Die Besucher

Der Krieg hat sogar mich überrascht.

Viele holen ja ihre geflüchteten Ukrainer selbst am Berliner Hauptbahnhof ab. Mich erinnert das zu sehr an den Schüleraustausch in Frankreich, als man bei der Ankunft schon durchs Fenster des Reisebusses die wartenden Gastfamilien sah. Dann dachte man sich, „die sehen ja nett aus“, oder „oh Gott, bitte nicht zu denen“, bevor man random an irgendwelche Dumonts oder Duvaliers verteilt wurde. Auch im Tierheim kennt man das Prozedere auf beiden Seiten der Gitterstäbe.

Deshalb biete ich meine Unterkunft online an. Das halte ich für bequemer und auch menschenwürdiger. Bequemer vor allem für mich, mit der Menschenwürde als wohlfeiles Gimmick. Das ist Hilfe light; so sieht es eben aus, wenn die Kacke derart am Dampfen ist, dass auch wir Trägen und Verzagten, wir Angsthasen und Arschlöcher mitanpacken müssen.

Ich registriere mich auf der Vermittlungsplattform host4ukraine, und sofort meldet sich auf Englisch ein junger Mann, der Mutter, Großmutter und kleinen Bruder untergebracht wissen will. Die Anbahnung verläuft erratisch. Wiederholt wird die Ankunft verschoben, und als er mir einen Einzugstermin am kommenden Nachmittag bestätigen soll, reißt die Kommunikation endgültig ab. Ein Missverständnis?

Ich will schon die nächste Kandidatin auf der Liste anschreiben, da stehen auf einmal sechs Leute vor meiner Tür. Sechs statt drei, ach du Scheiße! Als ich gegen große innere Widerstände doch noch öffne, löst sich zum Glück das Rätsel: Mitgekommen sind der große Bruder, der mich angeschrieben hatte, sowie zwei ältere, in Berlin wohnende Verwandte. Sie stellen hier auf deutsch die Fragen, sie übersetzen, mäkeln nebenher ein bisschen herum, es ist ihnen zu schmutzig. Ich hatte aber nicht viel Zeit; kaum zu glauben, doch der Krieg hat sogar mich überrascht.

Bei mir einziehen sollen dann wie angekündigt nur eine Babuschka, die Mutter sowie der kleine Bruder. Sie sprechen weder Deutsch noch Englisch, wirken nett und schüchtern. Oder eher verschüchtert, was weniger toll ist, weil genau das der Krieg aus selbstbewussten Menschen gemacht hat: erschöpfte, gedemütigte Bittsteller bei irgendeinem bescheuerten Fremden in irgendeinem bescheuerten fremden Land.

Die Verwandten sind mir weniger sympathisch. Dennoch verstehe ich sie. Argwohn ist gut, Misstrauen ist besser. Irgendwer muss hier schließlich im Namen der Hilfesuchenden tough verhandeln und den Wohnungsgeber abchecken. Sie werden ja nicht hier wohnen und wollen auch nicht meine Freunde werden, was ihnen auf jeden Fall perfekt gelingt.

Da geht es zum Beispiel um den Nachbarn, den ich als Hilfe für Notfälle aller Art anpreise. „Das ist aber ein Deutscher?“, fragt die Verwandte, „und ein Mann?“ Ja, ist er. Na und? Oder auch nicht „na und“. Denn langsam dämmert mir, wie rundum unsicher eine Situation wie diese für die geflüchteten Frauen ist. Nicht umsonst patrouillieren am Hauptbahnhof Zivilbeamte, um die dort lauernden Fledderer im Zaum zu halten. Und wo ich von mir stets das Bild eines blütenweißen, freundlich-flauschigen Riesenkaninchens im Kopf habe, sehen sie eben nur einen etwas schmierigen, mittelalten Fremden, der leicht angespannt inmitten seiner schmutzigen Wohnung steht. Dazu kommt noch meine zweifelhafte Legende. Denn ich habe zwar behauptet, ich würde nun mit in der Wohnung meiner Frau wohnen, und könne deshalb meine eigene zur Verfügung stellen, aber ich kann natürlich viel erzählen, wenn der Krieg lang ist. Selbst wenn das stimmen sollte, wird es davon nur noch seltsamer. Nicht mal Selenskyj hat zwei Wohnungen. Und warum wohnt ein Mann nicht bei seiner Frau? Was ist denn das wieder für ein westliches Spinnerkonzept?

Daher entscheide ich mich, auf der Übersetzungs-App beim Sie zu bleiben. Auf der Flucht ist ja nicht beim Friseur. Immer schön vorsichtig. Dazu erleichtern zwei getrennte Wohnungen die schwierige Balance zwischen Hilfe und Privatsphäre. Vor allem mir, denn mit anderen Menschen habe ich es prinzipiell nicht so.

Aber genau deshalb bin ich auch ein wenig überfordert. Ich habe ihnen keinen Tee angeboten. Nicht nach den Namen von Großmutter und Enkel gefragt, und beide kaum beachtet. Die Leute nicht gefragt, aus welcher Stadt sie kommen, wie die „Reise“ war, ob sie müde sind, was mit dem Ehemann und Vater ist. Mir selbst beim Ich-Sein zuzusehen, ist einmal mehr ernüchternd. Andererseits gibt es auch einfach zu viele praktische Dinge zu besprechen, und in der kleinen Wohnung ist ohnehin kein Platz, wo sieben Leute in Ruhe Tee trinken können.

Und letztlich denke ich mir, dass zwar viele Gastgeber angenehmer sein mögen als ich, dafür andere aber auch noch schlimmer: Die Pässe oder Impfnachweise kontrollieren, scannen und kopieren, bevor sie auf die Mülltrennung hinweisen. Und dann sollen die Gäste ihnen noch haarklein schildern, wie ihr ganzes Leben von heute auf morgen zu einem kleinen Haufen Scheiße zusammengefallen ist. Zu viel Anteilnahme kann auch nerven.

Das wird mir jedenfalls nicht unterlaufen. Und was bringt es mir, zu wissen, ob und wie und warum sie nicht geimpft sind, denn was dann? Soll ich sie dann nicht aufnehmen? Ich bin geimpft – das muss fürs erste reichen.

Erstaunlich überhaupt, wie schnell die eine Notlage hinter der anderen verschwindet. Kein gutes Zeichen auch für den Klimawandel, der ja blöderweise jetzt nicht irgendwie pausiert. Für mich ist nun jedenfalls erst mal Krieg, noch dazu da meine eigene Erkrankung in etwa das Kaliber der Impfreaktion nach meinem ersten Schuss Astra Zeneca hat. Ich weiß, dass das einfach nur Glück ist, aber schon zuvor tagte in meinem Kopf teilweise eine Talkshowrunde, in der zwei strenge Spitzenvirologen, ein Kulturveranstalter und ein rechtsradikaler Schokoladenkeksfabrikant einander mit Argumenten beschmissen wie Kinder an der Ostsee mit Quallen. Die Talkshow ist vorbei. Stattdessen läuft nun ein „Brennpunkt“ nach dem anderen, dazwischen Trauermusik.

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