Unter Leuten

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(Aus der Serie: Fußballgucken an merkwürdigen Orten)

Außer Pflanzen gibt es auf unserer Datsche wenig: kein Netz, keinen Empfang, keinen Fernseher. Also suchen Gartenfreund Ahne und ich zum Achtelfinale zwischen Kroatien und Portugal die Bar des nahegelegenen Wellness-Hotels auf. Nur haben die offenbar ihre Einlasspolitik geändert: Nichtgäste müssen leider draußen bleiben. Auf gut Glück fahren wir einfach weiter nordwärts ins Nichts hinein, und erreichen nach fünfzehn Kilometern Herzberg (Mark).

Die Straßen sind wie leergefegt. Etwa wegen des Spiels? Kurz meinen wir, dass hinter dem Fenster eines der einheitsgrauen Häuser die Gardine einen Spalt zur Seite geschoben wird. Vielleicht zaubert die Sensation, dass ein Auto mit Berliner Kennzeichen unangemeldet durchs Dorf rollt, dort gerade ein argwöhnisches Flackern in stumpfe Augen. Doch dann ist es nur eine Wolke, die ihren Schatten auf die Fensterscheibe wirft. Selbst treibende Tumble Weeds wären hier eine spannende Abwechslung.

Direkt hinter dem Kreisverkehr, der das Ortszentrum bildet, wartet auf uns eine schöne Überraschung: Wie ein altes graues Tier lauert geduckt der Dorfkrug auf Beute. Drinnen tatsächlich eine Riesenleinwand mit Beamer. Läuft. Ein Gast am Tresen. Ein Wirt dahinter. Zwei Spielautomaten, die von zwei Spielern bedient werden.

Wir grüßen und setzen uns auf zwei Hocker am Tresen. Der Versuch einer Bestellung scheitert zunächst. Ich tippe auf das in der Region geläufige Schutzfremdeln, doch der Tresengast kennt den Wirt besser: „Der hört nüscht.“ Mithilfe von Handzeichen klappt es am Ende doch. Ein Bier kostet 1,30 €. In der ungastlichen Wellness-Klitsche hätten wir fünf gezahlt, aber gut, wer nicht will, der hat schon.

Sachma, Frank“, sagt der Tresengast zum Wirt, nachdem wir eine Weile Soko Istanbul, Rosamunde Pilcher oder einen artverwandten Brainfuck verfolgen, ohne die Laufwege zu verstehen, „kommt Fußball nicht im Zweiten?“

Ja, kommt es. Auch wenn es immer noch nicht wie Fußball aussieht, sondern eher wie der Tatort: Wirrer Plot, schlechte Schauspieler und hanebüchenes Ende bei absurd hoher Einschaltquote. Die Männer am Automaten wenden dem Spielgeschehen konsequent den Rücken zu und verfolgen gebannt die rotierenden Südfrüchte.

Es ist heiß wie in der Sauna. Draußen hat es seit drei Tagen über dreißig Grad, die Türen sind zu, vor den schießschartenartigen Parterrefenstern sind die Rollläden geschlossen und bestimmt auch schon seit Jahren außer Funktion. Dazu wird exzessiv geraucht.

Der Fachmann nennt das Gewürge auf der Leinwand „taktischer Leckerbissen“ oder gar „Konzeptkunst“. Was für ein Oxymoron, im Nebenstilmittel Euphemismus: Taktischer Leckerbissen, schöne Scheiße, Mordsspaß. Die eine Mannschaft kann nicht und die andere will nicht. Erschwerend kommt hinzu, dass die, die nicht kann, ebenfalls nicht will, und die, die nicht will, obendrein nicht kann. Portugal und Kroatien sind wie zwei wunderschöne Frauen, die nicht da sind, und auch niemals kommen werden. Stattdessen haben sie zwei unfrankierte Eimer mit klebriger Scheiße geschickt. Wer so etwas Konzeptkunst nennt, lacht auch, wenn sich Kinder mit der Bastelschere in de Finger schneiden. Spannender wäre es, einem toten Fisch beim Atmen zuzusehen. Und die kroatischen Fans feuern ihn auch noch dabei an. Kann man eigentlich vor Langweile ohnmächtig werden?

Zur Pause geht der Tresengast – in einem der grauen Häuser wartet sein graues Bett. Ist schließlich fast schon zehn. Nun sind wir noch zu viert plus Wirt. Gartenfreund Ahne fragt, was denn eigentlich wohl wäre, wenn wir nicht hier wären? Komische Frage. Was soll sein? Dann wäre eben Frank da und die beiden Spieler. Wie immer. Nichts wäre. Nichts weiter.

Das Spiel schleppt sich in die Verlängerung. Einer der Automatenmänner jubiliert: Nun kann er länger bleiben. Offenbar hat er Mutti, wie man hier gern die Ehefrau nennt, erzählt, dass er Fußball guckt, „wichtiges Spiel“, im Dorfkrug, bei Frank.

Ihr Spiel ist jedenfalls todsicher, denn kein Unbefugter berührt jemals diese Automaten. Es ist ihr Automat und ihr Geld. Sie sind die einzigen, die den Automaten leeren, allerdings auch die einzigen, die ihn mit ihrem Geld befüllen. Kennzeichnete man die Münzen, die sie danach bei Frank zurücktauschen in Scheine, mit denen sie gestern erst ihr Bier bezahlt haben, wofür sie als Wechselgeld die Münzen herausbekamen, mit dem sie wiederum den Automaten füttern, würden sie jede einzelne wiedererkennen, da sie den geschlossenen Kreislauf Spieler-Wirt-Spielautomat kaum mal verlässt, so wenig wie sie selber Herzberg, wo sie geboren sind, und wo sie sterben werden.

Aber Mutti wird ihn verlassen. Den Kreislauf, den Ort und auch den Mann. Irgendwann hat sie nämlich genug von angeblichen Fußballspielen mit angeblichen Verlängerungen und den immergleichen Münzen, die niemals mehr werden und niemals reichen, und türmt in ernsthaft besiedelte Gebiete, wo es Arbeit gibt. Dort trifft sie auch ihre Freundinnen von früher wieder.

Die Männer würden es gar nicht merken. Mutti kommt, Mutti geht, egal. Sie nehmen es hin wie den Wechsel der Jahreszeiten und das Drehen der Walzen im Automat. Sie müssen spielen, zwanghaft, es ist eine Blaupause für das Spiel auf der Leinwand: Nichts geht und doch wird gespielt, ein vergebliches Anrennen gegen den Tod, aber auch gegen das Leben und dessen Sinnlosigkeit. Kroaten und Portugiesen sind ihre Brüder im Geiste. Sie alle wissen nur eines: sie möchten so lange spielen wie möglich, denn zuhause wartet eh bloß Mutti.