A Perfect Day

Spandauer Zitadelle

In der U7 fällt mir bereits am Mehringdamm die für die Tageszeit ungewöhnlich hohe Seniorendichte auf. „Die sind bestimmt nur falsch umgestiegen“, ist mein erster Gedanke. Schließlich fährt hier auch die U6 nach Alt-Mariendorf, das seinen Namen völlig zu Recht trägt als Ort mit noch mehr Altenbunkern als der Atlantikwall. Doch es sind keine gewöhnlichen Senioren im klassischen Senioren-Beige. Denn die weißen Haare der Männer sind, soweit möglich, voll und zerzaust, die der Frauen lang und offen. Dazu Lederjacken, lange Kleider, hier und da ein flotter, bunter Schlips. Pensionierte Kunstlehrer riechen nach Edelgras und gutem Rotwein. Sie fahren zum Lou-Reed-Konzert.

Genau da wollen wir auch hin. Als wir an der Station „Zitadelle“ die Bahn verlassen, regnet es in Strömen. An einem ambulanten Bierstand auf dem Weg zum Veranstaltungsort kaufen wir primitive Regenponchos, eigentlich nur so eine Art Mülltüten mit Löchern drin, für den Kopf und für die Arme. Die Gnade der späten Geburt spült uns trotz der Unterbrechung als erste an den Einlass – es ist schon von Vorteil, wenn man vergleichsweise rüstig ist.

Auf dem Konzertgelände sehen wir uns um. Lange habe ich mich unter derart vielen Leuten nicht mehr so als Nesthäkchen gefühlt. Seit dem Eric-Burden-Konzert vor fast zwanzig Jahren eigentlich nur noch auf Friedhofsspaziergängen.

Vorne ertönt schon Live-Musik. Doch die Vorband kennt keiner, irgend so ein 25jähriges Gör. Bei dem weiß man doch gar nicht so recht, wie man das einordnen soll – es ist zwar schön, wenn die Kinder auch mal was mit Musik probieren, aber dann vielleicht doch lieber erst zuhause unterm Weihnachtsbaum und nicht gleich hier in aller Öffentlichkeit. Die Eltern wieder! Unverantwortlich! Auch deshalb bleiben die Zuschauer solange lieber noch unter den schützenden Bäumen und Bierschirmen stehen. Schließlich könnte jede Erkältung den raschen Tod bedeuten.

Die Sängerin verabschiedet sich nach dem Musizieren fast unbemerkt. In der kaum einstündigen Umbaupause vor Lou Reed wird es höchste Zeit, einen möglichst guten Platz nahe der Bühne zu ergattern. Das könnte knapp werden, speziell unter diesen Bedingungen: Schmatzend versuchen sich blockierende Rollatoren durch den feuchten Kies zu fressen, wie Wehrmachtspanzer, die am Wetter und der Weite Russlands scheitern. Grobe Flüche sind zu hören – „Unhold!“, „Spitzbube!“, „Lümmel!“, „Gauner!“, – natürlich stets in Verbindung mit dem informellen Du, denn es sind im Wesentlichen das alte Kreuz- und Schöneberg, die hier versammelt sind.

Mit jugendlicher Eleganz winden wir uns durch die Masse, weichen geschickt dem einen oder anderen empört gefuchtelten Krückstock aus, und stehen schließlich relativ nah vor der Bühne. Hierher haben es auch ein paar Junge geschafft – das merkt man allein daran, dass bereits vor Erscheinen des Künstlers lautstark seine größten Hits gefordert werden: „Satisfaction“ sowie das allzeit unverwüstliche „Katzeklo“.

Als Lou Reed unter mürbem Beifall auf die Bühne tritt, trägt er ein breites Lächeln auf dem Gesicht. Ungewöhnlich für den sonst so mürrisch wirkenden Musiker und Schrecken der Journalisten, aber bestimmt ist er auch noch nie vor dreitausend Mülltüten aufgetreten. Das einzige andere Mal, dass ich den schlecht gelauntesten Star der Welt (Süddeutsche Zeitung) je freundlich gesehen hatte, war bei seinem Auftritt auf dem Roskilde-Festival im Jahr 2000. Nachdem dort am späten Freitagabend beim Pearl-Jam-Konzert auf dem völlig verschlammten Gelände vor der großen Hauptbühne neun Menschen bei einer Massenpanik gestorben waren, riss erst am Sonntag der Himmel auf. Mit sanfter Stimme sprach Reed in die ersten Sonnenstrahlen hinein zu den traumatisierten Besuchern. Und begann dann mit „Perfect Day“.

Doch ich schweife ab. Das Konzert des mittlerweile 70jährigen lässt alle den Regen vergessen. Die meisten hier vergessen ja ohnehin eine Menge. Mitten hinein in die leiseste Stelle des gefühligen „Sad Song“ hinein, ruft von hinten einer ganz laut: „Prima!“. Sonst nichts. Ach Berlin, ick liebe dir!

Auf der Rückfahrt wirken alle entspannt und glücklich. Lou. Lou Reed. Sie haben ihn noch einmal sehen dürfen. Aus welcher Perspektive dieses „noch einmal“ gemeint ist, wird sich später zeigen, wenngleich gewiss nicht sehr viel später. Zuhause im Bad entnehme ich meinem Mund die drückenden Zähne. Aus dem Spiegel grinst mir ein Greisengesicht entgegen.

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