinen Spielerkader aufzunehmen. Nachdem er seinen Blutbruder Ramos gründlich gesegnet hatte, mokierte sich besagter Kahn jedenfalls noch lang und breit über Salahs Tränen.
Er verstehe nicht, so Kahn, „warum die heutzutage alle weinen.“ Ein Junge weint nicht. Nicht auf dem Platz. Die sollen das gefälligst in der Kabine machen. Und kacken auf dem Klo. Und essen im Esszimmer. Und ficken im Bett. Wir lebenden Leichen, wie sie die 60er Jahre von der Stange produzierten, können ja nichts für dieses seltsame Loch in der Seele. Aber das Napola-Gewäsch dann noch als Wert an sich zu verteidigen, ist ebenso anachronistisch, wie die Straftäter, die Kollegen absichtlich verletzen, um dem eigenen Team einen Vorteil zu verschaffen, als clever abzufeiern.
Er denkt wohl, die jungen Spieler weinten, weil sie sich wehgetan haben, und nicht wegen der Enttäuschung, dass ihnen das wichtigste Spiel ihrer Karriere geraubt wurde. Doch wie erkläre ich einem Psychopathen Empfindungen? Körperlich sind die heutigen Spieler der erhöhten Anforderungen wegen ohnehin viel härter als Kahn und Konsorten. Die rauchten und soffen vor und nach dem Spiel – während der Partie lungerten sie auf dem Rasen herum wie Golfspieler, bloß ohne deren lange Laufwege zum nächsten Grün.
Aber immerhin weinten sie nicht, außer der Weinbrand war alle. Dabei ist doch wirklich egal, warum jemand heult. Und wenn Mo Salah öffentlich weinen würde, weil er sich das Fingerchen an dem Teelicht verbrannt hätte, auf dem er seiner Puppe eine Suppe hatte kochen wollen – na und, was geht Kahn das an?