Sieben Sachen

An der Supermarktkasse stehe ich an Position zwei. Hinter mir drückt sich verschlagen eine Kundin vorbei und fragt die Frau an Position eins, ob sie sie vorlassen könne, weil sie doch „nur sieben Sachen“ hätte.

Nur sieben Sachen! Da greift man sich schon an den Kopf. Nur! Sieben!! Wieviele Sachen soll man denn noch haben? Mehr als sieben ist doch schon rein mathematisch kaum mehr möglich. Wer Leute mit sieben Sachen vorlässt, hält stets auch die andere Wange hin und dann noch ein weiteres Mal die eine und anschließend noch mal die andere. Links, rechts, links! Klatsch, klatsch, klatsch!

Wenn alle Leute so drauf wären, würden auf der ganzen Welt nur Nazis regieren. Die Tendenz ist ja schon da. Nie im Leben würde ich Leute mit sieben Sachen vorlassen. Auch nicht mit sechs, oder fünf oder vier. Mit einer Sache ganz vielleicht, wenn ich einen sehr guten Tag hätte. Aber auch nur dann. Würde mich eine Person wegen des absurden Ansinnens ansprechen, sie mit sieben (!) Sachen vorbeizulassen, würde ich sie scharf und verächtlich, jedoch nicht ohne Bedauern über ihren geistigen und moralischen Zustand anblicken. Einen kurzen Moment der Stille einkehren lassen, der das Folgende dramatisch unterstreicht. Und nun leise antworten, betont leise, um ihr anzuzeigen, dass man ihr auf diese Weise generös eine öffentliche Blamage erspart, sie dieses letzte Mal noch schont und nicht der allgemeinen Lächerlichkeit preisgibt, wie es weit eher angebracht wäre angesichts ihrer Wahnidee, irgendein Mensch, der auch nur halbwegs seine sieben Tassen im Schrank hätte, könnte sie mit ihren sieben Sachen vorlassen:

Das haben Sie jetzt nicht gesagt, oder?“ Und noch eine Pause. „Ich gebe Ihnen jetzt eine wunderbare Chance, die bei dem Wege zugleich auch Ihre letzte sein wird: Wir beide tun jetzt einfach mal so, als hätten Sie das nicht gesagt. Als könnte man die Zeit gnädig zurückdrehen und Sie stünden weiterhin da, wo Sie hingehören: Ganz am Ende der Schlange, zusammen mit Ihren sieben Sachen, die Sie doch kaum in Ihren von den schwachen Signalen eines Spatzenhirns gesteuerten Pfoten halten können.“

Eventuell nutzte ich auch die Gelegenheit zu einer weiterreichenden Belehrung: Ob sie, die asoziale Alte, sich denn überhaupt schon mal überlegt hätte, ob sie wirklich 7 (!!) Sachen bräuchte. Die Gletscher schmelzen, die Riffe sterben, die Ozeane ersticken im Plastikmüll. Womöglich wären wir alle gut beraten, es grundsätzlich bei sechs Sachen zu belassen, oder fünf oder vier.

Aber ich werde gar nicht gefragt, sondern die Frau ganz vorne. Die dreiste Siebensachentante spürt, dass sie bei mir auf Granit beißen würde. Mein eiserner Unwille steht wie eine unsichtbare Wand in der Luft. Also fragt sie lieber die Kundin vor mir. Allzumal sie auf diese Weise noch schneller ist. Und die sagt auch noch: ja. Als hätte sie nicht nur alle Zeit der Welt, sondern könnte die knappe Zeit der anderen Leidtragenden gleich noch kollateral mitverbrennen. Während die sieben Sachen schier endlos über den Scanner laufen, schimpfe ich unhörbar vor mich hin. In der ausgewogenen Stummtirade reihen sich Inhalte fäkaler, psychodiagnostischer und sexueller Natur an solche, die lobend den gewaltsamen Tod missliebiger Zeitgenossen besingen.

Und ich koche immer noch, als mich unversehens die Kassiererin anspricht: „Sechzehn Euro fünfunddreißig, bitte.“ Sie möchte Geld von mir für die Waren, die ich in dem Laden kaufe, in dem sie angestellt ist.

Das verstehe ich. Da werde ich wohl langsam mal nach meinem Geld suchen müssen. Ein schwieriges Unterfangen. Ich krame in tausend Seitentaschen herum, während ich beschwichtigend die Schlange hinter mir anlächle. Ich hasse das ja selbst: Wenn die Tatsache, dass sie im Kaufladen bezahlen müssen, die Leute mit der Wucht eines Tropensturms überrascht, und sie erst auf Nennung des Endpreises hin mit blöden Gesichtern nach ihrer Geldbörse zu wühlen beginnen. Aber ich kann ja nichts dafür; die mit den sieben Sachen hat mich völlig aus dem Konzept gebracht.

Das jüngste Gericht

Uli Hoeneß, Karl-Heinz Rummenigge, Hasan Salihamidzic – kaum zwei Wochen nach der seit Ikarus peinlichsten Lachnummer der Sportgeschichte, laden die drei Spatzenfunktionäre des FC Bayern München zur erneuten Pressekonferenz: Auf der einen Seite des Podiums der cholerische Wurstfabrikant, auf der anderen der unsympathischste Mensch der Welt seit Dschingis Khan. Derart in diesen lebenden Schraubstock aus welker Körpermasse, Wut und Niedertracht gesandwicht, dass er mehrfach mausgleich aufquietscht, haben sie ihren bemitleidenswerten kleinen Frühstücksdirektor, Schutzschild, Kratzbaum und Watschenmann für die beiden anderen Monster. Als Rummenigge beim vorigen Pressetermin Artikel 1 des Grundgesetzes anführte, „die Würde des Menschen ist unantastbar“, um bitterlich plärrend jede Medienkritik an seinem Scheißverein als Verstoß gegen die Menschenrechte zu brandmarken, wusste eigentlich keiner der anwesenden Pressevertreter, ob er angesichts dieses überetikettierten Superschwachsinns lachen, weinen, kotzen oder menstruieren sollte.

Wer sich über den vorangegangenen Absatz nun zu Recht empört: Das war bloß ein Trick, um das Problem zu illustrieren. Denn solche Sätze überhaupt auch nur zu denken, ist menschenverachtend und erinnert an die dunkelsten Zeiten der deutschen Geschichte: als nämlich der FC Bayern einmal nicht Tabellenführer war. Damals schwor man sich an der Säbener Straße, dass so etwas in Deutschland nie wieder passieren dürfe. Fortan rechtzeitig die Zeichen zu erkennen, hieß das Gebot der Stunde, und den Hetztiraden einer fanatisierten Presse Einhalt zu gebieten, die das Volk mit Fakten aufwiegelte und das gesellschaftliche Klima mit bohrenden Nachfragen derart verrohte, dass die Würde des einzelnen Millionärs in Turnhosen nichts mehr zählte.

Nach dem überzeugenden Erdrutschsieg gegen Rödinghausen sieht Rummenigge nun den Moment gekommen, es den Spöttern heimzuzahlen. Als er sich zur versammelten Presse beugt, wird sein Blick sehr ernst. Die Journalisten ziehen die Köpfe ein, furchtsam und schuldbewusst wie kleine Jungen, die sie im Vergleich zu den ethisch haushoch überlegenen Bayerngranden ja auch sind. „Einige Unverbesserliche unter Ihnen haben offenbar noch nicht mal vor dem Grundgesetz Respekt. Daher möchte ich Sie diesmal an die zehn Gebote erinnern.“

Die Schmierenschreiber schlucken: Die zehn Gebote sind dem FC Bayern traditionell heilig. Denn sie wurden Franz Beckenbauer von Gott persönlich auf dem Berg Sinai übergeben, wobei sie von einer Konfettikanone mit Goldschnipseln beschossen wurden. Nach einer weiteren Überlieferung des Vereinssenders Bayern TV räumte Gott direkt im Anschluss seinen Posten zugunsten von Hoeneß und Co. und arbeitet seitdem als Platzwart in der Allianz-Arena.

Doch welches Gebot wird er nennen, um denjenigen Verräter zu ächten, der einen schmetterlingsartig ins Nichts gaukelnden Torwart gesehen haben will: „Du sollst nicht töten?“ Die atemlose Spannung in dem fensterlosen Presseraum ist schier zu greifen.

Du sollst nicht belehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was dein Nächster hat.“ Mit starker Stimme lüftet der Vorstandschef das Geheimnis. Er fährt also die bewährte Neidschiene. „Und wir, der FC Bayern, verbitten uns in Zukunft jegliche Form der Belehrung.“ Neben ihm ergänzt Uli Hoeneß: „Keinen Scheißdreck sollst du belehren.“ Zischend tritt Dampf aus den Ohren des Bayernpräsidenten. Sportdirektor Salihamidzic piepst. Von hinten wird ihm ein Stück Emmentaler Käse gereicht.

Wir können auch anders.“ Rummenigge wendet sich einem Redakteur des Bayerischen Rundfunks zu. „Denn was folgt auf den Verstoß gegen die Gebote?“ Der Angesprochene stottert. Er weiß offensichtlich nichts. Außerdem haben ihm die bösen Buben von der „Bild“ schon wieder die Tasche ausgeleert. Jetzt liegen Buntstifte, Gurkenschnitze und der Rechenschieber auf dem Boden. Hinten in der Ecke schnipst aufgeregt ein rotwangiger Zeitungsmann mit den Fingern. „Der Nikolaus?“

Rummenigge seufzt: Die von der „Süddeutschen“ haben mal wieder rein gar nichts begriffen. „Nein, das jüngste Gericht natürlich!“ Er richtet sich auf und donnert los: „Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist!“ Auch dem letzten wird nun klar: Der Club weiß sich zu wehren. Und sei es mit dem Evangelium von Lothar Matthäus.

Um die Position des Vereins auch wirklich deutlich zu machen, zitiert Rummenigge noch die weiteren neun Gebote, sämtliche Artikel des Grundgesetzes außer Artikel 5 („ein Scheißdreck“), Grimms Märchen („Die guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen“), Konfuzius, Mein Kampf, das Strafgesetzbuch sowie den Leitfaden der Kammerjägerinnung.

Da klingelt es zum Glück zur Pause. „Zum Abschied möchte ich Ihnen noch einen klugen Satz von Pu der Bär mitgeben: ‚Ein Tag ohne einen Freund ist wie ein Topf, ohne einen einzigen Tropfen Honig darin.‘ Schreiben Sie sich das hinter die Ohren, dann werden wir in Zukunft auch wieder mehr Freude an unserer Zusammenarbeit haben.“ Mit solchen am Ende doch fast wieder versöhnlichen Worten ist auch diese Pressekonferenz des FC Bayern München beendet.

Mein Alptraum

An der Supermarktkasse überkommt mich fast der Schock meines Lebens: Ich habe den Leergutbon im Automaten stecken lassen. Da waren locker ein Euro und acht Cent drauf. Von dem Betrag kann jemand wie ich fast eine halbe Stunde lang leben. Die wird mir nun am Ende abgehen. Wenn ich dereinst auf dem Sterbebett zu meiner letzten großen Abrechnung gegen die Abwesenden anhebe, wird der Röchelfluss exakt bei, „Mein ganzes Leben war eine einzige Enttäuschung. Ich habe alle abgrundtief gehasst. Dieser Hass hat mich krank gemacht und nun muss ich sterben. Ich verfl …“ abbrechen.

Doch der Tod des Einen bedeutet in der Natur stets auch das Leben des Anderen. Füchse, Krähen und Aaskäfer laben sich am Leib des im Walde Gestrauchelten. Und auch der Mensch ist des Menschen Geier. Denn in meinem Fall belagern hier um diese Tageszeit viele Flaschensammler den Pfandautomaten. Die freuen sich bestimmt sehr über meinen Bon. Ihre Freude soll auch meine Freude sein.

Der Gedanke beruhigt mich wieder und meine eigene Güte rührt mich an. Eigentlich könnte ich den Zettel sogar immer drinstecken lassen, da findet er in der Regel ganz von selbst den Richtigen: einen Bedürftigen am Rande des Existenzminimums. Wenngleich ich beim Blick in den Spiegel zuweilen denke, wie fließend die Übergänge zwischen oben und unten doch sein können und dass es gar nicht so falsch wäre, wenn ich den Bon auch ab und zu selbst einlöste.

Allerdings weiß man nie sicher, ob die dusselige Wohltat tatsächlich den korrekten Adressaten findet. In meinem Alptraum braust nun nämlich draußen ein rechtsgesinnter Millionär im Jaguar herbei, hält vor Edeka mit quietschenden Reifen und stürmt mit fiesem Lachen in das Foyer, wo die Flaschenrückgabeautomaten stehen. Bettler weichen erschrocken zurück, Mütter stellen sich schützend vor ihre Kinder, während der zuwanderungsskeptische Großschriftsteller sich rücksichtslos vordrängt und mit dem widerhakenartigen Zeigefinger seiner manikürten Hand den grünen Ausgabeknopf drückt.

Raffgierig zieht und zerrt er den Zettel, meinen Zettel, aus dem Schlitz, kaum dass dieser erscheint und oft noch ehe die treue Maschine ihn überhaupt loslassen kann. Vor Ungeduld und Wut brüllt der Pfeffersack auf, obwohl ihm der Gutschein doch nicht zusteht und er außerdem nur eine halbe Sekunde länger warten müsste. Dann ist es geschafft und er rennt zurück zu seinem Auto, nicht ohne zuvor dem kleinen Hubschrauber am Ausgang, in dem die Kinder für einen Euro schaukeln dürfen, einen derart kräftigen Tritt zu verpassen, dass er für Monate außer Betrieb ist.

Viele hundert Kinder, die sich bei jedem gottverdammten Einkauf darauf freuen, werden furchtbar traurig sein. Erst recht, wenn sie sehen, wie das schräg in die Feuerwehreinfahrt geparkte Auto von dem bösen Onkel nicht nur weiter bestens funktioniert, sondern auch noch ohne Münzweinwurf, und dazu schneller vom Fleck kommt als der Hubschrauber, der ja noch nie so richtig abheben konnte. Das Kinderweinen ist ihm schönere Musik als das liebliche Lied des Vogels, der betörende Klang der Schalmei oder die zarten Laute der Lust wie sie im Sommer aus einem geöffneten Fenster im Hof dringen.

Er springt in die Karre, gibt Gas, dass die Reifen qualmen und überfährt in seiner Hast eine kleine getigerte Mietzekatze, auf die nun vergeblich fünf noch kleinere und getigertere Babykätzchen warten. Doch er hat es eilig, denn schließlich muss er bis Feierabend weitere siebzig Supermärkte abklappern. Oder warum glaubt ihr, wird er sonst so reich geworden sein?

Die Landwespe

Die Wespen auf dem Land sind klein, agil und nicht so leicht zu erwischen. Aber sie stehen ohnehin unter Naturschutz. Man darf sie nicht ärgern und verkloppen schon gar nicht. Theoretisch sind sogar die trägen Stadtwespen geschützt, die zuhause in Berlin ohne Hast über mein Brötchen schlurfen als wäre es ihres. Da sitze ich ja schon wieder an der Arbeit. Meine Texte sind wie Rohdimanten, die ich mit unendlicher Akribie so lange schleife, bis aus einem tausendseitigen Steinbruch aus Buchstaben ein fröhlicher, schlanker Zweizeiler wie dieser wird:

Der Herbst bringt Verderben, der Winter bringt Not;

der Frühling bringt Sterben, der Sommer den Tod.

Das kostet äußerste Konzentration. Daher wird jeder verstehen, dass ich den Artenschutz unter diesen Umständen flexibel handhabe. Wie das genau aussieht, bleibt mein Geheimnis. Ich verrate nur so viel: eine zentrale Rolle spielt eine zusammengerollte Zeitung und das dünne Geschrei der Wespen dringt durch die dicken Mauern des Altbaus nicht nach draußen. What happens in Neukölln stays in Neukölln.

Nun möchte man denken, jene eleganten Bio-Erdwespen draußen vor unserer Landhütte wären nicht solche Kulturfolger wie diese fetten Naziwespen aus der Stadt in ihren Borussia-Dortmund-Traditionstrikots, und interessierten sich deshalb auch nicht für unser Gartenfrühstück. Doch die hier greift nun leider auch noch frech nach unserem Schinken.

Vorher hat sie immer nur Tau getrunken und Kräuter gesammelt. Wir haben ihre reine Landwespenseele mit dem eingeschleppten Zivilisationsdreck korrumpiert, der sie krank machen wird und böse wie die Wespen und auch die Menschen in der Stadt. Wir sind verdammte Conquistadoren. Die Landwespe hat uns nicht gerufen, wir sind zu ihr hier rausgezogen.

Dennoch müssen wir den Frühstücksaufschnitt schützen. Außerdem nervt das Vieh. Erst möchte ich der Ökowespe schlicht aufs Maul hauen, doch sie ist zu fix. Also versuche ich, sie mit einer Wursthaut zu dressieren. Setzt sie sich auf die Wurst, wedle ich mit der Hand nach ihr, setzt sie sich auf die Pelle, lasse ich sie in Frieden.

Aber die schnallt gar nichts. Wespen raffen null. Man kann noch nicht mal sagen, dass sie komplett bescheuert sind, denn selbst um bescheuert zu sein, müsste wenigstens irgendeine Grundlage existieren, von der aus Bescheuertheit überhaupt erst möglich wird. Uns Kindern wurde früher stets eingetrichtert: „Schlag nicht nach den Wespen, die werden sonst wild und stechen erst recht.“ Das ist kompletter Quatsch. Wie haben sich die Eltern das vorgestellt? Dass die Wespen einen ausgefeilten Racheplan erarbeiten, oder dass sie schlicht austicken? „Der da hinten im roten Pullover wollte mich doch grad hauen, oder? Da werd ich aber mal so richtig meine Fäustchen schwingen und wenn das nichts hilft, vielleicht auch meinen Stachel aus dem Keller holen.“

Alles klar. Daran sieht man wieder, dass die Alten mit Brehms Tierleben großgeworden sind: dem tapferen Löwen, dem listigen Fuchs, und dem albernen Affen. Dazu mit einer Wespe, die sich in Sütterlin notiert, wer sie an ihrer freien Persönlichkeitsentfaltung gehindert hat. Wespen haben aber kein Gehirn. Sie können sich nichts merken. Wer nach ihnen haut, ist ihnen scheißegal, sie reagieren nur auf den Luftzug. Ein roter Pullover und ein blaues Auto sind für sie ein und dasselbe: zugleich alles und nichts und auch noch irgendwas dazwischen. In dem Hohlraum zwischen den Fühlern herscht völlige Leere. Sie summen nur in einem fort dieselbe Melodie vor sich hin; es ist das Lied vom Tod, auf einem Kinder-Xylophon gespielt: Bim, bim, bim. Bim bim bim …

 

#MenAreTrash and more …

Beginnen wir zunächst mit And More. Das ist einfacher.

Es ist Sommer, die Open-Air-Saison noch im Gange. Überall hängen die Plakate mit den teilnehmenden Bands. Viele tanzen auf mehreren Hochzeiten, doch nur eine offenbar auf allen. Denn am Ende jedes Line-Ups steht: „And More.“

Diese And More müssen echt gut im Geschäft sein“, sage ich zu meiner Freundin.

Jaha“, sagt sie. „Alt, aber witzig.“

Früher war ich ja ein totaler And-More-Fan.“ Ich gerate ins Schwadronieren. „Ich glaube, ich hab alle Platten von denen.“

Gut, reicht jetzt“, sagt sie. „Wir haben gelacht, aber bitte nicht noch weiter breittreten.“

Nun wäre ich gut beraten, ihre gutgemeinte Warnung zu beachten. Sie ist mein künstlerisches und moralisches Gewissen, meine Witzgeigerzählerin und meine geschmackssichere Pointenpolizei. Doch leider mangelt es mir oft an der nötigen Einsicht. Denn sobald ich mich erstmal in einen eigenen Einfall verknallt habe, bin ich nur noch schwer zu bremsen.

So wie jetzt. „Und weißt du, warum die auf den Ankündigungen immer als letztes aufgeführt werden? Weil die nämlich immer am Ende auftreten. (Narhalla-Tusch im Kopf) Der absolute Headliner bei jedem Festival. Weil die so gut sind, dass die keiner mehr toppen kann. Alle anderen wären danach bloß von der Bühne gebuht worden. Ein einziges Mal haben die Veranstalter And More vor den Stones spielen lassen. Das war ’98 in Bullerby. Mick Jagger hat geweint, weil er die Tomatenspritzer nie mehr aus dem teuren Rüschenhemd bekam. (Gelächter Publikum im Kopf)

Dafür hab ich dann geheult, als sich And More getrennt haben. Eine Welt brach für mich zusammen. Offiziell kam irgendein Blabla von wegen „Unstimmigkeiten über die künstlerische Ausrichtung.“ Ein anderes Wort für Drogenprobleme. And hat es noch eine Weile lang solo versucht, aber ohne More, der ja auch die meisten Lyrics geschrieben hat, war er ein Schatten seiner selbst. Ich hab ihn 2007 noch einmal im Huxley’s gesehen: ein stammelndes Gespenst, das die Gitarre falsch herum hielt – zum Fremdschämen.

Mit More ging’s noch weiter bergab. Der hat sich erstmal komplett aus dem Musikbusiness zurückgezogen. Nur noch Skandale. Kaution – Bewährung – Entzug – Rückfall: So hießen bei ihm fortan die Jahreszeiten. (Tusch und Lachen im Kopf) Der Tiefpunkt war dann wohl, als er in West-Hollywood bei seinem Nachbarn Tyll Schweighöfer zugekokst wie Bolle und nach zwei Flaschen Mezcal über die Gartenmauer geklettert ist und Schweigis Poolkeeper mit einer Schwimmnudel verhauen hat.

Danach war er über Jahre weg von der Bildfläche. Irgendsone Edelklapper mit Meerblick. Und jetzt feiern die offenbar ne Reunion. Brauchen bestimmt Kohle, das ist dann ja meistens so. Gerade bei More wundert mich das auch so gar nicht …“ (Sich selbst und die eigene bürgerliche Superiorität bestätigendes Sozialdemokratenkabarettgekicher sowie Zwischenapplaus. Im Kopf)

Sie stoppt meinen Elan. „Kein Wunder, dass dich dein Agent rausgeschmissen hat.“ Und ich verstumme. So einfach ist das, obwohl sie es gar nicht gesagt hat, weil es so ja auch nicht stimmt. Aber ich habe gelernt, jede Kritik anzunehmen, egal, ob sie nun geäußert wird oder nicht.

So nehme ich natürlich auch #MenAreTrash an. Das ist ebenfalls wichtige Kritik. Und nicht nur der Inhalt, auch die Form ist wichtig. Immer mitten in die Fresse rein – das wirkt reinigend wie ein Gewitter, aufweckend wie ein doppelter Espresso und erhellend wie ein abgeschlossenes Hochschulstudium.

Ich erklär das hier mal über einen Umweg. Im Rahmen einer Aufführung an der Volksbühne wurden wir, das Publikum, in einem fort von einem Schauspieler beschimpft. Der traute sich was, Wahnsinn! Wie er uns satten Theaterbonzen erst die Larve vom Gesicht riss und dann den Spiegel vorhielt. Die Volksbühne war schon immer äußerst innovativ.

Du blöde alte Fotze“, brüllte er auf eine Zuschauerin weit hinten ein, „was willst du überhaupt hier?“, denn in den 90er Jahren experimentierte man erstmals damit, Frauenhass nach außen hin als ironische Kunst zu verkaufen. Das war aber reine Stilübung. Die innere Haltung blieb spürbar die gleiche.

Obwohl der Raum so eingerichtet war, dass die Zuschauer ihn nur über die Bühne verlassen konnten, wagten es dennoch einige, wobei sie dann noch übler beschimpft wurden. Ansonsten erinnere ich mich kaum mehr an das Stück, außer dass Kathrin Angerer die ganze Zeit über nackt durch die Kulissen tollte. Das gab die Vorlage zwar nicht her, da sie weder beim Hautarzt noch am FKK-Strand spielte, doch die Volksbühne hatte nun mal ihren Ruf als „feministisches, queeres und antirassistisches Theater“ zu erfüllen.

Nun war ich aber zu jener Zeit gar kein Theaterbonze, sondern arbeitete als Taxifahrer. Da gehörte es ohnehin schon zum Anforderungsprofil, jede zweite Nacht von irgendeinem Irren angepöbelt zu werden. Jetzt kam da so ein privilegierter Bürgerschreck daher, von dem ich mich auch noch in meiner Freizeit erniedrigen lassen musste. Nein, danke – ich pfiff auf seine Katharsisstunde.

All das dachte ich also, leicht kränkbar wie ich damals war, ein typisches Symptom für Unzufriedenheit und mangelndes Selbstbewusstsein. Bis weitere grobe Tiraden des Berufsarschlochs auf einmal eine tiefe Erkenntnis in mir auslösten.

Es war wie eine Epiphanie und damit nun auch der Bogen zu #MenAreTrash. Ohne ein derart deutliches Wort hätte ich niemals mitbekommen, wie sauer die Frauen sind. Au Mann, sind die sauer! Jetzt verstehe ich das endlich. Man versteht eh viel besser, je lauter man angeschrien wird. Das ist nur logisch. Deshalb kann man ja auch Kommentare besser lesen, wenn sie durchgehend in Großbuchstaben verfasst sind. Oft denke ich, dass wer wo alle Zusammenhänge verstehen tut, dass der da bestimmt voll der Weltmeister im Denken wäre.

Drei Dinge waren es also, die ich an dem Abend in der Volksbühne gelernt hatte. Erstens: Viel hilft viel. Zweitens: Nimm nicht immer jeden Senf persönlich, drittens hat trotzdem alles immer auch mit dir selbst zu tun und viertens weiß ich nicht mehr. Deshalb ja auch drei Dinge. And more.