Die Besucher

Der Krieg hat sogar mich überrascht.

Viele holen ja ihre geflüchteten Ukrainer selbst am Berliner Hauptbahnhof ab. Mich erinnert das zu sehr an den Schüleraustausch in Frankreich, als man bei der Ankunft schon durchs Fenster des Reisebusses die wartenden Gastfamilien sah. Dann dachte man sich, „die sehen ja nett aus“, oder „oh Gott, bitte nicht zu denen“, bevor man random an irgendwelche Dumonts oder Duvaliers verteilt wurde. Auch im Tierheim kennt man das Prozedere auf beiden Seiten der Gitterstäbe.

Deshalb biete ich meine Unterkunft online an. Das halte ich für bequemer und auch menschenwürdiger. Bequemer vor allem für mich, mit der Menschenwürde als wohlfeiles Gimmick. Das ist Hilfe light; so sieht es eben aus, wenn die Kacke derart am Dampfen ist, dass auch wir Trägen und Verzagten, wir Angsthasen und Arschlöcher mitanpacken müssen.

Ich registriere mich auf der Vermittlungsplattform host4ukraine, und sofort meldet sich auf Englisch ein junger Mann, der Mutter, Großmutter und kleinen Bruder untergebracht wissen will. Die Anbahnung verläuft erratisch. Wiederholt wird die Ankunft verschoben, und als er mir einen Einzugstermin am kommenden Nachmittag bestätigen soll, reißt die Kommunikation endgültig ab. Ein Missverständnis?

Ich will schon die nächste Kandidatin auf der Liste anschreiben, da stehen auf einmal sechs Leute vor meiner Tür. Sechs statt drei, ach du Scheiße! Als ich gegen große innere Widerstände doch noch öffne, löst sich zum Glück das Rätsel: Mitgekommen sind der große Bruder, der mich angeschrieben hatte, sowie zwei ältere, in Berlin wohnende Verwandte. Sie stellen hier auf deutsch die Fragen, sie übersetzen, mäkeln nebenher ein bisschen herum, es ist ihnen zu schmutzig. Ich hatte aber nicht viel Zeit; kaum zu glauben, doch der Krieg hat sogar mich überrascht.

Bei mir einziehen sollen dann wie angekündigt nur eine Babuschka, die Mutter sowie der kleine Bruder. Sie sprechen weder Deutsch noch Englisch, wirken nett und schüchtern. Oder eher verschüchtert, was weniger toll ist, weil genau das der Krieg aus selbstbewussten Menschen gemacht hat: erschöpfte, gedemütigte Bittsteller bei irgendeinem bescheuerten Fremden in irgendeinem bescheuerten fremden Land.

Die Verwandten sind mir weniger sympathisch. Dennoch verstehe ich sie. Argwohn ist gut, Misstrauen ist besser. Irgendwer muss hier schließlich im Namen der Hilfesuchenden tough verhandeln und den Wohnungsgeber abchecken. Sie werden ja nicht hier wohnen und wollen auch nicht meine Freunde werden, was ihnen auf jeden Fall perfekt gelingt.

Da geht es zum Beispiel um den Nachbarn, den ich als Hilfe für Notfälle aller Art anpreise. „Das ist aber ein Deutscher?“, fragt die Verwandte, „und ein Mann?“ Ja, ist er. Na und? Oder auch nicht „na und“. Denn langsam dämmert mir, wie rundum unsicher eine Situation wie diese für die geflüchteten Frauen ist. Nicht umsonst patrouillieren am Hauptbahnhof Zivilbeamte, um die dort lauernden Fledderer im Zaum zu halten. Und wo ich von mir stets das Bild eines blütenweißen, freundlich-flauschigen Riesenkaninchens im Kopf habe, sehen sie eben nur einen etwas schmierigen, mittelalten Fremden, der leicht angespannt inmitten seiner schmutzigen Wohnung steht. Dazu kommt noch meine zweifelhafte Legende. Denn ich habe zwar behauptet, ich würde nun mit in der Wohnung meiner Frau wohnen, und könne deshalb meine eigene zur Verfügung stellen, aber ich kann natürlich viel erzählen, wenn der Krieg lang ist. Selbst wenn das stimmen sollte, wird es davon nur noch seltsamer. Nicht mal Selenskyj hat zwei Wohnungen. Und warum wohnt ein Mann nicht bei seiner Frau? Was ist denn das wieder für ein westliches Spinnerkonzept?

Daher entscheide ich mich, auf der Übersetzungs-App beim Sie zu bleiben. Auf der Flucht ist ja nicht beim Friseur. Immer schön vorsichtig. Dazu erleichtern zwei getrennte Wohnungen die schwierige Balance zwischen Hilfe und Privatsphäre. Vor allem mir, denn mit anderen Menschen habe ich es prinzipiell nicht so.

Aber genau deshalb bin ich auch ein wenig überfordert. Ich habe ihnen keinen Tee angeboten. Nicht nach den Namen von Großmutter und Enkel gefragt, und beide kaum beachtet. Die Leute nicht gefragt, aus welcher Stadt sie kommen, wie die „Reise“ war, ob sie müde sind, was mit dem Ehemann und Vater ist. Mir selbst beim Ich-Sein zuzusehen, ist einmal mehr ernüchternd. Andererseits gibt es auch einfach zu viele praktische Dinge zu besprechen, und in der kleinen Wohnung ist ohnehin kein Platz, wo sieben Leute in Ruhe Tee trinken können.

Und letztlich denke ich mir, dass zwar viele Gastgeber angenehmer sein mögen als ich, dafür andere aber auch noch schlimmer: Die Pässe oder Impfnachweise kontrollieren, scannen und kopieren, bevor sie auf die Mülltrennung hinweisen. Und dann sollen die Gäste ihnen noch haarklein schildern, wie ihr ganzes Leben von heute auf morgen zu einem kleinen Haufen Scheiße zusammengefallen ist. Zu viel Anteilnahme kann auch nerven.

Das wird mir jedenfalls nicht unterlaufen. Und was bringt es mir, zu wissen, ob und wie und warum sie nicht geimpft sind, denn was dann? Soll ich sie dann nicht aufnehmen? Ich bin geimpft – das muss fürs erste reichen.

Erstaunlich überhaupt, wie schnell die eine Notlage hinter der anderen verschwindet. Kein gutes Zeichen auch für den Klimawandel, der ja blöderweise jetzt nicht irgendwie pausiert. Für mich ist nun jedenfalls erst mal Krieg, noch dazu da meine eigene Erkrankung in etwa das Kaliber der Impfreaktion nach meinem ersten Schuss Astra Zeneca hat. Ich weiß, dass das einfach nur Glück ist, aber schon zuvor tagte in meinem Kopf teilweise eine Talkshowrunde, in der zwei strenge Spitzenvirologen, ein Kulturveranstalter und ein rechtsradikaler Schokoladenkeksfabrikant einander mit Argumenten beschmissen wie Kinder an der Ostsee mit Quallen. Die Talkshow ist vorbei. Stattdessen läuft nun ein „Brennpunkt“ nach dem anderen, dazwischen Trauermusik.

A Perfect Day

Spandauer Zitadelle

In der U7 fällt mir bereits am Mehringdamm die für die Tageszeit ungewöhnlich hohe Seniorendichte auf. „Die sind bestimmt nur falsch umgestiegen“, ist mein erster Gedanke. Schließlich fährt hier auch die U6 nach Alt-Mariendorf, das seinen Namen völlig zu Recht trägt als Ort mit noch mehr Altenbunkern als der Atlantikwall. Doch es sind keine gewöhnlichen Senioren im klassischen Senioren-Beige. Denn die weißen Haare der Männer sind, soweit möglich, voll und zerzaust, die der Frauen lang und offen. Dazu Lederjacken, lange Kleider, hier und da ein flotter, bunter Schlips. Pensionierte Kunstlehrer riechen nach Edelgras und gutem Rotwein. Sie fahren zum Lou-Reed-Konzert.

Genau da wollen wir auch hin. Als wir an der Station „Zitadelle“ die Bahn verlassen, regnet es in Strömen. An einem ambulanten Bierstand auf dem Weg zum Veranstaltungsort kaufen wir primitive Regenponchos, eigentlich nur so eine Art Mülltüten mit Löchern drin, für den Kopf und für die Arme. Die Gnade der späten Geburt spült uns trotz der Unterbrechung als erste an den Einlass – es ist schon von Vorteil, wenn man vergleichsweise rüstig ist.

Auf dem Konzertgelände sehen wir uns um. Lange habe ich mich unter derart vielen Leuten nicht mehr so als Nesthäkchen gefühlt. Seit dem Eric-Burden-Konzert vor fast zwanzig Jahren eigentlich nur noch auf Friedhofsspaziergängen.

Vorne ertönt schon Live-Musik. Doch die Vorband kennt keiner, irgend so ein 25jähriges Gör. Bei dem weiß man doch gar nicht so recht, wie man das einordnen soll – es ist zwar schön, wenn die Kinder auch mal was mit Musik probieren, aber dann vielleicht doch lieber erst zuhause unterm Weihnachtsbaum und nicht gleich hier in aller Öffentlichkeit. Die Eltern wieder! Unverantwortlich! Auch deshalb bleiben die Zuschauer solange lieber noch unter den schützenden Bäumen und Bierschirmen stehen. Schließlich könnte jede Erkältung den raschen Tod bedeuten.

Die Sängerin verabschiedet sich nach dem Musizieren fast unbemerkt. In der kaum einstündigen Umbaupause vor Lou Reed wird es höchste Zeit, einen möglichst guten Platz nahe der Bühne zu ergattern. Das könnte knapp werden, speziell unter diesen Bedingungen: Schmatzend versuchen sich blockierende Rollatoren durch den feuchten Kies zu fressen, wie Wehrmachtspanzer, die am Wetter und der Weite Russlands scheitern. Grobe Flüche sind zu hören – „Unhold!“, „Spitzbube!“, „Lümmel!“, „Gauner!“, – natürlich stets in Verbindung mit dem informellen Du, denn es sind im Wesentlichen das alte Kreuz- und Schöneberg, die hier versammelt sind.

Mit jugendlicher Eleganz winden wir uns durch die Masse, weichen geschickt dem einen oder anderen empört gefuchtelten Krückstock aus, und stehen schließlich relativ nah vor der Bühne. Hierher haben es auch ein paar Junge geschafft – das merkt man allein daran, dass bereits vor Erscheinen des Künstlers lautstark seine größten Hits gefordert werden: „Satisfaction“ sowie das allzeit unverwüstliche „Katzeklo“.

Als Lou Reed unter mürbem Beifall auf die Bühne tritt, trägt er ein breites Lächeln auf dem Gesicht. Ungewöhnlich für den sonst so mürrisch wirkenden Musiker und Schrecken der Journalisten, aber bestimmt ist er auch noch nie vor dreitausend Mülltüten aufgetreten. Das einzige andere Mal, dass ich den schlecht gelauntesten Star der Welt (Süddeutsche Zeitung) je freundlich gesehen hatte, war bei seinem Auftritt auf dem Roskilde-Festival im Jahr 2000. Nachdem dort am späten Freitagabend beim Pearl-Jam-Konzert auf dem völlig verschlammten Gelände vor der großen Hauptbühne neun Menschen bei einer Massenpanik gestorben waren, riss erst am Sonntag der Himmel auf. Mit sanfter Stimme sprach Reed in die ersten Sonnenstrahlen hinein zu den traumatisierten Besuchern. Und begann dann mit „Perfect Day“.

Doch ich schweife ab. Das Konzert des mittlerweile 70jährigen lässt alle den Regen vergessen. Die meisten hier vergessen ja ohnehin eine Menge. Mitten hinein in die leiseste Stelle des gefühligen „Sad Song“ hinein, ruft von hinten einer ganz laut: „Prima!“. Sonst nichts. Ach Berlin, ick liebe dir!

Auf der Rückfahrt wirken alle entspannt und glücklich. Lou. Lou Reed. Sie haben ihn noch einmal sehen dürfen. Aus welcher Perspektive dieses „noch einmal“ gemeint ist, wird sich später zeigen, wenngleich gewiss nicht sehr viel später. Zuhause im Bad entnehme ich meinem Mund die drückenden Zähne. Aus dem Spiegel grinst mir ein Greisengesicht entgegen.

Wir lassen uns das Feiern nicht verbieten

Aber noch gibt es ja zum Glück den Fasching.

An Tagen wie dem des Kriegsbeginns in der Ukraine stellt man, da man in solchen Momenten ohnehin nur noch an allem zweifelt, auch gerne mal die Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns in Frage. Der gerade in Arbeit befindliche, flammende Satiretext über den Arsch, der hinter meinem Ich-Erzähler an der Kasse bei Edeka das Warentrennholz nicht vernünftig im Neunziggradwinkel zum Rand des Kassenbands hin ausrichtet, gerät ins Stocken. Akuter Lebensernsteinbruch Backbord, das Unterdeck mit dem Humorlager ist bereits von Pietätserwägungen geflutet, sämtliche Witze sind nass und damit unbrauchbar geworden. Ich würde mich ja gern zusammenreißen, aber Können vor Lachen. Ich will nicht mehr. Was mache ich eigentlich hier?

Auf der anderen Seite kritisiere ich ja hierzulande immer genau das sehr gern: Die Trennung in E und U, die strenge Reichsalbernheitsverordnung, die vorschreibt, wann, wie, wo und über was man Witze machen darf, oder eben nicht. Das weitgehende Fehlen von schwarzem, situativem, Galgen- und Alltagshumor. Der Vorzug von heroinartig betäubenden Belanglosigkeiten gegenüber einem Lachen, das auch mal im Hals stecken bleibt. Hirn und Hände fühlen sich gefesselt an.

Schade. Denn gerade im Krieg will man ja auch zwischendurch mal was zum Schmunzeln haben. Ein bisschen Eskapismus tut Not, um die Akkus wieder aufzuladen, damit man anschließend wieder mit frischer Kraft an die Betroffenheitsarbeit gehen kann. „All work and no play makes Jack a dull boy.“

Das gilt natürlich auch für mich in der Rolle als Konsument. Ich brauche jetzt ebenfalls Kraft durch Ablenkung. Die tiefste und reinste Quelle meiner schöpferischen Stärke sind ja verlässlich diese Waschbärclips auf Youtube, zu denen eine niedliche Piepsstimme auf russisch das drollige Treiben oftmals junger Waschbären kommentiert. Doch ausgerechnet die gehen gerade nicht rein, der Herzschmerzmitteltropf ist zugedreht. Scheiße. Sind das etwa schon die angekündigten Cyber-Angriffe auf die ideellen – sprich vor Schreck reglos in ihre blaugelben Profilbild-Solifahnen weinenden – Unterstützer des ukrainischen Volks? Vor denen wurde ja nun schon lange gewarnt. Sie wollen uns mental und moralisch austrocknen.

Aber noch gibt es ja zum Glück den Fasching. Einer schreibt auf Twitter: „Im Fernsehen läuft Krieg, während im Hintergrund Karnevalsmusik durch die Straßen Kölns tönt. So muss die Hölle aussehen.“ Wie sagt man noch mal gleich so schön dazu? Höllau!

Ach nee, so heißt das ja in Mainz. In Köln lautet der Schlachtruf der Heiterkeit, „Kölle Anaal“ oder so ähnlich. Die Hochburgen darf man keinesfalls durcheinanderbringen. Militärische Invasionen sind ja auf ne Art vielleicht noch ganz witzig, aber sobald es um die Rivalität zwischen den Narrenmetropolen geht, verstehen sie überhaupt keinen Spaß.

Allerdings fangen Karneval, Krieg und Kacke ja nicht zufällig mit demselben Buchstaben an. „Wir schunkeln nicht an den Sorgen der Menschen vorbei, wir lassen uns aber das Feiern nicht von Menschen verbieten, die das Völkerrecht mit Füßen treten!“ twittert das ZDF-Landestudio Nordrhein-Westfalen. Abgesehen davon, dass die trotzige Dummbotschaft an Corona-Partys erinnert – auf die Idee muss man erst mal kommen. Da der Satz schon im Tweet in Anführungszeichen steht, handelt es sich anscheinend um ein Zitat. Aber von wem: Wladimir Putin?

Über die eigene Ignoranz muss ich mir vielleicht dann doch nicht ganz so viel Gedanken machen. Schlimmer geht anscheinend immer. Die Messlatte des Mitgefühls ist jedenfalls unterirdisch tief angelegt. Wie infam kann man sein, das mörderische Geschehen auch noch als Werbebotschaft für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren? Bestimmt gibt es dazu noch einen Themenwagen, auf dem ein jecker Putin aus Pappmaschee auf die Ukraine scheißt, und schon ist alles wieder stimmig: Saufen und Schunkeln gegen den Krieg. Düsseldorf schickt einen Umzugswagen mit 5000 brandneuen Klatschpappen nach Kiew. Narrhallamarsch.

Noch unredlicher wäre es allenfalls, wenn so ein Witzbold einen Unterhaltungstext schriebe, der anderen Kaspern oder Karnevalisten Unernst, Verlogenheit und Peace Washing vorwirft, und dabei genau das alles auf einer vorgeblichen Metaebene selbst bedient. So eine miese kleine Dreckschweinratte müsste echt geächtet werden: Führerschein, Kugelschreiber, Lesebühnenlizenz – alles weg! Meine Meinung.

Blöderweise für diese, ähm, Abhandlung, wird mitten in meine Arbeit daran in Köln dann doch der Rosenmontagszug abgesagt. Und (edit!) richtige Schießwaffen werden am Ende auch noch geliefert. Ich schreibe trotzdem zu Ende, als wäre nichts passiert. So macht man das heute. Hauptsache, die Agenda steht wie ne Eins – scheiß auf veränderte Faktenlagen.

Die andere Wange

Andere Vorstellungen vom Begriff „Frühstück“ .

Der Bäcker am Schlesischen Tor hat sein Profil den Bedürfnissen der Umgebung angepasst, denn der trotz Covid nie ganz versiegte Strom des Partyvolks hat andere Vorstellungen vom Begriff „Frühstück“. Also hat man die Gebäckauslagen und damit auch den verzehrfähigen Content verringert, und dafür ungefähr zehn riesige Bierkühlschränke aufgestellt. Der Laden nennt sich nun „Crazy Schlazy“ oder „Beer & More“ – ich hab nicht wirklich so darauf geachtet.

Die wenigen echten Anwohner, die einfach nur Brötchen holen wollen, keilen sich daher nun jeden Sonntagmorgen um ein unnatürlich verknapptes Angebot. Es gilt das Recht des Früheren, und oft bin ich zu spät. Dann kauft mir irgendein Arschloch die letzten brauchbaren Brötchen vor der Nase weg, während ich ohnmächtig mit den Zähnen knirschend danebenstehe.

Wenn ich mit irgendwelchen Hilfsschrippen zu meiner enttäuschten Frau nach Hause komme, für die ich nicht zu sorgen vermochte, koche ich noch immer vor Wut über den asozialen Gierhals. Kurz denke ich auch, dass ich das durchgeknallte Prepper-Schwein gern getötet hätte, ehe ich dann doch ein wenig über mich selbst erschrecke.

Manchmal läuft es aber auch andersrum, und ein Kunde, der mir verdächtig nach Brötchenwunsch aussieht, kommt erst nach mir dran. Das ist natürlich eine große Genugtuung. Süffisant grinse ich ihn unter meiner Maske an. Haha, du Pfeife, du Loser, du armer Wicht, denke ich, und so wie er guckt, habe ich vielleicht auch laut gedacht. Wie immer in solchen Fällen kaufe ich den ganzen Rest. Verbrannte Erde. Lieber schmeiße ich am Ende was weg – Hauptsache, es fällt der Konkurrenz nicht in die Hände. Das wird ihr eine Lehre sein.

Doch kaum zuhause, fällt alle Rücksichtslosigkeit wie Staub von mir ab. Denn heute gab es nur ein letztes Laugenbrötchen, und das soll meine Frau haben. Ich habe es für sie erbeutet, und lege es ihr nun zu Füßen. Ich bin nicht wichtig, ich kann stattdessen auch zwei der klobigen Kartoffelbrötchen essen, die wie Wackersteine im Magen liegen.

Allerdings habe ich die Rechnung ohne ihren Altruismus gemacht. Sie sagt, ich bekäme das Laugendings. Da stünde quasi mein Name drauf. Ich möge das doch so gern. Sie selbst käme auch mit so einem Dinkelkrusti klar, dessen rollsplittartige Bekörnung immer zwischen den Zähnen steckenbleibt. So geht es hin und her: Nimm du, nein du, nein du.

Dieser Wettstreit der Güte laugt mich irgendwie aus. Wer ist der bessere Mensch, wer haut dem anderen gewissenstechnisch härter in die Schnauze. Hinter der scheinbaren Generosität steckt eine ähnlich passiv aggressive Attitüde wie hinter der neutestamentarischen Forderung „auch noch die andere Wange hinzuhalten.“ Dabei möchte man das aus Sicht des Schlägers vielleicht gar nicht. Das ist ja auch anstrengend, immer so, patsch, klatsch, und noch mal. Übrigens auch seelisch, sofern man kein gewalttätiger Mensch ist, und sich bereits zum ersten Schlag mühsam überwinden musste. Und überhaupt genügt ja meist schon eine einzige Backpfeife, und die Sache ist damit angemessen geregelt. Wozu sich also mit einem Overkill belasten?

Trotzdem bemühe auch ich nun das Neue Testament, eben weil es so neu ist. Dann sollte man es auch benutzen. „Unser Herr Jesus“, sage ich in einem ironischen Tonfall, der meine laizistische Grundhaltung unterstreicht, „hat seinen Followern am Vorabend der Kreuzigung das Gleichnis von den zwei Höflichen an der Tür zum Speisesaal erzählt.“ Ich greife mir nun doch die Laugensemmel. „Jeder will dem anderen den Vortritt lassen, bis schließlich beide verhungert sind. Amen.“

Windelweiche Vollkaskowelt


In meiner Kindheit haben die ja noch richtig laut gekracht.

Die Schneebeeren sind reif. Dick und weiß hängen sie an ihrem Knallerbsenstrauch. Für uns Kinder war die Schneebeerensaison damals mit Abstand die schönste Jahreszeit. Wir pflückten die Beeren, schmissen sie auf den Boden und es knallte. Das war unser größtes Vergnügen – es gab ja sonst nichts. Nun gehe ich achtlos an dem Strauch vorüber. Denn die Schneebeeren sind zwar äußerlich, größer, schöner und leuchtend weißer als früher, doch sie knallen nicht mehr.

Wie hatte mich vor Silvester noch darauf gefreut, damit zu knallen, und dem offiziellen Böllerverbot so ein Schnippchen zu schlagen. Die Plandemie-Diktatur kann mich mal. Ich lasse mir das Feiern nicht verbieten. Dazu ein paar fette Seifenblasen in die Luft pusten und eine Orgie mit Mineralwasser, und zwar nicht so ne laue Medium-Plörre für Spießer und Angsthasen, sondern das „Classic“, das so wild und verwegen sprudelt, dass es manchmal sogar aus der Nase wieder rauskommt, wenn man es direkt aus der Flasche trinkt, was ich zu diesem Anlass ja auch tue – man lebt schließlich nur einmal. So hatte ich mir das vorgestellt.

Doch dann die Enttäuschung: So fest ich die Beeren auch auf den Asphaltboden schmettere, machen sie praktisch kein Geräusch mehr. Ich kann es nicht glauben, und probiere es wohl an die tausend Mal vergeblich bis zur Sehnenscheidenentzündung. Doch allenfalls ein leises „plopp“ ist zu hören.

In meiner Kindheit haben die ja noch richtig laut gekracht. So weiß es zumindest meine Erinnerung, in der sich eine Schneebeere im Sound nur marginal von einer Handgranate unterscheidet. Es kann schon sein, dass uns als Kindern alles viel intensiver vorkam, bunter, lauter, größer und auch länger andauernd. Gerüche, Geschmäcker und Geräusche – jeder Sinneseindruck wurde so zu einem einzigen Fest.

Doch nun müssen die irgendwas an der Züchtung verändert haben, so dass die nicht mehr knallen. Scheiß-Staat. Bestimmt haben irgendwelche Helikoptereltern dafür gesorgt, dass da nun im Grunde bessere Attrappen an den Büschen hängen. So ein Schneebeeren-Knall darf den Kinderchen heutzutage offenbar nicht zugemutet werden. Weil die sich sonst erschrecken und noch mehr Allergien entwickeln oder posttraumatische Belastungsstörungen. Auch Glutenunverträglichkeit. Die böse Wirklichkeit da draußen muss vor ihnen um jeden Preis ferngehalten werden. Sonst verklagen die Eltern das Gartenbauamt und das wird dann aber mal so richtig teuer. Und die konfliktscheue Regierung knickt natürlich ein.

Ganz davon abgesehen könnten ja auch Schwerhörige diskriminiert werden, weil es für die nicht richtig knallt, so dass ihnen der Spaß entgeht, und deshalb soll keiner Spaß haben, damit es fair für alle zugeht. Immer diese Gleichmacherei. Es ist ein moralisierendes Trommelfeuer, das uns noch alle hinwegfegen wird. Das weiß doch jeder, der NZZ, Compact oder auch nur ein Interview mit Dieter Hallervorden liest.

Aber vielleicht sollte man den Kindern einfach mehr zutrauen. Ehemals lebhafte und neugierige Kinder verpuppen sich in einem wattigen Kokon aus Sicherheit, Langeweile und Verboten zu apathischen Zellklumpen. In dieser windelweichen Vollkaskowelt mit ihren Snowberries für Snowflakes wird jedes Risiko ausgeschaltet, und damit auch jedes Abenteuer. Wir sind noch zu acht besoffen in einem alten Käfer ohne TÜV übers freie Feld geheizt, haben oben aus dem abgesägten Dach rausgeguckt, -gejohlt, -gekotzt, und uns dabei nicht selten überschlagen. Da ist natürlich auch der eine oder andere zu Tode gekommen, doch die auf diesem Wege spielerisch erworbenen Fertigkeiten wogen das allemal auf.

Denn wie sollen die heutigen Kinder bloß zurecht kommen, wenn mal wieder Krieg ist, und sie dann noch nicht mal den Knall einer Schneebeere ertragen? Aber vielleicht ist das ja auch gar nicht mal so schlecht. Es müsste nur auf der ganzen Welt so sein.