Der Neubau der Bahnstrecke Berlin-München ist fertiggestellt. Nach einer Erprobungsphase verkürzt sich ab Dezember 2017 die Fahrtzeit auf vier Stunden. Im Thüringer Wald fährt man dann durch insgesamt 22 neue Tunnel bei einer Reisegeschwindigkeit von bis zu 300 km/h. Mit zehn Milliarden Euro kostet das überflüssige Projekt doppelt so viel wie zuvor veranschlagt.
Warum aber überflüssig? Nun, ganz einfach – die Baumaßnahmen berauben die Kunden der typischen Vorteile einer Bahnreise: Fahrkomfort, Stressfreiheit, das meditative Vorbeigleiten der Landschaft, das Baumeln der Seele, der Weg als Ziel.
Besonders mein Verhältnis zu hohen Geschwindigkeiten ist mit den Jahren problematischer geworden. Früher war das noch ganz anders. Auto, Rollschuh, Ski – stets fuhr ich so schnell wie möglich und nicht selten schneller als es meinen Fähigkeiten entsprach. Auf dem Fahrrad suchte und fand ich jede noch so kleine Lücke, die das schwindende Reaktionsvermögen nun für alle Zeit geschlossen hat. Ich kann auch nicht mehr so schnell laufen.
Auch die vielen Tunnel machen mir Angst. Wenn ich einer lebenden Rohrpost gleich mit einem Affenzahn durch zig Kilometer lange Röhren katapultiert werde, fühle ich mich wie ein Kätzchen, das aus Neugier mit der Schmutzwäsche in die Waschmaschine geraten ist und nun im Schleudergang verzweifelt aus der Trommel winkt. Doch dort draußen winkt nur mein unglückliches Spiegelbild im Wagenfenster zurück.
Ich komme mir überhaupt immer öfter vor wie ein Kätzchen, wenngleich wie ein sehr altes Kätzchen, das längst auf Neugier pfeift. In meinen Augen ist Neugier ebenso wie Lebensmut nur ein selbstzerstörisches Lifestyle-Tool aus dem Mindset hysterischer Lebensanfänger unter vierzig. Ich bin nun der Prototyp des klassischen Bahnfahrers: ängstlich, unflexibel und langsam. Man muss Zugreisende nur mal dabei beobachten, wie sie, von der Komplexität des modernen Lebens – die Technik! Das Wetter! Die Ausländer! – überfordert, ihre (aus Angst natürlich reservierten!) Plätze suchen. Denn seit fünfundzwanzig Jahren stehen die Reservierungen neuerdings auf Displays und nicht mehr auf Papierstreifen. Das ist Hexenwerk. Wie soll das gehen?
Das ist doch alles kein Reisen mehr, das ist ein liebloser Schnelltransport, ausgeführt von der Spedition Rumms & Zackig. Von Berlin nach München oder zum Mond oder zur Hölle – das ist für den Reisenden nun eins. Das geht nicht nur für den Körper viel zu schnell, sondern erst recht für die Seele. Laut einer indianischen Weisheit muss der Körper auf Reisen regelmäßig rasten, damit die Seele Zeit bekommt, ihn wieder einzuholen. Allzu rasante Verkehrsmittel verbieten sich somit von selbst.
Nun gibt es ja unendlich viele dieser angeblichen indianischen Weisheiten, wie zum Beispiel die mit den Bäumen, die man nicht essen kann … rhabarber tüdelüt. Entgegen der von Karl May verbreiteten Schwachsinnslegende von der Schweigsamkeit des edlen Wilden, quatschen die Indianer nämlich ziemlich viel, wenn der Tag lang ist. Und der Tag bei Indianers ist nun mal verdammt lang: Perspektivlosigkeit, Alkoholismus, Gewalt – ein voller Stundenplan (once again merci beaucoup, Monsieur Trudeau!). Dazu noch das Erstellen immer neuer Weisheiten im Akkord, damit der Weiße Idiot stets frische Munition für esoterische Facebook-posts bekommt. Doch der Bedarf ist derart groß, dass darüber hinaus noch zahlreiche Imitate auftauchen. Die Unterscheidung zwischen Original und Fälschung ist oft schwierig. Ein Beispiel gefällig? „Scheißt Bruder Bär in den Wald, feiert Schwester Fliege ein Fest.“ Klingt täuschend echt, ist aber Made in Taiwan. Hätte man nicht gedacht, oder?
Aber die Weisheit mit dem Reisetempolimit für die Seele ist wirklich wahr, ich schwör. Ich hab das schließlich selber mal probiert. Auf der Strecke Köln-Frankfurt gibt es nämlich schon lange viele Tunnel und zum Teil auch Tempo Dreihundert. Und, was soll ich sagen, es stimmt. Alles. Kätzchen, Waschmaschine, Seele weg. Den Verlust der Seele merkt man ja zunächst gar nicht. Doch dann wird es auf einmal von innen heraus immer kälter. Man grüßt nicht mehr im Treppenhaus. Alles ist einem egal. Man rast mit dem Rad rücksichtslos über den Bürgersteig und drängelt sich in der Schlange vorm Eisladen vor. Mit weiterem Fortschreiten des Seelenverlusts quellen einem schwarzer Rauch und obszöne Flüche aus dem Mund. Da kann ich auch gleich fliegen.
Bei vergleichbarer Geschwindigkeit sind wenigstens keine Hindernisse zu erwarten, solange bei Skyguide keiner pennt. Vor den Hochgeschwindigkeitszügen braucht doch nur ein etwas dickeres Gummibärchen auf den Schienen zu liegen und schon bleibt kein Auge trocken. In den Tunneln grasen Schafe wie putzige, weiße Geister des Todes. Hat man hingegen den Abendflug bei Easy Jet gebucht, kann man seine Seele oft sogar in aller Ruhe vorschicken, während man zusammen mit hundertfünfzig Leidensgenossen in einem gesichtslosen Airport Hotel je zwei trockene Sandwichs zum Nachtessen mümmelt, das Verzweiflungsbier zum Runterspülen des Esszements dürfen wir selbst bezahlen.
Wo ist es hin, das gründlich erfahrbare Erlebnis einer Zugreise, für das man in Zukunft mindestens bis in die Ukraine ausweichen muss? Damals, die Strecke München-Hamburg, die Interzonenzüge der Reichsbahn, München-Berlin, Berlin-Hoek van Holland – jede Fahrt dauerte mindestens zehn Stunden, im Grunde egal, wohin man fuhr. Es war, so paradox das klingen mag, Entschleunigung durch Fortbewegung. Die Gardinen knatterten im Fahrtwind, während man den Kopf aus dem offenen Abteilfenster des D-Zugs hielt. É pericoloso sporgersi; do not lean out; ne pas se pencher au dehors; nur den deutschen Wortlaut habe ich vergessen – zehn Stunden lang studierte das Kind die ihm fremden Worte, lernte sie sinnlos auswendig, während ihm der Sommer den Geruch der Felder, der schmorenden Bremsen und der einfach durch ein Loch auf die Gleise plumpsenden Fäkalien in die Nase blies, denn so roch Reisen.
Später nahm ich oft den Nachtzug. Der stand am Abend zunächst stundenlang am Bahnsteig wie um sich zu sammeln. Erst nach Einbruch der Dunkelheit setzte er sich ganz langsam in Bewegung. Wir waren zu zweit im Abteil – ich war 17 und sogar unbedarfter noch als heute, die Fremde vielleicht 19. Man konnte die einander jeweils gegenüberliegenden Sitze so weit herunterklappen und nach vorne schieben, dass man darauf einigermaßen liegen konnte. Die Gardine zum Gang hin war geschlossen, von draußen funzelten diffuse Lichtreste herein. Es war heiß. Sie blickte mir unverwandt in die Augen, während sie sich im Liegen unter den Rock griff und in lasziver Reisegeschwindigkeit die Strumpfhose auszog.