In Teufels Küche

Käse oder Leber?

Beim Friseur komme ich mal wieder nicht um das dort so typische Gespräch zwischen Frisierendem und Frisiertem herum. Ich blocke das zwar gerne so leicht aspergermäßig bis aufs Nötigste ab, aber theoretisch ist mir schon klar, dass Smalltalk dieser Art eine Errungenschaft der Zivilisation ist, und weitaus eleganter die Steinaxt ersetzt, die man einander früher bei jeder Begegnung ansatzlos über die Rübe zog. Besonders wichtig ist ein solches Appeasement bei Berufen, die aus gutem Grund den verstärkten Einsatz vertrauensbildender Maßnahmen erfordern. Das gilt auch für Friseure, die ja immerhin mit scharfem Gerät Arbeiten in Körpernähe ausführen. Hier kann ein freundlich belangloses Gespräch wahre Wunder der Friedensarbeit bewirken.

Ob ich jetzt im Sommer wegführe, möchte der Friseur wissen. Das ist zurzeit wohl das Standardthema der Saison. Jein, nicht so richtig, sage ich, bloß zehn Tage nach Bayern: Freunde, Verwandte, Eltern. Er fragt dann, ob wir uns vor Ort etwas ansehen, oder eher was essen würden; Hayato ist Japaner, und wirkt immer sehr an den Eigenheiten unseres skurrilen kleinen Landes interessiert, ob es die in seinen Augen sicher bizarre Unhöflichkeit ist, die Alltagstechnologie auf dem Stand wie im Japan des achtzehnten Jahrhunderts, oder eben die regionalen „Spezialitäten“.

Nee, meine ich, ich gucke mir nichts an, ich bin ja da aufgewachsen und habe alles schon gesehen, einmal reicht. Doch jedes Mal wenn ich dort sei, äße ich als erstes eine Leberkässemmel. Und nun wird es kompliziert. Kein Leberkäse in Japan. Aus Leber?, fragt er, Käse? Käse oder Leber? Nein, sage ich, der Name täuscht, weder Käse noch Leber. Ein falscher Freund. Genaugenommen gar kein Freund, sondern ein Feind der Blutwerte und des guten Geschmacks, und aus keinem bestimmten Fleisch, eher aus allem Möglichen, Fleischabfälle halt, wie in Wurst.

Mir fällt auf, dass ich gerade nicht die allerbeste Werbung für die Queen Mum of Junk Food mache. Und, was für ein Dinosaurier ich eigentlich bin, da ich in einer Zeit, da viele versuchen, gar kein, weniger oder zumindest besseres Fleisch zu essen, mir dieses offensichtlich hochgradig suchterzeugende Nitrat-Würze-Fettgemisch reinsauge wie so ein sperrendes Aasgeierküken.

Ich wisse auf einmal gar nicht mehr genau, warum ich das überhaupt äße, und wie ich das beschreiben solle, sage ich bedrückt. Jedenfalls werde die breiige Masse aus organischem Sondermüll, bis zum Anschlag mit Salzen, Gewürzen und Suchtstoffen versetzt, in einer Art Kastenform gebacken. Hinterher ist sie außen dunkelbraun und kross, und innen weich und rosa. Das ist wie so’n Laib Brot, und da schneidet man dann auch so Scheiben ab. Unverschämt gut, sage ich, also für den, der’s mag, also für den, dem alles egal ist. Ich steh ja total drauf. Leberkäse.

Das ist dann eher so ne Art Pastete?, rätselt der Friseur.

Ja, in der Form ähnlich, aber superprimitiv. Wie eine sehr schlechte Pastete für Leute, die froh sind, wenn sie wenigstens so eine „Pastete“ essen können, anstatt gar keine. Man könnte Leberkäse auch aus Kobe-Rind zubereiten, versuche ich nunmehr in ihm womöglich vertrautere Parameter umzuswitchen, doch das verstieße gegen das Deutsche Unreinheitsgebot für Fleisch, dem wir so sagenhafte Schweinereien verdanken wie Leberwurst, Sülze, Würzfleisch und nicht zuletzt Döner. Der ist übrigens der beste Beweis dafür, wie man allein durch ein wenig Germanisierung sogar eine exzellente Küche wie die türkische easy in den Dreck aus Knoblauchkräuterscharfsalatkomplett ziehen kann.

Und damit bin ich schon beim zweiten Hinderungsgrund; kulturelle Aneignung. Ich finde zwar, dass vor allem bei Musik und Essen ein allzu dogmatischer Ansatz da oft nicht hinhaut, aber das behalte ich lieber für mich, kicher. Schließlich bin ich viel zu privilegiert, um eine Meinung zu äußern, die auch noch meine ist.

„Ich glaube, ich würde es nicht machen“, sage ich am Ende zu Hayato. „Das passt auch nicht. Wurstsalat vielleicht, aber kein Leberkäse. Dafür hat man das Rind nicht sein Leben lang mit Augustiner Edelstoff getränkt und anschließend in der Hängematte zu Tode gestreichelt.“

Aggressive Larmoyanz

Es ist genau diese Servicementalität, die eine permanente Unwucht in unser Gesellschaftsgefüge hineinträgt.

„Komm doch her, doh!“

Vor meinem Haus ertönt Geschrei, und ich gehe auf den Balkon, um mir das Straßentheater reinzuziehen: Unten blockiert ein schräg stehendes Auto die gesamte Fahrbahn, so dass sich die entgegenkommenden Radfahrer mühsam vorbei schlängeln müssen. „Komm doch her!“, schreit der Fahrer des Autos einem von ihnen hinterher, dem das bereits gelungen ist, und den er vermutlich daher gern verhauen würde.

Bestimmt hat der Radmensch auch was Freches gesagt, weil ihm das Auto auf der falschen Straßenseite entgegenkam. Das alleine wäre schon verkehrswidrig, und dazu ist das hier eine offizielle Fahrradstraße, aber das schnallen die Leute im Leben nicht mehr – schließlich existiert die Regel erst seit 1997. So schnell kannst du als Autofahrer gar nicht reagieren.

Trotzdem ist dem Radler wohl eine unentspannte Flatulenz rausgerutscht, wie, „Könnten Sie mich eventuell bitte nicht töten?“ Das ist so unfair, denn Autofahrer haben es im Verkehr ohnehin schwer genug. Der Radfahrer hätte seine passiv aggressive Larmoyanz ruhig mal stecken lassen können. Das muss wirklich nicht sein; man kann auch einfach mal schweigen. Denn es ist nun mal viel schwieriger, vier Räder zu koordinieren als nur zwei. Ein irrer Stress. Deshalb sind Kraftfahrer oft wütend, verwirrt und traurig.

Und eben deshalb brüllt dieser jetzt in seinem gerechten Zorn: „Komm doch her! Komm doch her, doh!“ Fünfmal schreit er, aber der Radfahrer hält noch nicht mal an. Er hat es sichtlich eilig und ist spätestens bei der dritten Aufforderung sowieso schon zu weit weg, um sie zu hören, geschweige denn ihr nachzukommen. Zunehmend verzagter klingt der verhinderte Schläger, er sieht seine Felle offenbar davonschwimmen. Man hört, dass er nicht mehr so recht an die Erfüllung seines Wunsches glaubt, vielleicht auch nie ernsthaft dran geglaubt hat.

Allerdings unterläuft ihm hier ein entscheidender Denkfehler, wie ihn überhaupt erstaunlich viele Menschen begehen, die jemanden verkloppen wollen. Ihm liegt ein frappanter Bruch in der Logik zugrunde, der mir schon so oft aufgefallen ist: Wenn einer einen verprügeln will, warum schreit er dann fünfmal, „komm doch her, doh“, anstatt einmal hinzugehen? Das wäre doch viel leichter. Er könnte sich das für die Anwohner lästige Geschrei sparen, und zugleich sein Vorhaben unbürokratisch umsetzen: hin, zack, und auf die Schnauze, ganz easy.

Außerdem wäre das nur angemessen, weil er ja den Radfahrer verprügeln will, und nicht der ihn. Warum sollte der sich folglich die Mühe machen, sich dem Aggressor wie ein Lachshäppchen auf dem Silbertablett zu präsentieren? Zum einen gibt es für ihn keinerlei moralische Verpflichtung, sich als Prügelknabe zur Verfügung zu stellen, und zum anderen: Was hätte er denn davon? Vermutlich gar nichts, es wäre im Gegenteil sogar denkbar, dass die – nennen wir das Kind getrost beim Namen – Gewalttat bei ihm im Nachhall ungute Gefühle hinterließe. Da möchte man sich natürlich nicht auch noch um die erforderliche Logistik kümmern.

Aus Sicht eines Autofahrers etwas anderes zu erwarten, wäre nicht nur bequem, sondern geradezu anmaßend. Es ist genau diese Servicementalität, die eine permanente Unwucht in unser Gesellschaftsgefüge hineinträgt. Wer sich am Arsch lecken lassen will, zieht sich doch auch ohne lange Diskussionen eigenständig die Hose herunter. Das ist schlicht Standard.

Nein, unser schlagwütiger Freund sollte schon selbst für sein Ansinnen einstehen, und alles zu dessen Verwirklichung Notwendige im Eigenengagement in die Wege leiten. Das ist nur recht und billig.

Weder Fisch noch Fleisch

Außerdem habe ich Bock auf Hühnchen, obwohl ich auch kurz über Rind nachgedacht habe.

Meine Nichte ist in der Stadt. Wir verabreden uns zu dritt, damit ich auch mal ihren Freund kennenlerne. Den Link fürs vietnamesische Lokal habe ich per WhatsApp geschickt. Seht her, soll das heißen, ich kann das schon. Ich bin The Digital Uncle, ein rüstiger Best Ager auf der Höhe der Zeit, ein flexibles Bindeglied zwischen Vorzeit und Moderne.

Sie leben beide vegan und arbeiten für verschiedene Geflüchtetenprojekte. Für mich ist das super interessant, weil ich sonst naturgemäß nur alte Asis kenne. In die ungewohnte Situation muss ich mich allerdings erst reinfuchsen, natürlich mit Augenmaß. Also ordere ich ein Gericht mit Huhn, denn man kann es auch übertreiben; eine Bestellung mit Tofu oder Seitan wäre zu unrealistisch. Sie würden mich durchschauen, und für meinen verlogenen Opportunismus verachten, und zwar völlig zu recht. Das würde ich an ihrer Stelle ebenfalls tun. Außerdem habe ich Bock auf Hühnchen, obwohl ich auch kurz über Rind nachgedacht habe.

Aber selbstverständlich will ich bei ihnen einen guten Eindruck machen. Das fällt mir bestimmt nicht schwer. Ich tue ja immer sehr viel Gutes, ich kann das nur nicht so ausdrücken. Und so rede ich, wie mir der graue Schnabel gewachsen ist, über „Flüchtlingsströme“, doch gleich darauf erinnere ich mich vage, dass man das zurzeit wohl eher nicht so sagt. Und sogar die Gründe bekomme ich noch halbwegs zusammen. Die oft verniedlichende Nachsilbe „-ling“ mache die Betroffenen klein und zu Opfern: So ist der Schmetterling ein Tier, das sich nicht selber helfen kann. Und „Ströme“ gilt, ähnlich wie der Begriff „Krise“, glaube ich – bitte kreuzigt oder verbessert mich anderweitig, falls ich das falsch wiedergebe –, deshalb als inkorrekt, weil es die flüchtenden Menschen verdinglicht, und von den Ursachen ablenkt, indem es eine Unvermeidlichkeit wie bei einer Plage oder Naturkatastrophe vortäuscht. Was dann wiederum negative Reaktionen in den Zielländern legitimiert.

Einiges daran kann ich theoretisch nachvollziehen, auch wenn ich zuweilen denke, man könnte ja statt der aufwändigen Wortakrobatik auch Geld spenden oder anderweitig helfen. Aber gut, ich hab sowieso keine Ahnung, wahrscheinlich wäre das auch wieder nur so ein billiger Ablasshandel derer, die sich nicht um sprachliche Sensibilität bemühen möchten. Und die Sprache bestimmt nun mal das Denken, das Denken das Handeln, das Handeln das Sein, und das Sein einen Job an der Uni. Früher mussten die Kinder sprechen lernen, heute sind es die Alten.

Unbedacht frage ich jetzt den jungen Mann, ob seine weiße Puscheljacke aus Schafsfell sei, weil ich offenbar immer noch genauso wenig schnalle, was „vegan“ überhaupt bedeutet, wie so ein fränkischer Landgastwirt, der seine Kartoffelsuppe als vegan anpreist, weil da „kein Fleisch“ drin ist, sondern nur Speck und allenfalls ein paar Wurststücke. Nicht Bildung oder Herkunft scheint der Hauptfaktor für diese Form von Ignoranz zu sein, sondern das Alter.

Ich bin quasi der notorische Nazi-Onkel, wie er in Feuilleton-Artikeln über klassische Familienfestkonstellationen gern als Pappkamerad dient, an dem sich die Jugend in Ambiguitätstoleranz oder konstruktiver Streitkultur üben kann – die Feier soll ja auch nicht eskalieren, schließlich ist die Oma schon so krank.

Doch keiner schreit mich an, schlägt mich oder verbessert mich auch nur. An meiner gerührten Dankbarkeit merke ich, wie groß meine Paranoia längst sein muss. Im Internet wird man ja für ungeschicktes Wording immer voll zur Sau gemacht. Aber zum Glück ist das hier nicht das Internet, sondern Real Life, auch wenn das sicher bald dasselbe sein wird.

Die Strafe

Tumbe Claqueure, die besoffen lachend jede Menschenfeindlichkeit durchwinken.

Es ist mal wieder einer dieser Tage. Ein junger Typ möchte im Anschluss an unseren Lesebühnenabend mit mir „über den Rassismus in deinem Text“ sprechen. Ich hatte meinen polnischen Urologen in der wörtlichen Rede das „R“ rollen lassen, mit dem für die Selbstleser nachgeschobenen Satz „Er rollt das R sehr schön dabei.“ Sonst keine falsche Grammatik, kein dilettantisch gefakter Akzent, nichts weiter. Ganz davon abgesehen, ist besagte Figur der klare Held in der Geschichte.

Aber egal. „Du, kann ich mal kurz mit dir reden?“, beginnt er draußen vor der Tür des Veranstaltungsorts mit dem bedauernden Unterton eines Kinderarztes, der seinem kleinen Patienten leider gleich ein bisschen weh tun muss. Nur zu seinem Besten, es hilft ja nichts.

Sofort ergebe ich mich in mein Schicksal. Ich weiß, dass ich keine Chance habe, ich kenne das schon. Rechtfertigung zwecklos, auch der Pflichtverteidiger plädiert auf die Höchststrafe. Gern würde ich mich locker herauswitzeln, „… aber die Autobahnen …“, doch mit Mehrdeutigkeit brauche ich dem nicht zu kommen, und mit Humor erst recht nicht. Wir könnten genauso gut von zwei verschiedenen Planeten stammen.

Als ich dennoch versuche, mich schäbig meiner Verantwortung zu entziehen, erstickt er routiniert meine White Tears: „Wenn da jetzt Nazis sitzen würden, könnten die das falsch verstehen.“ Wenn hier auch schon überall Nazis sitzen würden, hätten wir eh längst verloren. Das denke ich, sage aber stattdessen, „wir haben ein gutes Publikum, ich trau denen schon zu, irgendetwas abstrahieren zu können.“

Doch er weiß natürlich, dass das einzig gute Publikum im Raum er und seine Peers sind – die Anderen da drinnen sind eh alle doof, tumbe Claqueure, die besoffen lachend jede Menschenfeindlichkeit durchwinken wie Nero im Colosseum; solche Mitläufer sind im Grunde sogar die schlimmsten.

„Hm, ja“, sagt er, „trotzdem“, und „eigentlich meint das ja vor allem meine Freundin.“ Er zeigt nun auf die junge Frau hinter sich: „Die wollte dir das nämlich sagen.“

Sie sagt aber immer noch nichts, sondern mustert mich nur traurig, ernst und böse, als würde sie gerade ihren Nazi-Opa beerdigen, dabei kocht sie innerlich, doch auch im Einfamilienreihenhaus der Antifa herrscht offenbar noch Ordnung: Die Frau kocht und der Mann führt das Wort. Aber ich verstehe sie auch, es ist eine Sicherheitsmaßnahme, denn garantiert würde ich sie meinem Alter gemäß sonst auf der Stelle sexuell belästigen, ich muss das tun, es liegt praktisch in meiner verfaulten Natur, und das möchte man ja nun auch wieder nicht riskieren, dann sagt halt besser der Paul was, der ist ja auch ein Mann, wenngleich ein guter, falls so was überhaupt geht.

Allerdings ist er selbst kein Pole, denn sonst hätte er ja automatisch recht – ich kann keinem Betroffenen vorschreiben, wovon er sich getriggert fühlen darf und wovon nicht. Mit Betroffenen haben wir es so gut wie nie zu tun. Auch sind es komischerweise meistens Typen, die mich zurechtweisen. Junge weiße Männer können immer alles ganz genau erklären. Man sieht in ihnen schon deutlich die unangenehmsten Eigenschaften alter weißer Männer angelegt, zu denen sie eines Tages sowieso unweigerlich werden. Darauf freue ich mich schon – willkommen im Club!

Er hat jedenfalls getan, was er konnte. Zwar wartet er vergeblich auf ein starkes Zeichen meiner Einsicht wie zum Beispiel einen Brandt‘schen Kniefall oder eine zünftige Selbstverbrennung, doch bestimmt werde ich in Zukunft besser nachdenken, ehe ich die nächsten Faschosprüche raushaue. Dessen ist er sich sicher, so wie er sich in allem äußerst sicher ist.

Und so gehen die beiden wieder rüber, auf die Bank zu ihren Freunden und kiffen, und ich sehe wie stolz und zufrieden er ist; er hat Zivilcourage gezeigt, sein Abend ist vergoldet. Kein Fußbreit den Faschisten! Doch auch ich bin glücklich, denn das habe ich alles allein mit meiner Kunst erreicht, mehr kann ich mir als Autor nicht erhoffen. Nun blicken sie rüber zu mir und lachen – wie fröhlich sie sind, ach, ich liebe diese engagierten jungen Menschen! –, und ich geh wieder rein und hol mir noch ein Bier an der Bar.

Solche Diskussionen haben immer dazugehört, und sollen es gern auch weiterhin. Die Geschmäcker sind verschieden, und vielleicht bin ich ja wirklich ein Arsch – eine grundsätzliche Gefahr für unsere Show hatte ich in derlei Rezeptionsdynamik jedoch nie gesehen.

Doch mit der Zeit rückten die Einschläge näher, bis sie am Ende sogar das halbe Schiff versenkten. Eine Gruppe im Publikum störte sich eines Tages an ein oder zwei unserer Texte, die sich über gendergerechte Sprache mokierten. Doch statt, wie es üblich war und angemessen wäre, ein paar unfreundliche Worte an uns zu richten, uns den Finger zu zeigen, und danach nie wieder zu kommen, setzte sie alle Hebel in Bewegung, um uns, die Autoren, vom Veranstalter maßregeln zu lassen.

Das Urteil wurde gesprochen: Zur Strafe dürfen wir anstatt wöchentlich nur noch zweimal im Monat unsere patriarchal-rassistischen Nationalsottisen zum Vortrag bringen. Das nenne ich dann mal: mit Kanonen auf alte graue Spatzen schießen. Zwar stimme auch ich mit manchen Kollegen absolut nicht überein, aber letztlich haben wir auf der Bühne nicht den Holocaust geleugnet, sondern ein Boomer hat übers Gendern genölt, so what. Das ist doch fast schon seine naturgegebene Bestimmung; andernfalls hielte man ihn wohl für einen V-Mann.

Wahrscheinlich feierten sich die Beschwerdeführenden ab, als hätten sie sich mit „Nuhr im Ersten“ in die Luft gesprengt, und so die Welt zu einer des fein geleckten Wortes gemacht. Die Heldentat betraf aber leider nur ein paar Kleinkünstler, die vor zwanzig Leuten ihr Bühnenhobby pflegen, um hinterher mit zehn Euro in der Tasche nach Hause zu gehen. Und bereits auf diesem Level Meinungen das Podium zu verbieten, soll es ernsthaft bringen? Es kann nämlich durchaus sinnvoll sein, fragwürdige Protagonisten einzuhegen, um ihr Wirken in harmlosere Bahnen zu lenken. Ich sag nur „Hitler und die Wiener Kunstakademie“ – mehr sag ich gar nicht. Aber gut, Leute, macht doch einfach, was ihr wollt. Das wird ohnehin eure Welt, ihr müsst damit leben.

Nachtrag zu Ostern


Die ungläubig-angewiderten Blicke, die einen treffen, wenn man erklärt, dass einem der Besuch der Heiligen Messe wichtiger ist.

Endlich. Für dieses Jahr haben wir das Osterfest mal wieder überstanden. Doch wegen des Tanzverbots am Karfreitag kann ich mich noch immer nicht beruhigen. Denn ich tanze normalerweise jeden Tag – morgens, mittags, abends, nachts. Ein Tag ohne Tanz ist wie ein Hund ohne Schwanz. Wenn ich nicht tanzen kann, bin ich entsetzlich unausgeglichen. Dann kann es passieren, dass mir verstärkt zwischenmenschliche Fehler unterlaufen wie Ungeduld, Ungerechtigkeit oder spontanes Einkoten. Wer mich kennt, weiß: Der Tanz ist mein Lebenselixier.

Doch eine Minderheit gläubiger Christen hält die Mehrheit in spaßfreier Geiselhaft, und beeinflusst seit Jahr und Tag auf anachronistischste Weise die irdische Gesetzgebung, als hätten fundamentale Bundesayatollahs die Christliche Republik Deutschland ausgerufen.

Dabei ist Deutschland eigentlich ein säkulares Land. „Es gibt keine Staatskirche“, steht in Artikel 140 des Grundgesetzes. Aber scheiß auf die Verfassung, so lange Gläubige davon beleidigt werden könnten, dass in irgendeinem Tanzlokal noch Licht brennt.

Mein schwelender Zorn über diesen Rechtsbruch ist sicher auch der Grund, warum Tobias Haberl, bei der SZoffenbar zuständig für kulturkonservative Ansätze, für mich ein rotes Tuch ist. Ein Eigenleben innerhalb des Hauses ist ja typisch Feuilleton. Und wo sich die reaktionäre NZZ exotische Abweichler leistet, deren Wirken im Gegensatz zur sonstigen Blattlinie nicht vor Niedertracht strotzt, bietet analog die linksliberale SZ einen Flügelstürmer auf, der hier unermüdlich die rechte Seitenlinie beackert.

So einer ist Haberl. Der Autor der Maskulinistenfibel „Der gekränkte Mann“, bei deren Lektüre der Rezensent der FAZ das Bedürfnis verspürte, es „gegen die Wand zu hauen“, serviert uns pünktlich zum Gründonnerstag im SZ-Magazin die Frömmigkeitsgeschichte „Unter Heiden“, die sich großenteils damit befasst, wie ernsthaft und spirituell er selbst drauf ist, und wie behämmert, oberflächlich und verderbt im Vergleich alle anderen sind, die nicht an zweitausend Jahre alte Gespensterwesen glauben.

Mit ähnlich lautenden Worten muss ihn wohl mal irgendjemand provoziert haben. Nun zieht er gegen den altbösen Feind ordentlich vom Leder: „Ich meine die ungläubig-angewiderten Blicke, die einen treffen, wenn man erklärt, dass man am Sonntagvormittag leider nicht in dieses neue Café zum Frühstücken kommen kann, weil einem der Besuch der Heiligen Messe wichtiger ist.“

Die haben bestimmt einfach nur ganz normal geguckt. Aber wo die Unsicherheit gedeiht, treibt der Interpretationsdrang bunte Blüten: Der gekränkte Mann, der gekränkte Christ, die gekränkte Leberwurst – beim Lesen dudelt in meinem Kopf in Endlosschleife „By the Rivers of Mimimi“, frei nach Boney M. Meine Güte, ich wurde doch selber provoziert: Ich durfte nicht tanzen. Und trotzdem bleibe ich superfair und bewahre hier die absolute Ruhe.

Dasselbe denkt er vermutlich auch von sich: Ich werfe 50 Cent in den Opferstock, zünde eine Kerze an, bete, denke nach, betrachte eine Heiligenstatue, um dann wundersam erfrischt nach draußen zu treten, in den Verkehr und den Stress – was man halt so Freiheit nennt.“

Ja, klar, geilo Abgase und Krach, so kennt man ihn, den crazy Atheisten und seinen Freiheitsbegriff aus der Hölle; da geht ihm natürlich einer ab, wie einem Fünfzehnjährigen bei der Bühnenshow von Rammstein. Wie vollumfänglich manche Gläubige eine realistische Vorstellung vom Mindset Nichtgläubiger eingebüßt haben, hätte ich nicht für möglich gehalten.

Bereits früh im Text rutscht Haberl auf der vergammelten „Früher-war-alles-besser“-Bananenschale aus, gerät schwer ins Schlingern, und kommt danach nie mehr so recht ins Gleichgewicht: Erst dann fällt mir wieder ein, dass es für viele Menschen heute wenig Schlimmeres gibt als Stille, die Abwesenheit von Whatsapp- und Push-Nachrichten, weil dann Fragen auftauchen, deren Antwort sie nicht googeln können.“

Das will ich überprüfen. Also google ich „Ist Tobias Haberl blöd?“ und stoße schon an zweiter Stelle auf Florentin Schuhmachers erwähnte Besprechung von „Der gekränkte Mann“. Nach wenigen Zeilen verstehe ich immerhin, warum Haberl nicht möchte, dass die Leute googeln. Geht doch: kurze Frage, schnelle Antwort. Wie eine Push-Nachricht des Herrn.

Und weiter unkt, barmt, mahnt und heult es seitenlang in der immergleichen Melodie: Technologie, Satan, Instagram, Finstagram, buhu, schluchz …: „Viele Menschen strömen nicht mehr in die Kirchen, sondern in Apple-Stores, sie wollen keine frohe Botschaft, sie wollen das neue Smartphone.“

Die angebliche Unversöhnlichkeit von moderner Technik auf der einen, und tiefem, gottgegebenen Verständnis für das Leben auf der anderen Seite, ist das ständig wiederkehrende Hauptmotiv, ein ununterbrochenes, nervtötendes Hintergrundrauschen wie von einer sehr alten Autobahn. Computer sind doof. Wer Social Media nutzt, lügt. Früher war mehr Lametta.

Außerdem ist, wenig überraschend, Gott anscheinend rechts, und der Teufel links: „Da versucht man, ein guter Mensch zu sein – und, schwups, ist man ein fragwürdiger Rechtsausleger, und alles nur, weil man Barmherzigkeit und Nächsten­liebe schlüssiger findet als zur Schau gestellte Moral, weil man sich nicht permanent vor der Twitter-Gemeinde, sondern am jüngsten Tag vor seinem Schöpfer rechtfertigen will, der nicht nur die Timeline, sondern auch das Verborgene sieht.“

Ach ja, Twitter ist ebenfalls scheiße, wie sonst nur Onanie und freitäglicher Fleischverzehr. Die moralische Selbstüberhöhung des schreibenden Märtyrers geht einem extrem auf den Zeiger. Er ist ein Ausbund an menschlicher Reife und Achtsamkeit; hingegen sind die Ungläubigen dekadente, aufmerksamkeitstechnisch scheintote Clowns, in deren Kopf in einem fort nur bunter Wackelpudding blubbert. Oder noch kürzer: Ich: toll. Die anderen: doof. Das hätte als Analyse komplett gereicht, zugegeben, aber ich bin, sorry, jetzt doch ein bisschen ins Labern gekommen.

Zum Glück bin ich ja nicht der einzige, der sich hier andauernd wiederholt:„… weil ich weiß, wie leichtgläubig sie sonst sind, wenn man ihnen weismacht, dass ihr Glück in digitalen Tools liegt … blabla, rausch, brumm …dass unsere Fixierung auf Rationalität und Technologie eine schmerzliche Lücke aufweist, weil Google jede Frage beantworten kann – nur nicht, wozu wir leben und was uns Halt gibt.“

Gähn, schnarch, und schon wieder Google. Mit denen hat er es ja wirklich, als hätten sie den Heiland mit Google Cross gekreuzigt. Nun, Herr Haberl, versuchen Sie es doch mal mit einer anderen Suchmaschine. Vielleicht kommt dann das gewünschte Ergebnis, dass nämlich – lasst mich raten – der Herr Jesus für unsere Sünden gestorben ist. Seitdem kehrt er jedes Jahr in Hasengestalt zu uns zurück, und versteckt mit Likör gefüllte Eier im Garten. Was für ein Heidenspaß. Warum uns die Jünger des spendablen Nagers das Tanzen verbieten, ist mir allerdings nach wie vor schleierhaft.