Jetzt will ich aber doch mal etwas zu der ganzen Sache sagen. Denn es tut mir ja leid für den Nachbarn. Genau genommen ist er nur der Nachbar meiner Frau; ich könnte auf ihn und seine Gefühle also lässig scheißen, doch ich möchte keinen Missklang. Harmonie soll herrschen allüberall. So bin ich.
„Good to see you“, hat er schon wieder gesagt, oder „Great to see you“, oder was die immer so sagen in ihrem Englisch. Und ich stutze dann jedes Mal und lasse eine peinliche Schrecksekunde verstreichen, ehe ich ihm nachplappere, oder sogar variiere: „Äh … nice to see you.“ Weil ich ja weiß, dass die das so machen. Die meinen das ja nicht böse. Die meinen gar nichts. Die labern das halt so dahin. Das weiß man ja.
Aber wegen der Verzögerung denkt er bestimmt, ich fände es nicht gut, ihn zu sehen. Tue ich ja auch nicht und ihm geht es garantiert genau so. Nur so deutlich will ich ihm das gar nicht zeigen, das macht man ja nicht. Ich schalte bloß nicht schnell genug. Werde ich auf der Treppe überraschend auf Englisch angesprochen, brauche ich immer kurz, um mich zu sammeln und umzuschalten. Für meine Generation kann ich zwar ganz okay Englisch, denn in der Schule hat man auch damals schon brauchbare Basics mitbekommen, aber mehr als B2-Niveau ist das trotzdem nicht. Ich musste niemals länger als sechs Wochen im Stück Englisch reden, habe es nie beruflich gebraucht und auch nie auf Englisch geliebt. Die Verkehrssprache war eigentlich immer deutsch. Jetzt steh ich da mit meiner Gartenzwergmentalität.
Höchste Zeit also, das Missverständnis ein für alle Mal mit einem gewaltigen Befreiungsschlag zu klären. Es tue mir leid, sage ich, und zimmere mir ein paar komplizierte Gerundstrukturen zurecht. Englisch ist mir immer eher zu wenig Grammatik. Mehr wäre mir lieber. Die Grammatik ist nicht das Problem, der ausufernde Wortschatz ist es, soll heißen, ich weiß eben oft die Wörter nicht. Außerdem verstehe ich schlecht und ich kann auch schlecht sprechen, aber der Rest ist im Grunde perfekt. Es tue mir also leid, dass ich immer so komische Pausen machte, fahre ich fort. Das sei nicht böse gemeint, „no offense, Mister Neighbour.“ Mein Englisch sei einfach nicht so gut, und ich müsse immer kurz nachdenken, ehe ich antwortete.
„Alles okay“, sagt der Typ. Er lacht nun so ein bisschen embarasst und würde wohl gerne weg, doch ich muss das unbedingt bereinigen, jetzt oder nie. Kein Schlammkorn soll fürderhin das Bächlein unserer Beziehung trüben.
Es sei ja weniger die Sprache an sich, gebe ich des Weiteren zu bedenken, sondern die Mentalität dahinter: „Good to see you“ – sorry, aber das sei völliger Quatsch, das sage man so in Deutschland nicht. Kein Schwein, zumindest keines über 35 und bei Sinnen, käme auf die Idee. Niemand fände es gut, geschweige denn „großartig“ – an dieser Stelle spreize ich affig den kleinen Finger ab –, einem Fremden zu begegnen, und würde es daher gar nicht erst behaupten. Was sollte das um Gottes Willen bringen? Eben darin läge mein Dilemma, denn eine solche Lüge sei gegen meine Natur und meine Vorstellung von Ehrlichkeit. Deutsche dächten halt „du mich auch“ oder „hau ab“ – ihm zu Ehren übersetze ich das kongenial in „fuck you“ –, und sagten daher lieber gar nichts. Da ich jedoch höflich sein wollte, passte ich mich gerne seinen Gepflogenheiten an, bräuchte gerade dafür aber jene Atempause. Und es täte mir wirklich leid, ich hoffte aber, er verstünde nun.
„It was really good to see you.“ Auf seinem Weg runter nimmt er nun hörbar mehrere Stufen auf einmal. Doch gelernt hat er, fürchte ich, nichts.