Wettstreit der Verweigerung

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Das wohl häufigste Plakat für die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus zeigt einen unscheinbaren Brillenträger mit dem Viertellächeln einer Mona Lisa. Neben dem Gesicht steht, „Michael Müller“, sonst nichts. Das hinterlässt Ratlosigkeit: Wer ist dieser Müller und was will er uns sagen? Manche munkeln, hinter Namen und Erscheinung verberge sich der aktuelle Bürgermeister – doch nichts genaues wisse man nicht. Andere kontern gleich mit einer Gegenfrage: „Was ist denn eigentlich mit diesem Wowereit? Von dem hört man irgendwie gar nichts mehr.“

Somit wäre es tatsächlich sinnvoll, den Mann einmal über Insiderkreise hinaus bekanntzumachen. Am besten in einfachen, klar verständlichen Sätzen: „Das ist Michael Müller. Herr Müller ist der Regierende Bürgermeister von Berlin. Er möchte Wohnungen bauen/Den ÖPNV fördern/Den totalen Krieg/Weeß icke.“ Was Politiker normalerweise eben so versprechen.

Doch bis auf wenige Ausnahmen wird in diesem Jahr auf Aussagen verzichtet. Parteiübergreifend und mehr sogar noch als bei früheren Wahlen. Der FDP-Spitzenkandidat Sebastian Czaja funkelt in einen Nimbus aus psychedelischen Farbexplosionen getaucht, doch nach enigmatischen Gesichtspunkten toppt der Text selbst noch die Optik dieses Horrortrips: „Plan B. Zeit für das nächste Berlin.“ Gruselfaktor: Eins. Information: Sechs. Plan: Null. „Frank Henkel für Berlin“, tut es wiederum der CDU-Chef Henkel jenem ominösen Müller gleich und verzichtet auf jedes weitere Wort. Gar nicht dumm, denn die Geschichte lehrt, dass die Namen der Bösen noch wie Wespenhonig im Gedächtnis kleben, wenn die der Guten längst vergessen sind. „Freilandhaltung auch für Großstadtmenschen“, fordern vollkommen suspekt die Grünen und werden doch von anderen unterboten: „Berlin kann mehr.“ Was? „Starkes Berlin.“ Warum? „Berlin bleibt weltoffen.“ Warum nicht? „Berlin bleibt gradlinig.“ Wie? „Berlin ist Blablabla“ – die Straßen der Stadt sind dieser Tage ein verwunschener Zauberwald: Eisernen Bäumen des Irrsinns gleich raunen die Laternen dem Wanderer kryptische Botschaften zu, wie um ihn in die Sümpfe zu locken, wo er vor Durst und geistiger Umnachtung elendiglich zugrunde geht. Zumindest aber wird er nicht wissen, wo er sein Kreuz zu machen hat.

Produktwerbung sieht anders aus. Zeigen wir das mal beispielhaft an den beiden, von uns nur zu diesem Zweck erfundenen, Waschmittelmarken Aprilfrisch und Maienduft. Um sich auf dem Markt durchzusetzen, würde jede der konkurrierenden Firmen versuchen, sich von der jeweils anderen abzuheben, indem sie ihr gesamtes Arsenal an Alleinstellungsmerkmalen, Vorzügen, Argumenten und Scheinargumenten auffährt. Aprilfrisch würde auf seinem Plakat prahlen, „Wäscht besonders weiß“, oder ,„Ist total umweltschonend“, Maienduft mit praktischen Vorzügen kontern: „Im Sparkarton mit hartem Henkel.“ So geht Werbung.

Die Parteien interessiert das herzlich wenig. „Kauf mich eben oder lass es bleiben, Fucker“, ist ihre dem Bürger verächtlich vor die Füße gerotzte Botschaft. Nur, um diese Frechheit zu verbreiten, haben sie auch noch tausend Bäume totgemacht, selbst die Grünen. Weil man das eben immer so gemacht hat: Wahlkampf, Plakate, Wahl. Das Geld ist nun mal da – soll man das jetzt etwa den Armen schenken oder anderweitig verbrennen? Es ist, als gäbe es in der Hauptstadt nichts zu sagen. Keine Pläne. Keine Hoffnung. Keine Wünsche. Keine Zukunft. Kein Gott. Kein Staat. Keine Arbeit …

Die Parteien verweigern durch die Bank die Aussage, als stünden sie vor dem Ankläger – und damit haben sie vermutlich gar nicht mal so unrecht. Daher möchte man eigentlich nichts sagen, sich bedeckt halten, Pokerface bewahren. Nach der Wahl wird man das ändern, eventuell, vielleicht.

Offenbar zieht sich Berlin nun wieder in die erbarmungswürdige Nische zurück, aus der es vor nicht mal dreißig Jahren zurück ans Licht der Welt gekrochen kam: die eine Hälfte ein pathetisch aufgeblasenes Provinzkaff voller trunk- und drogensüchtiger Schmarotzer am Tropf der BRD – die wichtigsten Themen waren zu gleichen Teilen, welche Politiker ein Bordellbetreiber namens Otto Schwanz bestach und welches prominente Zootier gerade Geburtstag hatte; die andere Hälfte ein postapokalyptisches Riesengefängnis aus Trümmerhäusern, zwischen denen graugesichtige Zombies herumschlurften und sich gegenseitig verpfiffen, ähnlich wie wir es aus John Carpenter’s dystopischem Film „Die Klapperschlange“ kennen.

Die freiwillige Selbstdemontage erlebt ausgerechnet dort ihren Tiefpunkt, wo noch rudimentäre Inhalte transportiert werden: So in den kurzen Wahlspots der Grünen Neukölln, in denen „Karl und Nina“, zwei blutleere Hybride aus Hipstern und Theologiestudenten, ihre mahnenden Zeigefinger schonungslos in winzigkleine Wunden legen: Es gibt nicht genügend Fahrradbügel, an die man sein Rad anschließen kann. Der Landwehrkanal ist schmutzig und der Bus M41 oft verspätet. Wenn sie kiffen wollen, meckert der Schutzmann – laut Karl und Nina ein „Ganja-Hater“ – den Ausdruck hätte meine Oma selig ohne Zögern „flott“ genannt. Die Radwege sind zu holprig. Aus dem Sauerland, wo Nina herkommt (und wohin sie zu ihrem eigenen Besten hoffentlich bald zurückgeht), ist sie „makellose Straßenbeläge gewohnt.“ Diese Vergartenzwergisierung politischer Themen ist fast schlimmer als die Leere der Plakataussagen. In die könnte man mithilfe von ein wenig Ganja immerhin noch ein Lot Brisanz hinein phantasieren.

Wie kann es sein, dass in Berlin sogar die Müllabfuhr – „Eimer für alle“ – mit Leichtigkeit schafft, woran die Parteien in schon stalingradeskem Ausmaß scheitern: eine Imagekampagne entwickeln zu lassen, die zugleich zeitgemäß, charmant und informativ wirkt. Und neben der Stadtreinigung BSR gelingt dasselbe auch den Berliner Verkehrsbetrieben BVG: „Nicht mal deine Mudda holt dich morgens um 4:30 Uhr ab.“ Was mögen sich die in den Wahlkampf involvierten Agenturen bloß dabei gedacht haben?

Auf der Suche nach den Gründen nähert sich wie ein scheues, kleines Tier die Erkenntnis, schnuppert sichtlich angewidert an den Zusammenhängen und schlägt dann doch entschlossen ihre spitzen Zähnchen hinein: Die Parteien wollen gar nicht gewählt werden. Nach einer Analyse des kargen Restinhalts, der sich aus der Gesamtheit der Plakate extrahieren lässt, dürfte es in den Köpfen des politischen Berlins nämlich wie ein Blitz eingeschlagen haben: O Mann, Alter, diese Stadt scheint ja ganz schöne Probleme zu haben. Stell dir vor, du musst diesen zerschlissenen Sack voll bunter Flöhe regieren – das ist doch Last Exit Arschkartenhausen: Keine Kohle weit und breit, niemand weiß, wer der Bürgermeister ist, und überall fehlen Flughäfen und Fahrradbügel. Wer um Gottes Willen sollte sich so etwas ans Bein binden? Da hast du erst mal vier Jahre lang null Fun und hinterher meckern trotzdem wieder alle rum.

So schiebt man den schwarzen Peter lieber weiter und fährt eine gezielte Strategie der Abschreckung. „Kauft mich nicht! Wer mit Aprilfrisch wäscht, pult hinterher stinkende Stoffreste aus der Trommel“, warnen die einen. „Pfoten weg von Maienduft! Leichtentzündlich! Hochtoxisch! Antisemitisch! Radioaktiv!“, kreischt die Konkurrenz in Panik, da ihr die zum Greifen nahe Niederlage von den Aprilfrisch-Arschgeigen entrissen zu werden droht. Denn natürlich liegt hier kein Versagen der beauftragten Werbeagenturen vor, sondern vorzügliche Arbeit. Die am Ende aber doch nichts bringt, da alle Beteiligten derart großartige Negativergebnisse geliefert haben, dass die sich am Ende gegenseitig aufheben werden in ihrem Wettstreit der Verweigerung.

Selbst Fliegen ist schöner

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Der Neubau der Bahnstrecke Berlin-München ist fertiggestellt. Nach einer Erprobungsphase verkürzt sich ab Dezember 2017 die Fahrtzeit auf vier Stunden. Im Thüringer Wald fährt man dann durch insgesamt 22 neue Tunnel bei einer Reisegeschwindigkeit von bis zu 300 km/h. Mit zehn Milliarden Euro kostet das überflüssige Projekt doppelt so viel wie zuvor veranschlagt.

Warum aber überflüssig? Nun, ganz einfach – die Baumaßnahmen berauben die Kunden der typischen Vorteile einer Bahnreise: Fahrkomfort, Stressfreiheit, das meditative Vorbeigleiten der Landschaft, das Baumeln der Seele, der Weg als Ziel.

Besonders mein Verhältnis zu hohen Geschwindigkeiten ist mit den Jahren problematischer geworden. Früher war das noch ganz anders. Auto, Rollschuh, Ski – stets fuhr ich so schnell wie möglich und nicht selten schneller als es meinen Fähigkeiten entsprach. Auf dem Fahrrad suchte und fand ich jede noch so kleine Lücke, die das schwindende Reaktionsvermögen nun für alle Zeit geschlossen hat. Ich kann auch nicht mehr so schnell laufen.

Auch die vielen Tunnel machen mir Angst. Wenn ich einer lebenden Rohrpost gleich mit einem Affenzahn durch zig Kilometer lange Röhren katapultiert werde, fühle ich mich wie ein Kätzchen, das aus Neugier mit der Schmutzwäsche in die Waschmaschine geraten ist und nun im Schleudergang verzweifelt aus der Trommel winkt. Doch dort draußen winkt nur mein unglückliches Spiegelbild im Wagenfenster zurück.

Ich komme mir überhaupt immer öfter vor wie ein Kätzchen, wenngleich wie ein sehr altes Kätzchen, das längst auf Neugier pfeift. In meinen Augen ist Neugier ebenso wie Lebensmut nur ein selbstzerstörisches Lifestyle-Tool aus dem Mindset hysterischer Lebensanfänger unter vierzig. Ich bin nun der Prototyp des klassischen Bahnfahrers: ängstlich, unflexibel und langsam. Man muss Zugreisende nur mal dabei beobachten, wie sie, von der Komplexität des modernen Lebens – die Technik! Das Wetter! Die Ausländer! – überfordert, ihre (aus Angst natürlich reservierten!) Plätze suchen. Denn seit fünfundzwanzig Jahren stehen die Reservierungen neuerdings auf Displays und nicht mehr auf Papierstreifen. Das ist Hexenwerk. Wie soll das gehen?

Das ist doch alles kein Reisen mehr, das ist ein liebloser Schnelltransport, ausgeführt von der Spedition Rumms & Zackig. Von Berlin nach München oder zum Mond oder zur Hölle – das ist für den Reisenden nun eins. Das geht nicht nur für den Körper viel zu schnell, sondern erst recht für die Seele. Laut einer indianischen Weisheit muss der Körper auf Reisen regelmäßig rasten, damit die Seele Zeit bekommt, ihn wieder einzuholen. Allzu rasante Verkehrsmittel verbieten sich somit von selbst.

Nun gibt es ja unendlich viele dieser angeblichen indianischen Weisheiten, wie zum Beispiel die mit den Bäumen, die man nicht essen kann … rhabarber tüdelüt. Entgegen der von Karl May verbreiteten Schwachsinnslegende von der Schweigsamkeit des edlen Wilden, quatschen die Indianer nämlich ziemlich viel, wenn der Tag lang ist. Und der Tag bei Indianers ist nun mal verdammt lang: Perspektivlosigkeit, Alkoholismus, Gewalt – ein voller Stundenplan (once again merci beaucoup, Monsieur Trudeau!). Dazu noch das Erstellen immer neuer Weisheiten im Akkord, damit der Weiße Idiot stets frische Munition für esoterische Facebook-posts bekommt. Doch der Bedarf ist derart groß, dass darüber hinaus noch zahlreiche Imitate auftauchen. Die Unterscheidung zwischen Original und Fälschung ist oft schwierig. Ein Beispiel gefällig? „Scheißt Bruder Bär in den Wald, feiert Schwester Fliege ein Fest.“ Klingt täuschend echt, ist aber Made in Taiwan. Hätte man nicht gedacht, oder?

Aber die Weisheit mit dem Reisetempolimit für die Seele ist wirklich wahr, ich schwör. Ich hab das schließlich selber mal probiert. Auf der Strecke Köln-Frankfurt gibt es nämlich schon lange viele Tunnel und zum Teil auch Tempo Dreihundert. Und, was soll ich sagen, es stimmt. Alles. Kätzchen, Waschmaschine, Seele weg. Den Verlust der Seele merkt man ja zunächst gar nicht. Doch dann wird es auf einmal von innen heraus immer kälter. Man grüßt nicht mehr im Treppenhaus. Alles ist einem egal. Man rast mit dem Rad rücksichtslos über den Bürgersteig und drängelt sich in der Schlange vorm Eisladen vor. Mit weiterem Fortschreiten des Seelenverlusts quellen einem schwarzer Rauch und obszöne Flüche aus dem Mund. Da kann ich auch gleich fliegen.

Bei vergleichbarer Geschwindigkeit sind wenigstens keine Hindernisse zu erwarten, solange bei Skyguide keiner pennt. Vor den Hochgeschwindigkeitszügen braucht doch nur ein etwas dickeres Gummibärchen auf den Schienen zu liegen und schon bleibt kein Auge trocken. In den Tunneln grasen Schafe wie putzige, weiße Geister des Todes. Hat man hingegen den Abendflug bei Easy Jet gebucht, kann man seine Seele oft sogar in aller Ruhe vorschicken, während man zusammen mit hundertfünfzig Leidensgenossen in einem gesichtslosen Airport Hotel je zwei trockene Sandwichs zum Nachtessen mümmelt, das Verzweiflungsbier zum Runterspülen des Esszements dürfen wir selbst bezahlen.

Wo ist es hin, das gründlich erfahrbare Erlebnis einer Zugreise, für das man in Zukunft mindestens bis in die Ukraine ausweichen muss? Damals, die Strecke München-Hamburg, die Interzonenzüge der Reichsbahn, München-Berlin, Berlin-Hoek van Holland – jede Fahrt dauerte mindestens zehn Stunden, im Grunde egal, wohin man fuhr. Es war, so paradox das klingen mag, Entschleunigung durch Fortbewegung. Die Gardinen knatterten im Fahrtwind, während man den Kopf aus dem offenen Abteilfenster des D-Zugs hielt. É pericoloso sporgersi; do not lean out; ne pas se pencher au dehors; nur den deutschen Wortlaut habe ich vergessen – zehn Stunden lang studierte das Kind die ihm fremden Worte, lernte sie sinnlos auswendig, während ihm der Sommer den Geruch der Felder, der schmorenden Bremsen und der einfach durch ein Loch auf die Gleise plumpsenden Fäkalien in die Nase blies, denn so roch Reisen.

Später nahm ich oft den Nachtzug. Der stand am Abend zunächst stundenlang am Bahnsteig wie um sich zu sammeln. Erst nach Einbruch der Dunkelheit setzte er sich ganz langsam in Bewegung. Wir waren zu zweit im Abteil – ich war 17 und sogar unbedarfter noch als heute, die Fremde vielleicht 19. Man konnte die einander jeweils gegenüberliegenden Sitze so weit herunterklappen und nach vorne schieben, dass man darauf einigermaßen liegen konnte. Die Gardine zum Gang hin war geschlossen, von draußen funzelten diffuse Lichtreste herein. Es war heiß. Sie blickte mir unverwandt in die Augen, während sie sich im Liegen unter den Rock griff und in lasziver Reisegeschwindigkeit die Strumpfhose auszog.

Böse Menschen kennen viele Lieder

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Es ist ein Uhr morgens. Von der Grünanlage neben dem Haus dröhnt elektronische Musik zu uns nach oben in den vierten Stock. Na gut, dann machen wir eben das Schlafzimmerfenster zu. Draußen ist es Sommer, drinnen ist es warm – wir bleiben trotzdem cool. Dit is eben unsa Malle Ballin. Da steppt der Bär nach dem achten Bärenpils schon mal ein bisschen lauter, wa.

Halb zwei. Im Zimmer ist es heiß. Trotz geschlossenem Fenster ist es zu laut zum Schlafen. Inzwischen ertönt auch hinten auf der Brücke Musik. Unter den Arkaden dort hallt das ganz wunderbar, da bräuchte man eigentlich keine Verstärker. Mit fetzt allerdings noch mehr. Ich stülpe mir das Kissen wie einen Sturzhelm über den Kopf und stelle mir vor, wie ein Streifenwagen nach dem anderen stumm staunend die öffentlichen Lärmquellen passiert. Ruhestörung ist offenbar kein Offizialdelikt. Ruft niemand bei der Polizei an, unternehmen die auch nichts. Finde ich ja eigentlich gut. Schließlich sind wir gar nicht die Bösen. Also bürgerliche Edelwaldschrate, die, sobald nach 22 Uhr auch nur das zarte Stimmchen einer nachtwandernden Elfe ans empfindliche Ohr dringt, nach dem SEK brüllen. Die Kneipentöter, die Clubkiller, die schwarz-grünen Dorfnazis. Von mir aus können die ja draußen bis Mitternacht rumlärmen. Selbst danach würde ich nicht einfach die Bullen rufen, wie so ein Spießer, für den die Krachmacher uns dennoch halten. Schlafen kann man ihrer Meinung nach noch lang genug, wenn man entweder tot ist oder so alt wie wir – was für die ja sowieso dasselbe ist. Und wer möchte sich schon von Toten, toten Spießern noch dazu, vorschreiben lassen, wo und zu welcher Nachtstunde er Pauke, Signalhorn oder Stalinorgel aufstellt, um frohgemut zu musizieren. Natürlich rufen wir nicht die Bullen. Da sind Petze, Blockwart, Denunziant gefordert. Aber doch nicht wir. Eine Frage muss trotz alledem gestattet sein: warum kann es immer nur das eine oder andere Extrem geben?

Zwei Uhr. Am Eingang zur Hochbahn spielt jetzt eine Rockband. Die Gitarre jault, der Bass puckert, das Schlagzeug scheppert. Dazu singt – gemäß meiner aus dem Kontext getroffenen Ferndiagnose – ein Arschloch. Das Arschloch singt laut. Eine hörbar wachsende Menge Schaulustiger jubelt dem Arschloch zu. Das Inferno tobt nun von allen Seiten. Mir wird klar, warum hier keiner die Bullen ruft. Mitten im Tsunami schreit auch niemand nach der Badeaufsicht.

Halb drei. Betrunkene grölen und werfen mit Flaschen, Glas splittert. Tatütata. Vier Live-Acts werben gleichzeitig um die Aufmerksamkeit eines entfesselten Mobs. Lautes Lachen, Hilferufe und lautes Lachen über Hilferufe. Tatütata. Irgendwer göbelt mit dem Sound eines gepfählten Orks in einen Hauseingang, wahrscheinlich unseren. Wir sind allein mit unserer Verzweiflung und unserer Schlaflosigkeit. Das kann man ja alles niemandem erzählen. Da kämen eh bloß die üblichen Totschlagsprüche wie, „na, wer keinen Lärm aushält, darf eben nicht in der Stadt wohnen“, oder, „zieh doch nach Brandenburg“. Was man eben so sagt, wenn man jung ist. Und dumm. Und rücksichtslos und gemein, so gemein, brunzdumm und hundsgemein. Bin ich so nassgeschwitzt oder sind das alles meine Tränen?

Drei Uhr. Wir stehen todmüde auf dem Balkon und blicken ungläubig nach unten auf das brodelnde Meer aus zugedröhnten Menschenfeinden. Irres Lachen mischt sich in unser Weinen, als uns die absurdeste Redensart der Welt einfällt: „Böse Menschen kennen keine Lieder“. Denn in Wahrheit kennt keine Personengruppe auch nur annähernd so viele Lieder wie die bösen Menschen. Kaiser Nero, Horst Wessel, Dieter Bohlen. Die Leute denken ja immer gern, klar, Krieg, Folter, Mieterhöhungen – so in etwa sehen sie aus, die klassischen Kernkompetenzen des bösen Menschen -, aber auf die naheliegendste kommen die meisten mal wieder nicht: Lieder.

Es ist ein unendliches Repertoire, die meisten Texte handeln von Ruhestörung, Rücksichtslosigkeit und dem Wahnsinn lächerlicher Liebesprojektionen. Böse Menschen haben das Lied quasi erfunden. Den Trommelwirbel zur Hinrichtung. Den Takt für die Galeerensklaven. Die Marschmusik. Auf den Schlachtfeldern der Geschichte trommelten eigens aufgestellte Musikkompanien den bewaffneten Kollegen den Rhythmus zum Sterben.

Halb vier. Jemand muss nun doch die Polizei gerufen haben. Eine Wanne hält an der Kreuzung, meine lieben Freunde, die wackeren Beamten – formerly fälschlich known as „Drecksbullen“ – steigen aus. Sie begeben sich zur U-Bahn-Combo, man sieht Taschenlampen leuchten, kurz verstummt die Musik. Dann gehen sie zurück auf die andere Straßenseite, wo mittlerweile die Wanne geparkt steht. Rotzfrech fängt die Band sofort wieder an zu spielen. Na, ich hoffe, die Wachtmeister holen bloß schnell ihre Waffen.

Als sie zurückkehren, bin ich enttäuscht. So weit ich das vom Balkon aus erkennen kann, läuft da unten nur so ein windelweiches Deeskalationsgelaber. Wäre ich der Einsatzleiter, würde ich den Knüppel aber mal im 1/32-Takt tanzen lassen und anschließend den Brei großzügig mit Pfefferspray nachwürzen. Das machen sie doch schließlich schon bei friedlichen Demos, am helllichten Tag und ohne Musik. Warum ist das ausgerechnet hier zu viel verlangt, wo endlich mal ein guter Grund vorliegt? Ich würde sogar noch weiter gehen. Erst eine Salve über die Köpfe hinweg – die hört man auch gut – als allerletzten Warnschuss. Und wenn dann immer noch nicht Ruhe ist: die Bande einfach niedermähen. Die Köpfe der Rädelsführer abschlagen und in der näheren Umgebung oben auf Ampeln und Verkehrsschilder stecken, zur Abschreckung. Die Instrumente verbrennen, das Schlagzeug in winzig kleine Teile schreddern. Und natürlich auf die Reste draufscheißen, auf alles und alle gründlich draufscheißen, gähn, bin ich müde.

Ein ernstes Thema

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Mal was Sinnvolles schreiben. Wie so’n Schriftsteller mit Rollkragenpullover. Ein Meinungsstück, das schwerblütig mit „meines Erachtens“ beginnt und mit „die Geschichte wird über uns richten“ endet. Statt meiner üblichen Lyrics wie „gestern an der Kasse bei Edeka, hihi haha“, „ich einsamer alter Mann auf meinem Balkon, buhu buhu“ oder „höhö, ich hab gepupst – Arschloch, Fotze, Ficken“, endlich mal einen Text, der echte Inhalte transportiert, zum Nachdenken anregt, am Ende vielleicht sogar etwas bewirkt, und sei es nur als Auftakt zu einer winzigen Veränderung.

Die Sehnsucht nach mehr Ernsthaftigkeit entstand im Frühjahr. Terroranschläge, Syrien, Flüchtlingselend, AfD. Ich fragte mich zunehmend, warum ich meine Arbeit nicht in den Dienst an der Wahrheit stellte, sondern stets nur fröhliche Unterhaltungsscheiße ohne Nähr- und Mehrwert fabrizierte. Das war ja „noch nicht mal Satire“ wie die Klügsten unter den Klugen in den Kommentarspalten festzustellen wussten.

Klar, könnte man auch sagen, Wortkunst, selbst sinnarme; Komik, selbst seichte; Zerstreuung, selbst unpolitische, behalten jederzeit ihre Berechtigung ebenso wie Kino, Fußball, Malerei, Kochkunst, Erotik, Kreuzworträtsel als legitimer Ausgleich, um Energie für den Ernstfall zu schöpfen. Nur das Theater mit seinem hysterischen Relevanzzwang simuliert eine Bedeutungsschwangerschaft im zehnten Monat und das Publikum muss bei der schweren und blutigen Geburt dabei sein.

Aber mir ging mein eitles Geschnatter plötzlich selber auf die Nerven, und so war ich zunächst froh, als immerhin zwei oder drei Aufträge für Artikel gegen rechts eintrudelten. Was sich jedoch schnell als Augenwischerei entpuppte: In einer linken Zeitung zu schreiben, wie doof Nazis sind, bedeutet nicht nur, Eulen nach Athen zu tragen, sondern Athen mit einer springflutartigen Eulenplage zu überziehen, einer regelrechten Eulenpest, überall wimmelt es bloß so von Eulen, die Eulen fliegen den Leuten in Mund und Augen, krallen sich schauerlich heulend in die Haare, keiner traut sich mehr auf die Straße, nur noch Autos mit geschlossenen Fenstern quälen sich durch dicke Wolken flatternder Eulen, es müssen Billionen sein, die die Sonne derart verfinstern, dass am Tag das Fernlicht eingeschaltet werden muss, links und rechts der Straße türmen sich die von den Fahrzeugen beiseite geschobenen Eulen zu immer höheren Wällen auf, Straßenreinigung, Armee und Katastrophenschutz sind völlig überfordert, doch trotz aller Vorsicht sind sie längst auch schon in den Wohnungen der Menschen, kaum öffnet man den Kleiderschrank: schuhu, schuhuu!, den Klodeckel: schuhuu, schuhuuu!, im Küchenregal, im Kühlschrank, in Lebensmittelbehältern, in Lampenschirmen, in Kleidung, Bauchfalten, Schamhaar, After, Zahnzwischenräumen sammeln sich lebende Eulen, tote Eulen, Eulenreste, Kehrschaufeln sind längst ausverkauft und ebenso Eulensprays, Verbrennen, Vergraben, Ausstopfen, man wird der Masse einfach nicht Herr, übrigens sind auch die Mäuse ziemlich sauer … was wollte ich sagen … genau, eben deshalb folgt an dieser Stelle tatsächlich mal ein ungewohnt sachlicher Text zu einem ernsten Thema.

Meines Erachtens ist die in Berlin vorherrschende Rücksichtslosigkeit rechtsabbiegender Autofahrer gegenüber radfahrenden Verkehrsteilnehmern ein Skandal. Diesen prangere ich an, um das allgemeine Bewusstsein für die Problematik zu schärfen und so zum Umdenken beizutragen.

Das wird schwer genug, denn was mir hier, im Vergleich zu jedem anderen Ort, an dem sich Räder drehen, seit jeher ins Auge fällt, ist das erschreckende Unvermögen, das der durchschnittliche Berliner bei seinem mehr als dilettantischen Versuch, ein Kfz zu führen, an den Tag legt. Diese einzigartige Gemengelage aus zu schlecht, zu schnell, zu rücksichtslos, unflexibel, rechthaberisch, latent mordlustig und stets die Hupe der Bremse vorziehend, dürfte weltweit einzigartig sein. Und bevor mir jetzt wieder irgendeiner dieser Pfuscher weinerlich die Kompetenz abstreitet: Ich fahre hier seit über dreißig Jahren sehr viel mit dem Rad und sehr viel mit dem Auto.

Auch kennt der Berliner schlicht die Verkehrsregeln nicht. Geschätzte achtzig Prozent der Rechtsabbieger rauben dem geradeaus fahrenden Radler die Vorfahrt, von den restlichen zwanzig Prozent bremst die Hälfte soeben noch im letzten Moment, um ihn anschließend ebenso wüst zu beschimpfen wie es zuvor bereits die achtzig Prozent getan haben. Enttäuschung über das Misslingen des Tötungsversuchs, Unterficktheit, Schulden, Zahnschmerzen oder sonstiger Frust – wer möchte den Grund überhaupt wissen? Ich jedenfalls nicht.

Oder vielleicht doch? Nach unabhängigen Informationen mehrerer mir bekannter Fahranfänger gilt an Berliner Fahrschulen der Radfahrer wahlweise als ärgerliches Hindernis, komplizierter Versicherungsfall, nervtötender Schreihals, Fahrerfluchtgrund, potentieller Straßenbelag und Risiko für Lack und Stoßstange, doch niemals als Partner im Verkehr. So fluchte erst kürzlich ein jüngerer Kollege, ansonsten eigentlich ein anständiger Mensch, darüber, wie viele unaufmerksame Radfahrer auf dem Herweg doch tatsächlich versucht hätten, ausgerechnet da, wo er mit dem Auto rechts abbog, sich böse schreiend an ihm vorbeizuquetschen. Er wirkte ehrlich empört.

Selbstverständlich war früher nicht alles besser. Es gab weniger Autobahnen und fast hätte die RAF unser Land erobert und dann alle Intellektuellen in die Kartoffelfelder zum Arbeiten geschickt, wo sie jämmerlich krepiert wären. Aber die Fahrausbildung war offensichtlich besser. Im Verkehr der kleinen Kreisstadt, in der ich meine vorgeschriebenen „Stadtfahrten“ abriss, waren Radfahrer Mitte der 80er kaum von Bedeutung. Dennoch wurde mir die Rücksichtnahme auf Radler beim Rechtsabbiegen derart eingetrichtert, dass ich heute noch nicht mal eine rechtsdrehende Autobahnauffahrt ohne Schulterblick absolviere.

Hui, war das jetzt ernsthaft. Dabei erwarten meine wenigen treuen Fans natürlich eine gewohnt humorvolle Lösung von mir oder wenigstens ein Mindestmaß an Zynismus und Menschenverachtung. In ihrer Situation (alle drei lebenslängliche Sicherungsverwahrung) ist nun mal jeder Anlass für ein kleines Schmunzeln höchst willkommen. Also gut: In der Hölle treffen sich ein Selbstmordattentäter und ein Rechtsabbieger. „Was machst du denn hier?“ Fragt der Rechtsabbieger.

Fünf Quadratmeter Deutschland

Fünf Quadratmeter Deutschland

„Die Mutter der Dummheit ist immer schwanger!“ (Afghanische Weisheit)

Überall ist nun Ferienzeit. Schon in Freiburg, wo ich in den aus Basel kommenden Zug steige, ist es ohne Reservierung schwer, einen Platz zu finden. Ich muss also etwas genauer gucken und finde tatsächlich auch ein leeres Abteil, in dem fünf Plätze reserviert sind: von Offenburg, eine Station hinter Freiburg, bis nach Berlin. Ich setze mich auf den einzigen nicht reservierten Sitz.

Dann kommt die Frau mit dem Kinderwagen. In gewissem Sinne ist sie die Frau meines Lebens, denn so eine habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht getroffen. Sie hat fünf Plätze reserviert, einen zu wenig, wohl in der Hoffnung, dass der freie sechste übersehen wird, und jetzt ist sie spürbar sauer, dass ich da bin. Drei Plätze verstünde ich ja, sie braucht einen für sich und zwei für Kinderwagenaufsatz samt Inhalt. Allerdings benötigt sie darüber hinaus offenbar noch drei weitere für ihre Ruhe. Aber auf einem davon sitze jetzt ich. Meine Anwesenheit ist jedenfalls Grund genug, meinen Gruß beim Öffnen der Abteiltür schlicht nicht zu erwidern. Auch akzeptiere ich ihre bittere Enttäuschung über das harte Los, das Abteil nur zu fünf Sechsteln zu besitzen, als guten Grund, mir beim Hereinwuchten von Karre, Kind und Kegel, heftig auf den Fuß zu treten. Die Entschuldigung erfolgt pro forma und ins Leere.

Mag ja sein, dass eine kinderlose Null wie ich entsprechend auch behandelt werden will, doch als ausschließliche Handlungsmaxime greift das hier zu kurz, denn da draußen suchen schließlich auch noch andere Eltern mit kleinen Kindern verzweifelt Plätze. Tja, selber schuld, warum haben diese Rabenvögel nicht ebenfalls pro Arsch fünf Plätze reserviert? Und ich kann ja leider nicht stehen, wegen meiner Kriegsverletzung.

In Karlsruhe, fragen zwei Leute, ob die Plätze frei seien, die ja immerhin unbesetzt wirken und sowieso auch sind. Die Reservierungszeichen sind mittlerweile längst erloschen. Nein, sagt die Frau, die seien reserviert. Sorry. Nee, sorry natürlich nicht – das war nur mein persönlicher Wunschtraum. Sie lässt nicht zu, dass hier noch mehr lästige Fahrgäste das stille Glück der Kleinstfamilie stören. Denn gäbe man einmal nach, bräche der Wall gegen die Außenwelt endgültig und das Abteil würde von noch mehr Hunnen mit Fahrschein und Rucksack überschwemmt. Ich staune nur noch.

Konsequent über Bord geworfener Anstand begleitet uns über siebenhundert Kilometer verbrannter Erde hinweg, wo einst der Hafer menschlichen Miteinanders blühte, wuchs und gedieh, von Offenburg nach Berlin, und weil Prenzlauer Berg keinen eigenen Bahnhof hat, wird sie am Hauptbahnhof ins Taxi steigen müssen. Kein Gruß, kein Lächeln, kein Trinkgeld. Ja ja, ein Klischee und hier kommt gleich noch ein weiteres – Muttilein, in your face: Leichenblass, trotz ihrer Jugend verhärmt und spillerig wie ein Nacktmull, eine Persönlichkeit aus nichts als Knochen, vor allem Ellbogenknochen, die noch extern auf ein Baby erweitert werden – na, und, sollte man fragen, was kann sie denn dafür, gestresst und alleinerziehend, vielleicht ist oder war sie krank, fühlt und findet sich so nun mal gut, oder frisst eventuell auch einfach weniger Scheiße als ich, und was bitte geht es mich überhaupt an … aber es fällt schwer, unter Ausschluss lookistischer Denkmuster zu urteilen, wenn Ausstrahlung und Verhalten derart deckungsgleich sind. Und weil es eben so schwer ist, und man auch einfach mal loslassen soll, wenn die Rücksicht wehtut und die Nachsicht Magengeschwüre verursacht, frage ich mich gleich auch noch, was das um Gottes Willen für ein hominoider Wurm gewesen sein muss, der dieses asoziale Knochenhuhn geschwängert hat.

Zum Glück setzt sie sich nun vom Sitz direkt neben mir weg und hinüber auf den Platz schräg gegenüber – immerhin verfügt sie ja über ein breites Portfolio verschiedenst gelegener Sitzmöglichkeiten –, denn während der Fahrt durch den Tunnel leuchtet der Monitor so stark im Dunkel, dass ich Angst habe, dass sie mitlesen kann. Im Bordbistro gibt es Sauertopf im Tagesangebot.