Als ich am Nachmittag das Haus verlasse, ist alles voll mit jungen Leuten. Mit Sektflaschen bewaffnet, ziehen sie über die Bürgersteige und auch die Fahrbahnen. Für andere Verkehrsteilnehmer ist kein Durchkommen mehr, noch nicht einmal für Fahrradfahrer. Heute zeigen sie es uns Bonzen aber mal so richtig. Doch ich bin ein guter Verlierer. Außerdem gehört der Tag der Arbeit nun mal diesen Menschen, und dass er eine solche Masse von ihnen zu mobilisieren vermag, stimmt mich froh: Ich bin echt positiv überrascht, wie viele aufrechte Proletarier es offenbar noch gibt.
Diszipliniert stehen die Arbeiterinnen an den ambulanten Bier-, Fress- und Caipirinhaständen an, die vor allem im Bannkreis der Spätis wie Pilze aus dem Boden schießen. Aperol Spritz gibt es natürlich ebenfalls, die rote Farbe passt perfekt zum ersten Mai. Was für ein originär revolutionäres Gemisch: Rotfront, Rotsaft, Rotnase – Völker sauft die Liköre, auf zum letzten Getränk …
Geduldig warten sie auch in langen Schlangen vor den Cashautomaten. Dass sie das Leiden gewohnt sind – auf dem Arbeitsamt, am Fließband, dazu die Enge in den Mietskasernen – sieht man auch hier wieder. Kaum ein Klagelaut kommt über ihre zähen Lippen, allenfalls lautes Kreischen und Lachen, wenn man zufällig Freunden begegnet, oder einem einmal mehr eine volle Bierpulle auf den Radweg gefallen ist. Doch dann holt man sich – heureka! – eben einfach eine neue. Not macht erfinderisch, und der eiserne Durchhaltewille dieser braven Menschen ist legendär.
Die meisten der Werktätigen sind jung; die harte Fronarbeit hat in ihren Gesichtern bislang kaum merkliche Spuren hinterlassen, bis auf ein paar glasige oder stark gerötete Augenpaare. Das ist ganz erstaunlich. Nur wenn sie zur Straßenmusik sinnlos schreien, zucken und stampfen, bekommt man eine leise Ahnung davon, was diese Menschen täglich durchmachen müssen.
Die Arbeiterschaft ist international. Ich höre Englisch, Spanisch, Französisch, Italienisch, Dänisch. Und wie ich sehe, gehören Tanktop, Sektflasche, Vaporizer und Strohhut zur Grundausrüstung der modernen Malocher. Die Zeiten haben sich gewandelt, doch der Stolz bleibt. Was für ein Anblick – die Arbeiterklasse lebt! Und wie! Lenin hätte wahrscheinlich vor Freude geweint.
Redlich angetrunkene Arbeiter fahren nun zu dritt auf einem E-Roller im Slalom durch die dichte Menge vor dem U-Bahnhof. Sie rempeln einen schimpfenden Kollegen an, dem der Aperol rot aufs Seidenhemd spritzt, und fahren lachend weiter. Wer möchte es ihnen verdenken, denn es sind gerade sorglose kleine Momente wie dieser, der ihnen ein paar unbeschwerte Sekunden schenkt, in denen sie ausnahmsweise ihre Sorgen und Nöte, den Schinder an der Werkbank und den Zigarre rauchenden Fabrikbesitzer in seiner fetten Villa, die sie allein mit ihrem Schweiß und Blut bezahlt haben, wenn schon nicht vergessen, so doch immerhin für kurze Zeit verdrängen können.
Später komme ich schlecht in mein Haus wieder rein, weil erst eine Gruppe besoffener Amerikaner die Tür versperrt, und dann der Eingang voller Flaschen liegt. Aber ich verstehe ja, dass sie keine Zeit haben, ihren Müll wegzumachen. Morgen um sechs müssen sie bestimmt schon wieder bei Borsig an der Maschine stehen, in der Pizzafabrik am Hochofen, oder in der Werbeklitsche am Espressoautomaten. Da wollen sie wenigstens jetzt einmal ein bisschen feiern, und keine Flaschen wegräumen. Heute ist ihr Tag. Wer das nicht versteht, ist ein herzloses Ausbeuterschwein, das dieser hart schuftenden Schicht noch nicht einmal diese kleine Auszeit gönnt.