Jeder Mensch kennt die entscheidenden Kipppunkte, an denen man von einer Lebensphase unumkehrbar in die nächste gelangt. Nach Erreichen dieser Wegmarken ist dann praktisch nichts mehr wie zuvor – man ist endgültig eine andere Person geworden innerhalb der eigenen: Die Abnabelung, der erste Zahn, das Seepferdchen, der erste Schultag, die erste Menstruation, die erste Liebe, das erste Bügelbrett, die Midlifecrisis, der erste Rollator und am Ende auch der Tod.
Man rutscht von der Kindheit in die Pubertät, oder vom Erwachsensein ins Alter. Gerade war man noch hier, plötzlich ist man drüben. Das geht mir durch den Kopf, als ich mich im Auto zum ersten mal in meinem Leben sagen höre: „Ich mach mal auf meiner Seite das Fenster zu, das zieht dann nicht so.“
Aha, denke ich im nächsten Moment mehr ernüchtert als erschrocken: In dem Alter bin ich jetzt also, in dem es ständig überall zieht, und man schreckliche Angst davor hat, denn das könnte jederzeit eine finale Lungenentzündung bedeuten. Dass diese eigentlich durch Bakterien hervorgerufen wird, kümmert uns nicht. Wissenschaft hat uns noch nie interessiert. Es ist ausschließlich der tückische Luftzug an sich, der in etwa so direkt tötet, wie ein Tiger, der mich aus dem Busch anspringt. Und zwar fahrlässig bis absichtlich herbeigeführt von rücksichtslosen Jugendlichen, kaum 58jährigen flatterhaften Wesen aus einer unbeschwerten Welt, der man bis eben noch selbst angehörte, ehe man den Mund öffnete und die verhängnisvollen Worte sprach, „es zieht“.
Der passiv-aggressive Stil meiner Klage bleibt mir dabei selbst nicht verborgen. Der scheint zu diesem Reifungsschritt immanent dazuzugehören. Denn „kannst du bitte das Fenster schließen, es zieht mir hier zu sehr“, wäre in der Kommunikation viel zu geradeheraus. Das muss zwingend in einem leicht beleidigten Unterton passieren, wie man ihn von alten Leuten in dieser Situation gewohnt ist. Warum das so ist, weiß ich nicht, aber ich mache es automatisch richtig: „Ich schließe besser mal das Fenster“, hach, immer muss ich alles selber machen, falls ich nicht auf der Stelle sterben will; euch ist das ja leider offensichtlich komplett wumpe. Charaktertest nicht bestanden, im Grunde müsste man die Polizei rufen …
Der schlimme Zug hat die Schleusen der Beschwerden und Beschwerdefreudigkeit geöffnet. Im Ruheabteil des ICE werde ich fortan loszetern, sobald ein Reisender nur den Mund aufmacht. In Clubs und auf Konzerten werde ich darauf dringen, die Musik leiser zu stellen – „leiser, Minelli, höhö“, werde ich das in altersgerechte Wortspiele kleiden. Bald ist es mir permanent zu hell, zu laut, alles riecht und schmeckt zu ungewohnt – „nein, davon bekomme ich Bauchgrimmen.“ Ich gebe nur deshalb das Rauchen auf, um das Näschen schmerzensreich kräuseln und affig mit der Hand wedeln zu können, sobald in meiner Nähe, und sei es an der frischen Luft, jemand eine Zigarette anzündet. Meine Lieblingswörter werden sein „nein“ und „nicht“, mein Lieblingssatz, „das ist hier verboten.“ Und vor allem: Es zieht wie Hechtsuppe!
Kann man das bitte noch mal zurückdrehen? In diesem jahrzehntelangen Endkampf zwischen Angsthase, liebenswürdigem Greis und bemitleidenswertem Dauernörgler will ich mich noch nicht sehen. Aber man kann sich das nicht aussuchen, so wenig wie das Schwinden der Sehstärke, das Nachlassen der Körperkraft, ja noch nicht mal das panzerartige Verhärten der eigenen Ansichten. Ich bin irreversibel auf der anderen Seite gelandet, im nervigen Lande Mimimi, dem dunklen Reich des ewigen Luftstroms, da, wo es immer zieht.