Der Elefant

Er kommt mit zwei Riesenpackungen Popcorn an den Tisch zurück.

Als ich im Foyer des Kinos bei einem Bier auf meine Leute warte, die die Karten haben, fällt er mir sofort auf: ein etwas vierschrötiger Typ, Mitte dreißig, mittelgroß, der stämmige Rumpf in einem schreiend bunten Sommerhemd, darüber ein 17-Tage-Bart im freundlichen Gesicht und ein Basecap on top. Die ganze Erscheinung taumelt irgendwo quer durchs geschmacksverminte Niemandsland zwischen Fleckenmittelverkäufer in der Fußgängerzone, US-Tourist und dem, was man mal eine Zeitlang „Hipster“ nannte.

Hyperaktiv und verloren zugleich schwirrt er durchs Foyer, und steuert dann auf mich zu. „Entschuldigung“, spricht er mich auf Deutsch an. Er ist hörbar kein Muttersprachler, ein bisschen aufgekratzt, ein bisschen nervös, ein bisschen vielleicht auch im Frühstadium dezenter Mutangetrunkenheit. Dazu kommt so eine angelsächsisch wirkende Kommunikationsfreude, als wäre er entweder noch nicht lange genug hier, oder hätte ein besonders dickes Fell und sich von der permanenten Zurückweisung durch die Einheimischen noch immer nicht entmutigen lassen. Er fragt mich, was für ein Bier ich trinke und ob das gut sei? Ja, ist okay, sage ich. Es ist dieses „Allgäuer Büble“ mit dem Schnappverschluss, das sie seit ein paar Jahren in den Kinos der Yorck-Gruppe verkaufen.

Er kann das „Ü“ nicht aussprechen, fragt noch mal nach der Sorte und dem ungefähren Sound, und auch, ob ich in Berlin wohne – das muss der berühmte „Smalltalk“ sein, von dem, Fluch und Segen der Globalisierung, in den jüngsten Jahrzehnten zunehmend die Rede ist. „Ja“, sage ich geschwätzig. Er bedankt sich und geht zum Verkaufstresen.

Ich schätze es durchaus, wenn jemand, der hier lebt, versucht, meine schwierige Sprache zu lernen – die abgefeimte Schnapsidee, auch noch die Artikel (!) in drei Geschlechtern zu deklinieren (!!), dürfte weltweit einmalig sein –, Amerikaner scheint er also schon mal nicht zu sein. Die sparen sich das in der Regel. Also rate ich weiter.

Ich bin mir nämlich trotz der Ü-Schwäche noch immer nicht ganz sicher, ob sein Akzent überhaupt englisch oder aber niederländisch ist, obwohl sich das normalerweise deutlich unterscheiden lässt. Dabei wirkt er strukturell naturprollig wie ein Australier – hoppla, wie leicht die Stereotypen aus der Feder flutschen, sobald es um eher privilegierte Gruppen geht. Da darf man endlich mal so richtig die Sau rauslassen, und es gilt trotzdem als korrekt, wie zum Beispiel Ageismus gegen Boomer. Irgendwo muss all der ja auch in den Besten und Gerechtesten von uns lodernde Hass schließlich hin; irgendwo im engen, dunklen Gesinnungskorridor brennt zum Glück immer noch ein kleines Licht, und beleuchtet die eigene Erhabenheit.

Er kommt mit zwei Riesenpackungen Popcorn und einem „Büble“ an den Tisch zurück und stellt das Zeug dort ab. Nun frage ich ihn, woher er denn käme. Er sagt „Südafrika“, und sofort gibt das alles wieder auf wunderbare Weise Sinn, fügt sich Mosaiksteinchen an Mosaiksteinchen, und das mehr noch, als nun eine Frau von hinten an ihn herantritt. Er dreht sich um, erschrickt, sie begrüßen sich, und ich weiß auf Anhieb: die kennen sich nicht gar nicht, aber die kennen sich auch nicht gut. Das ist hier ein frisches Date. Sie spricht Deutsch, er hat geübt. Jetzt weiß ich, woher seine Nervosität rührt.

Die beiden matchen nicht. Er ist ein Trampel, während sie etwas durch und durch Feingliedriges ausstrahlt, an Körper, Seele und vor allem Style. Als er ihr mit niedlicher Unbeholfenheit eine der kubikmetergroßen Jumbopopcorntüten entgegen jongliert, hat sie sichtlich Mühe, ihre Gesichtszüge nicht entgleisen zu lassen. Doch sie schafft es. Ihr Lächeln bleibt stehen wie aufgeschminkt – die minimalen mimischen Einfärbungen von Entsetzen, Resignation und Nahtoderlebnis fallen sicher nur mir auf.

In dem Moment reißt die andere Tüte, die der Typ zusammen mit dem Bier und deshalb nur mit zwei Fingern der linken Hand am Rand hält, auf, und hunderte Poppkörner purzeln auf und über Tisch, Stuhl und Boden.

Das ist jetzt schon irgendwie blöd. Ich habe das Gefühl, die beiden wollen möglichst schnell von hier weg, und biete ihm an, wegen des Malheurs an seiner Stelle dem Personal Bescheid zu sagen. Der Mann ist mir nicht unsympathisch, entfernt bewundere ich ihn sogar. Scheitern kann schließlich nur, wer es wenigstens versucht hat, und ein bisschen tut mir das Debakel hier für beide weh. Aber vielleicht wird es ja am Ende doch noch was. Ich spiele dann auch gern die Brautjungfer.

Zangengeburt

Absolut kein Gig für Anfänger.

Im Supermarkt spielen sich entsetzliche Szenen ab. Es gelingt mir nicht, das gewünschte Käsezwiebelbrötchen aus der Backstation zu fischen. Wiederholt entwindet es sich tückisch dem Zugriff der Brötchenzange. Der erniedrigende Slapstick erinnert mich fatal an diese Jahrmarktautomaten, aus denen Kinder mit per Joystick gesteuerten Greifarmen Stofftiere ziehen können, besser, ziehen könnten, denn die Apparate sind so konstruiert, dass immer kurz vor dem erwarteten Triumph die Beute in den Pool zurückstürzt. Das Kind versagt zuverlässig, der Besuch des Rummels ist verdorben. Einem übermütigen Kind mag das im Ausnahmefall Demut vermitteln, doch eines mit wenig Selbstvertrauen frustriert das ausbleibende Erfolgserlebnis nur noch mehr, bis es eines Tages verbittert zum Sturmgewehr greift, um sich an einer Welt zu rächen, die ihm jedes noch so kleine Glück verweigert.

Ich versteh das nicht. Ich habe das doch schon oft geschafft. Da ging es sogar ganz leicht. Allerdings waren das anspruchslosere Brötchen, weicher, kleiner oder länglicher, und besser zu greifen. Und nicht wie dieses harte, viereckige Käsezwiebelbrötchen mit seiner anspruchsvollen Haptik – die Reifeprüfung unter den Greifaufgaben. Absolut kein Gig für Anfänger. Ich könnte es natürlich mit einem einfacheren Brötchen versuchen, doch ich fürchte, ich bin durch die Fehlversuche bereits derart entmutigt, dass ich nun selbst daran scheitern würde. Und dann wäre ich mental vollends gebrochen, so wie neulich, als ich das Wordle nicht rausgekriegt habe. Außerdem will ich ein Käsezwiebelbrötchen und keine Doofenschrippe, das muss doch wohl irgendwie möglich sein!

Ich werde zunehmend hungriger, wütender und verzweifelter. Auch komme ich mir langsam vor wie so‘n Idiot. Ach nee, das ist kein gutes Wort. Eher wie ein Affe. Wie so ein gottverdammter Scheißaffe. Das passt eh besser. Ugga, angel, fail, wüt, fletsch, kreisch, kaputtmach oder übersprungsfick. Vielleicht stehen ja Verhaltensforscher der Humboldt-Uni, für mich unsichtbar, auf der anderen Seite dieser Kackstation, und notieren auf einem Klemmbrett ethologische Auffälligkeiten.

Da hätten sie aber fett zu tun. Ich bin den Tränen nahe, wie ja ohnehin permanent, seit ich die fünfzig überschritten habe. Das Leben spielt mir übel mit. Dennoch widerstehe ich der Versuchung, das Brötchen ohne Zange zu bergen, wie so ein abgefuckter Unhold. Einen solchen Zivilisationsbruch brächte ich niemals über mich.

Jetzt stellt sich auch noch rotzfrech eine Frau daneben und sieht mir bei meinen Bemühungen zu. Ich gerate ins Schwitzen. Mit Publikum stelle ich mich sogar noch dümmer an. So eine Bühnensituation setzt mich immer total unter Druck – ich bin einfach nicht dafür geschaffen. Im Rampenlicht verbrutzle ich wie ein Vampir in der Sonne.

Das macht die doch extra. Ich versuche, sie zu ignorieren, doch es gelingt mir nicht. Was glotzt die denn so? Gehen Sie weiter, es gibt hier nichts zu sehen! Ich glaub, ich schmier der gleich eine; dann weiß sie endlich, warum sie so guckt.

Oder hat sie vielleicht nur Hunger und hätte irgendwann gern selbst die Zange? Frisch aufgemerkt, werte Frau Glotzhuber, dann hätte ich drei gute Tipps: Erstens, dran ist man, wenn man dran ist. Also gehen Sie zweitens besser ganz weit weg, am besten raus aus dem Laden, und lassen mich drittens unbehelligt mein Ding machen. Ich benötige hier nämlich absolute Ruhe.

Böse starre ich sie aus meinen Triefaugen an, bis sie sich schließlich verzieht. Gut so, ich muss mich konzentrieren. Und Zeugen für meine Schmach kann ich schon gar nicht gebrauchen.

Number One

Eine Schnellabfertigung ohne Privatsphäre.

Ich muss schon sagen, dass gerade mich als Mann der Anblick stark belastet: Im Kino oder bei Konzerten komme ich auf dem Weg zum Klo regelmäßig an einer langen Schlange aus ebenso langen Fressen vorbei: den Frauen, die vor dem Frauenklo sehr lange warten müssen, bis endlich eine Kabine frei wird. Die passiv aggressive Ausstrahlung der Wartenden trübt meine bis dahin glänzende Freizeitlaune. Während ich dann – husch, husch, und ohne Wartezeit – vor, neben oder in das Becken pinkle, wünsche ich mir oft, die Toilettenbereiche für Frauen und die für Männer lägen weit voneinander entfernt, so dass ich den stummen Vorwurf nicht mitansehen müsste. Denn so wie es ist, bleibt die permanente Konfrontation mit dem Ärger der Frauen, ausgerechnet in dem als Safe Space für unsere Seelen gedachten, kurzen Qualitätszeitfenster abendlicher Ablenkung, eine Zumutung für uns Männer, die wir ja immerhin auch so etwas ähnliches wie Mitgefühl zu spüren in der Lage sind. Man ist ja kein Unmensch. Im Grunde gleicht meine innere Zerrissenheit eins zu eins der einiger deutscher Intellektueller im Ukraine-Krieg.

Der Ansatz der betroffenen Frauen ist allerdings verblüffend anders. Egoman stilisieren sie sich doch tatsächlich zu alleinigen Opfern dieser für Jedermann unbefriedigenden Verhältnisse. Solcherlei identilympisches Gerangel um die begehrten Siegerplätze auf dem Treppchen der größten Benachteiligung sind zurzeit ja schwer en vogue. Ich als alter weißer Stehpinkler prangere das an. Wie soll ich da denn konkurrieren, wer benachteiligt bitte mich, bin ich zu uninteressant, bin ich das etwa nicht wert? Ich leide darunter, dass es mir so gut geht.

Ohne Rücksicht auf meine Empfindungen fordern Frauen gleiche Chancen beim „Kleinen Stuhlgang“, oder „Number One“ wie der Angelsachse den Vorgang in seiner ungemein facettenreichen Sprache nennt. Apropos. Wäre ich der Besitzer des Number One Sushi in Prenzlauer Berg, hätte ich mein Lokal bestimmt anders genannt. Ich weiß zwar nicht genau wie, aber Number Two ebenfalls nicht. Eher Super Sushi oder so. Und was versteckt sich eigentlich hinter Number Three, Four und Five: kotzen, koksen, vögeln?

Number One geht bei den Männern jedenfalls schneller – das ist nicht zu leugnen. Um die Verhältnisse an den Klotüren wenigstens im Ansatz anzugleichen, hat die Berlinerin Leila Olvedi das platzsparende „Missoir“ erfunden. Es ähnelt einem Pissoir, in dem die Becken jedoch für den sitzenden Gebrauch angepasst und optimiert sind. Die Wasserlassenden hocken nebeneinander wie Hühner auf der Stange, eine Schnellabfertigung ohne Privatsphäre, wie man sie auch von den Schwanzvergleichsrinnen der Herren kennt. Und es ist sicher keine Absicht, aber das Wort Missoir erinnert schon sehr an ein mit dem Strahl verfehltes Urinal, und damit an die kognitive und motorische Inkompetenz der meisten Männer bei dessen sachgemäßer Nutzung. Auch die wahrscheinlichere Ableitung des Namens vom diskriminierenden Begriff Fräulein passt nur so halb zu einem feministischen Projekt.

Daneben gäbe es noch eine simplere Lösung des Problems. Wenn Männer keine Vorteile mehr in puncto Bequemlichkeit und Wartezeit haben sollen, wäre es zunächst doch am einfachsten und billigsten, ihnen die Pisslogistik zu erschweren, und die Ungerechtigkeit auf diesem Weg zu nivellieren. So könnte man zum Beispiel auch die Männerbecken entfernen, deutlich höher hängen oder auf den Kopf stellen. Ob das am Ende überhaupt einer merkt, ist erfahrungsgemäß zu bezweifeln, aber einen Versuch wäre es wert.

Hinein zum ersten Mai

… und wartete zunehmend breiter auf die Dämmerung …

Den ersten Mai verbringen wir wie richtige Erwachsene. Während irgendwo längst die Frühaufsteher vom Gewerkschaftsbund labern, gibt es bei uns erst mal schön Frühstück. Salami aus der Wallachei, Käse aus Frankreich und Sechsminuteneier aus Biocompany. Anschließend ausgiebiges Studium der Rätselseite in der Wochenendzeitung, und später ein gemütlicher Spaziergang Richtung Neuköllner Kino. Irgendwo hinter uns im gähnend leeren Saal sitzt nur ein einzelner mutmaßlicher Wichser alleine in der allerletzten Reihe. Ist zwar absolut kein Wichsfilm, aber um drei Uhr nachmittags müssen die auch nehmen, was sie kriegen. Entspannt lehnen wir uns zurück. Bloß kein Stress.

Früher lief der Tag ja immer so ab: Zusammen mit anderen Arztsöhnchen und Architektinnentöchterlein aus Westdeutschland trank man aus Solidarität zur Arbeiterklasse Bier vom Späti, kiffte, und wartete zunehmend breiter auf die Dämmerung, in der die Lage endlich eskalierte. Dann ließ man sich von blutrünstigen Bullen durch Kreuzberger Seitenstraßen jagen, und wurde nicht selten grün und blau geknüppelt, wenn man Glück hatte. Hatte man Pech, wurde man rot geknüppelt und landete im Krankenhaus. In jedem Fall ein großes Vergnügen, das aber irgendwie schlecht alterte.

Nach dem Kino sind wir rechtschaffen hungrig. An einem Tag wie heute wollen wir uns eigentlich mal stilecht unters Volk mischen, nur leider ist vor dem Dönerladen in der Sonnenallee die Schlange viel zu lang. Zum Glück spielt Geld keine Rolle, wir sind ja schließlich erwachsen, und nur einen Block weiter ist noch genügend Platz vor einem netten Lokal: Asiatische Fusion mit einem starken chinesischen Einschlag, jedoch nicht so ein Achtzigerjahre-Dorfglutamatchinese, wo es nach dem Schweineschnitzel Süßsauer mit Pommes noch einen Ouzo aufs Haus gibt, sondern einer mit perfekten Dumplings. Dazu trinke ich ein schönes Glas Riesling. Irgendwo dahinten beginnt jetzt die „Revolutionäre 1. Mai Demonstration“, da bin ich früher auch mal mitgelatscht, das wurde mir dann aber schnell zu hektisch. Hier vor diesem Restaurant für Erwachsene ist es gerade richtig. Nur ein bisschen gucken. Dabei und doch nicht dabei. Erster Mai light. Beim Riesling an die alten Zeiten denken. Gott, war ich jung.

Mein persönliches Erster-Mai-Highlight war ja, als ich mal auf dem Oranienplatz im Dunkeln eher zufällig den völlig unbewachten, zentralen Stromverteiler fand, einfach nur einen Stecker aus der Kabeltrommel zog, und – bumm – gingen dem Kriegsberichterstatter Ulli Zelle, der gerade live für „Abendschau extra“ oder so vom Ort des Geschehens berichtete, aber auch wirklich sämtliche Lichter aus. Kichernd wie die kleinen Strolche machten wir uns vom Acker.

Da der Sender Freies Berlin damals nichts als der propagandistische Arm der – heute würde man das so nennen: stramm rechtspopulistischen – Westberliner CDU war, ging die Aktion locker als subversive Heldentat gegen den Faschismus durch. Bei unseren traditionellen Maiveteranentreffen gibt es seit dreißig Jahren stets ein großes Hallo, wenn ich mit der Abendschau-Story komme. Und zwar jedes Mal, weil zum einen unser Erinnerungsvermögen nicht mehr das beste ist, und zum anderen, weil ich den Ablauf immer neu ausschmücke: mal ist es ein werwolfartiger Ulli Zelle, der brüllend hinter mir her rennt, ehe er in eine von meinem Kumpel Dirk vorbereitete Falle mit Silberspießen plumpst, mal geraten wir in eine Verfolgung durch Polizeihubschrauber, bei deren atmosphärischer Schilderung Coppolas „Apocalypse Now“ eine nicht unwesentliche Rolle spielt. Mit gebanntem Vergnügen lauschen die Maikameraden, während sie ihre Pfeifchen mit einer Mischung aus Vanilletabak und Pervitin schmauchen. Am Ende zeige ich allen noch die Stelle am Oberarm, wo ich vor Jahren mal einen bösen blauen Fleck von einem Schlagstock hatte.

Ja so war das. Die Dumplings mit Schweinefleisch und Garnelen sind übrigens besonders gut. Doch leider kommt beim Essen auf einmal eine Gruppe schlecht frisierter Halbwüchsiger und bleibt direkt neben unserem Tisch stehen. Das stört halt. Der etwa 40jährige Rädelsführer hat eine unfassbar lärmende, kleiderschrankgroße Box auf dem Rücken. Von Bluetooth-Minibox noch nix gehört, der Vogel? Er stellt sie ab und tanzt mit einem so gewollt weirden Blick um den Krachaltar, dass ich lachen muss, während ich ihn dabei filme.

Ich habe ja mittlerweile den Eindruck, Erwachsensein bedeutet heute, dass einem alles komplett wumpe ist, was nicht einen selbst oder die einem Nahestehenden betrifft. Man zeigt kulinarische Reife, schreibt offene Briefe, trägt als aktiver Teilnehmer am Straßenverkehr keine Kopfhörer, frühstückt Sechsminuteneier, geht brav aufs Klo, anstatt sich mal eben zwischen zwei parkenden Autos zu erleichtern, und geht früh zu Bett.

So, genug gesehen und die Atmosphäre geschnuppert. Zahlen bitte! Wird mir auch langsam eh zu laut hier. Durch brodelnde, vollgepackte Straßen flanieren wir heimwärts. Das ist durchaus auch mal ganz schön, ist man ja gar nicht mehr gewohnt. Allerdings reicht es dann auch wieder für die nächsten sechs, sieben Jahre, würde ich sagen.

Vor unserer Haustür verplempern junge Leute schnatternd ihre Getränke. Keine Ahnung, warum die so aufgeregt sind. 364 Tage im Jahr den Stock im Arsch, doch heute muss unbedingt was gehen. Wir schubsen sie beiseite. Das Sofa ruft. Erst die Tagesschau, und danach netflixen. Sollen sich die Kiddies doch die ganze Nacht lang besoffen in den Scherben wälzen. Aber, Kinder, ab zehn bitte nur noch Zimmerlautstärke. Sonst müssen wir leider sofort die Polizei rufen, und die haut euch. Dann wisst ihr endlich auch mal, wie das ist.

Vom Saulus zum Xaulus

„Ein zentraler Punkt meines Charakters ist die Suche nach Wahrheit.“

Ein überraschendes Youtube-Filmchen des Schwurbelbarden Xavier Naidoo macht jüngst die Runde. Von seiner Frau aus der Ukraine mit dem Herrschaftswissen um einen schrecklichen Krieg versehen, der dort toben soll, will er auf einmal erkannt haben, „auf welchen Irrwegen ich mich teilweise befunden habe.“

Er sehe nun einen Grund, sich kritisch zu hinterfragen: „Ich war von Verschwörungserzählungen geblendet.“ Die Themen Covid-19 und jüdische Weltverschwörung spricht er nicht direkt an. Der Phantomschmerz des Irrglaubensverlusts tut sicher weh und, wer weiß, ob man am Ende nicht doch noch etwas von dem Mumpitz gebrauchen kann? Aber eines möchte er auf seinem braunen Ledersofa klarstellen: „Ein zentraler Punkt meines Charakters ist die Suche nach Wahrheit.“

Das ist gut. Denn wo bisher einseitige Informationsbeschaffung zu Fehlurteilen führte, verspricht Naidoo, den Dingen in Zukunft besser auf den Grund zu gehen. Dazu gehört gewiss auch eine ausgewogenere Recherche der Details: Wie sehen die Keller aus, in denen man die Adrenochrom-Kinder gefangen hält, von wie vielen Reptiloiden, Schwarzelfen oder „Halbwesen“ (nach Sibylle Lewitscharoff) werden sie bewacht und wie sind die Apparaturen konstruiert, mit denen die jüdischen Bankiers aus dem Kinderblut das wertvolle Adrenochrom extrahieren, um sich selbst damit zur Unsterblichkeit zu spritzen? Eine Unsterblichkeit auf Pump jedoch, denn die Wirksamkeit verlangt nach permanenter Auffrischung, wie man es ja auch von der Mogelpackung Corona-Impfung kennt. Und so hängen diese Junkies des Bösen für immer an der Nadel und gieren nach dem ständigen Nachschub unschuldiger Kinder.

Das sind doch völlig neue Einsichten, die noch dazu Hoffnungen wecken: Wenn ein Xavier Naidoo hier wider alle Erwartung in sich geht, wird man einen ähnlichen Sinneswandel bald auch bei Ken Jebsen oder Donald Trump erleben dürfen? Wird nach dem Vorbild seiner Freunde sich daraufhin gar ein Wladimir Putin neue Informationsquellen erschließen, Irrtümer einsehen, schiefe Geschichtsbilder geraderücken und das Morden einstellen? Dann hätte Naidoos Leiden am Ende doch noch einen Sinn gehabt.

Wir sehen Putin allein an seinem langen Tisch wie er einen Beitrag auf dem Laptop einspricht – er ist schon bei den letzten Sätzen angekommen: „Ich stehe für Toleranz, Vielfalt und ein friedliches Miteinander. Mit manchen meiner Äußerungen und Verhaltensweisen habe ich Menschen vor den Kopf gestoßen und verletzt, was ich sehr bedauere. Hiermit entschuldige ich mich und bitte euch um Verzeihung.“

Mit einem zerknirschten Lächeln schließt er Youtube, und öffnet die Seite www.bahn.ru, um ein Zugticket nach Den Haag (Minsk umsteigen) zu lösen, denn innerhalb Europas zu fliegen, muss nun wirklich nicht sein, dem Klima zuliebe. Hoffen wir für ihn und uns, dass die Bezahlung über das PayPal-Konto seiner Tochter funktioniert.