Das wohl häufigste Plakat für die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus zeigt einen unscheinbaren Brillenträger mit dem Viertellächeln einer Mona Lisa. Neben dem Gesicht steht, „Michael Müller“, sonst nichts. Das hinterlässt Ratlosigkeit: Wer ist dieser Müller und was will er uns sagen? Manche munkeln, hinter Namen und Erscheinung verberge sich der aktuelle Bürgermeister – doch nichts genaues wisse man nicht. Andere kontern gleich mit einer Gegenfrage: „Was ist denn eigentlich mit diesem Wowereit? Von dem hört man irgendwie gar nichts mehr.“
Somit wäre es tatsächlich sinnvoll, den Mann einmal über Insiderkreise hinaus bekanntzumachen. Am besten in einfachen, klar verständlichen Sätzen: „Das ist Michael Müller. Herr Müller ist der Regierende Bürgermeister von Berlin. Er möchte Wohnungen bauen/Den ÖPNV fördern/Den totalen Krieg/Weeß icke.“ Was Politiker normalerweise eben so versprechen.
Doch bis auf wenige Ausnahmen wird in diesem Jahr auf Aussagen verzichtet. Parteiübergreifend und mehr sogar noch als bei früheren Wahlen. Der FDP-Spitzenkandidat Sebastian Czaja funkelt in einen Nimbus aus psychedelischen Farbexplosionen getaucht, doch nach enigmatischen Gesichtspunkten toppt der Text selbst noch die Optik dieses Horrortrips: „Plan B. Zeit für das nächste Berlin.“ Gruselfaktor: Eins. Information: Sechs. Plan: Null. „Frank Henkel für Berlin“, tut es wiederum der CDU-Chef Henkel jenem ominösen Müller gleich und verzichtet auf jedes weitere Wort. Gar nicht dumm, denn die Geschichte lehrt, dass die Namen der Bösen noch wie Wespenhonig im Gedächtnis kleben, wenn die der Guten längst vergessen sind. „Freilandhaltung auch für Großstadtmenschen“, fordern vollkommen suspekt die Grünen und werden doch von anderen unterboten: „Berlin kann mehr.“ Was? „Starkes Berlin.“ Warum? „Berlin bleibt weltoffen.“ Warum nicht? „Berlin bleibt gradlinig.“ Wie? „Berlin ist Blablabla“ – die Straßen der Stadt sind dieser Tage ein verwunschener Zauberwald: Eisernen Bäumen des Irrsinns gleich raunen die Laternen dem Wanderer kryptische Botschaften zu, wie um ihn in die Sümpfe zu locken, wo er vor Durst und geistiger Umnachtung elendiglich zugrunde geht. Zumindest aber wird er nicht wissen, wo er sein Kreuz zu machen hat.
Produktwerbung sieht anders aus. Zeigen wir das mal beispielhaft an den beiden, von uns nur zu diesem Zweck erfundenen, Waschmittelmarken Aprilfrisch und Maienduft. Um sich auf dem Markt durchzusetzen, würde jede der konkurrierenden Firmen versuchen, sich von der jeweils anderen abzuheben, indem sie ihr gesamtes Arsenal an Alleinstellungsmerkmalen, Vorzügen, Argumenten und Scheinargumenten auffährt. Aprilfrisch würde auf seinem Plakat prahlen, „Wäscht besonders weiß“, oder ,„Ist total umweltschonend“, Maienduft mit praktischen Vorzügen kontern: „Im Sparkarton mit hartem Henkel.“ So geht Werbung.
Die Parteien interessiert das herzlich wenig. „Kauf mich eben oder lass es bleiben, Fucker“, ist ihre dem Bürger verächtlich vor die Füße gerotzte Botschaft. Nur, um diese Frechheit zu verbreiten, haben sie auch noch tausend Bäume totgemacht, selbst die Grünen. Weil man das eben immer so gemacht hat: Wahlkampf, Plakate, Wahl. Das Geld ist nun mal da – soll man das jetzt etwa den Armen schenken oder anderweitig verbrennen? Es ist, als gäbe es in der Hauptstadt nichts zu sagen. Keine Pläne. Keine Hoffnung. Keine Wünsche. Keine Zukunft. Kein Gott. Kein Staat. Keine Arbeit …
Die Parteien verweigern durch die Bank die Aussage, als stünden sie vor dem Ankläger – und damit haben sie vermutlich gar nicht mal so unrecht. Daher möchte man eigentlich nichts sagen, sich bedeckt halten, Pokerface bewahren. Nach der Wahl wird man das ändern, eventuell, vielleicht.
Offenbar zieht sich Berlin nun wieder in die erbarmungswürdige Nische zurück, aus der es vor nicht mal dreißig Jahren zurück ans Licht der Welt gekrochen kam: die eine Hälfte ein pathetisch aufgeblasenes Provinzkaff voller trunk- und drogensüchtiger Schmarotzer am Tropf der BRD – die wichtigsten Themen waren zu gleichen Teilen, welche Politiker ein Bordellbetreiber namens Otto Schwanz bestach und welches prominente Zootier gerade Geburtstag hatte; die andere Hälfte ein postapokalyptisches Riesengefängnis aus Trümmerhäusern, zwischen denen graugesichtige Zombies herumschlurften und sich gegenseitig verpfiffen, ähnlich wie wir es aus John Carpenter’s dystopischem Film „Die Klapperschlange“ kennen.
Die freiwillige Selbstdemontage erlebt ausgerechnet dort ihren Tiefpunkt, wo noch rudimentäre Inhalte transportiert werden: So in den kurzen Wahlspots der Grünen Neukölln, in denen „Karl und Nina“, zwei blutleere Hybride aus Hipstern und Theologiestudenten, ihre mahnenden Zeigefinger schonungslos in winzigkleine Wunden legen: Es gibt nicht genügend Fahrradbügel, an die man sein Rad anschließen kann. Der Landwehrkanal ist schmutzig und der Bus M41 oft verspätet. Wenn sie kiffen wollen, meckert der Schutzmann – laut Karl und Nina ein „Ganja-Hater“ – den Ausdruck hätte meine Oma selig ohne Zögern „flott“ genannt. Die Radwege sind zu holprig. Aus dem Sauerland, wo Nina herkommt (und wohin sie zu ihrem eigenen Besten hoffentlich bald zurückgeht), ist sie „makellose Straßenbeläge gewohnt.“ Diese Vergartenzwergisierung politischer Themen ist fast schlimmer als die Leere der Plakataussagen. In die könnte man mithilfe von ein wenig Ganja immerhin noch ein Lot Brisanz hinein phantasieren.
Wie kann es sein, dass in Berlin sogar die Müllabfuhr – „Eimer für alle“ – mit Leichtigkeit schafft, woran die Parteien in schon stalingradeskem Ausmaß scheitern: eine Imagekampagne entwickeln zu lassen, die zugleich zeitgemäß, charmant und informativ wirkt. Und neben der Stadtreinigung BSR gelingt dasselbe auch den Berliner Verkehrsbetrieben BVG: „Nicht mal deine Mudda holt dich morgens um 4:30 Uhr ab.“ Was mögen sich die in den Wahlkampf involvierten Agenturen bloß dabei gedacht haben?
Auf der Suche nach den Gründen nähert sich wie ein scheues, kleines Tier die Erkenntnis, schnuppert sichtlich angewidert an den Zusammenhängen und schlägt dann doch entschlossen ihre spitzen Zähnchen hinein: Die Parteien wollen gar nicht gewählt werden. Nach einer Analyse des kargen Restinhalts, der sich aus der Gesamtheit der Plakate extrahieren lässt, dürfte es in den Köpfen des politischen Berlins nämlich wie ein Blitz eingeschlagen haben: O Mann, Alter, diese Stadt scheint ja ganz schöne Probleme zu haben. Stell dir vor, du musst diesen zerschlissenen Sack voll bunter Flöhe regieren – das ist doch Last Exit Arschkartenhausen: Keine Kohle weit und breit, niemand weiß, wer der Bürgermeister ist, und überall fehlen Flughäfen und Fahrradbügel. Wer um Gottes Willen sollte sich so etwas ans Bein binden? Da hast du erst mal vier Jahre lang null Fun und hinterher meckern trotzdem wieder alle rum.
So schiebt man den schwarzen Peter lieber weiter und fährt eine gezielte Strategie der Abschreckung. „Kauft mich nicht! Wer mit Aprilfrisch wäscht, pult hinterher stinkende Stoffreste aus der Trommel“, warnen die einen. „Pfoten weg von Maienduft! Leichtentzündlich! Hochtoxisch! Antisemitisch! Radioaktiv!“, kreischt die Konkurrenz in Panik, da ihr die zum Greifen nahe Niederlage von den Aprilfrisch-Arschgeigen entrissen zu werden droht. Denn natürlich liegt hier kein Versagen der beauftragten Werbeagenturen vor, sondern vorzügliche Arbeit. Die am Ende aber doch nichts bringt, da alle Beteiligten derart großartige Negativergebnisse geliefert haben, dass die sich am Ende gegenseitig aufheben werden in ihrem Wettstreit der Verweigerung.