Mit Freuden stelle ich dieser Tage fest, dass ich zunehmend autark werde. Auf meinem Balkon reifen und gedeihen die Nutzpflanzen wie bescheuert. Die Tomaten werden rot. Eine habe ich sogar schon gegessen. Ich werde kein Geld mehr brauchen, um mich selbst zu versorgen. Die Früchte wachsen mir quasi in den Mund. Über den Winter frieren sie sich von selber ein, im Sommer lebe ich im Überfluss. Gelüstet es mich nach Fleisch, so fange ich ein paar Spatzen oder Hummeln und lasse sie in der Sonne garen. Wenn mich dürstet, labe ich mich am prasselnden Regen. Der Balkon ist praktisch mein eigener kleiner Lebensraum im Osten, erobert mit friedlichen Mitteln von einem Führer der Liebe, der Weisheit und der Bescheidenheit: von mir.
Andere haben es längst vorgemacht. So ernährt sich mein Freund Mark seit Jahren ausschließlich von Tomaten. Das hat ihm nicht bloß einen einprägsamen Spitznamen verschafft, er wirkt auch sehr gesund unter der vernachlässigbaren äußeren Hülle aus Schrund und Ekzemen, die nur unterstreicht, dass seine Lebensweise ihn bis zum Anschlag mit innerer Schönheit und Stärke ausgestattet haben muss. Und er hat nur Tomaten. Da wird es mir doch gerade noch gelingen, mich von Tomaten, Basilikum, Schnittlauch und Petersilie zu ernähren. Und Efeu. Und Blumen.
Viele Blumen kann man ja essen. Eigentlich alle. Sie schmecken bloß nicht gut. Aber wir sollten endlich davon abgehen, zu viel vom Leben zu verlangen: Züge, die fahren. Fernsehen, das unterhält. Freunde, die wir mögen. Bezahlbaren Wohnraum. Heilbare Krankheiten. Essen, das schmeckt. Es ist ebendiese Anspruchshaltung, die unseren Planeten an den Rand des Abgrunds befördert hat; eine Haltung, die wir verwöhnten Prinzesschen lieber heute als morgen ablegen müssen. Fragt nicht, was das Leben für euch tun kann – fragt, was ihr für das Leben tun könnt.
Wozu wir denn dann überhaupt noch leben sollen, wird nun wieder irgendein Kamerad Naseweis unken: Da bliebe am Ende doch nur noch Freudlosigkeit pur.
Wozu, wozu, wozu? Wer Wozu fragt, trägt auch beim Bügeln einen Sturzhelm. Das Wozu ist neben dem Warum und dem Wieso eine der drei großen Schwestern von Scheiße. Wieso denn um Himmels Willen „Freudlosigkeit pur“? Nichts in aller Welt bereitet dem Redlichen doch mehr Freude als sein Leben dem altruistischen Dienst an der Askese zu widmen. Das warme Bad in der Schuldlosigkeit unter dem blütenweißen Schaum des guten Gewissens, auf dem das Badeentchen der Willensstärke mehr majestätisch schwebt denn dümpelt. Und noch nie hat man gehört, dass ein Mensch, der sich ausschließlich von auf dem eigenen Balkon gezogenen Tomaten ernährt, ein Gemetzel unter der Zivilbevölkerung angerichtet hätte. Umgekehrt finden sich hingegen Dutzende: Massenmörder, Diktatoren, Menschenfeinde – sie alle ließen andere für sich anbauen oder kauften gar im Laden. Diese Zusammenhänge gilt es zu verstehen, möchte man als mündiger Bürger gelten.
Doch natürlich gehört nicht nur die der eigenen Krume abgerungene Ernährung zu einem unabhängigen Lebensentwurf. Auch andere Bedürfnisse körperlicher, geistiger und kultureller Natur möchten mit autarken Mitteln gestillt werden.
Wenn ich krank bin, esse ich etwas Petersilie. Danach geht es mir gleich wieder gut. Ist mir kalt, so schneidere ich mir ein Kleid aus den kuscheligen Blüten des genügsamen Huflattichs. Will ich eine Fremdsprache lernen, lehne ich mich über die Brüstung und lausche den englischen und spanischen, den französischen und italienischen Vokabeln der unten vorüberziehenden ZooSzenekiezbesucher. Auch Theater wird hier geboten, am dramatischsten gerät die Inszenierung freilich, wenn ich in der Vornacht einige Straßenschilder umgestellt habe. So bin ich Gott, Regisseur, Zuschauer und – wenn es optimal läuft – Mordzeuge in einem. Befällt mich der Geschlechtstrieb, werfe ich zusammen mit wohlgesetzten Schmeicheleien einfach ein paar Blumen vom Balkon auf mir genehme Passantinnen hinunter und schon klingeln die Sturm. Möchte ich verreisen und der ignorante Veranstalter akzeptiert meinen Schnittlauch nicht als Währung – kein Problem: Ich rauche einfach die getrockneten, jungen Triebe des Efeus und bin anschließend stunden-, ja tagelang in den aufregendsten und buntesten Welten unterwegs wie sie nie zuvor ein Mensch erblickt hat. Auf dem Flug dahin trinke ich meinen eigenen Tomatensaft.