Nüscht

Zehn grüne Warnungen sind eine rote.

„Habt ihr eigentlich die Corona-App?“, frage ich in eine abendliche Runde smarter Akademiker hinein. Keiner hat. Nur einer hatte sie mal heruntergeladen, dann aber wieder entfernt, „weil die nie richtig funktioniert hat.“

Die App ist offensichtlich nicht so weit verbreitet, wie sie sein müsste, damit sie wirklich weiterhilft. Aber ich habe sie. Natürlich. Ich gehöre zu einer bestimmten Blase, die die App verwendet: rührend gutwillige Menschen, die sich ohne allzu großen Aufwand safe, sozial und mündig fühlen wollen. Halbintellektuelle, Halbverantwortliche, Halbkritische und Halbdigitale – die meisten von uns duften gut und haben angenehme Stimmen und Ansichten. Also erst mal schön das glitzy Lifestyle-Feature aufs bereits mit allem möglichen Junk überladene Endgerät gespielt, ohne zu wissen, wie es überhaupt arbeitet. Es funktioniert in der Tat oft nicht, aber das ist in den ersten Monaten egal. Irgendwo ist es ja auch ein Symbol für unsere Akzeptanz der Umstände. Hauptsache, wir haben es, dachten wir. Ist cool. Es passierte ohnehin nicht viel. Das war im Sommer.

Doch jetzt häufen sich wieder die Infektionsfälle, und die Apps schlagen Alarm. Überall fragen die Leute, was das denn nun um Gottes Willen bedeute? Die Panik übersteigt noch die vor der originären Pandemie. Zunächst hatte alle bloß grüne Warnungen. Also Warnungen, die vor gar nichts warnen. „Alles ist in Ordnung“, sagt die grüne. „Ich warne nur ein bisschen. Vor nichts.“ Das ist reine Beschäftigungstherapie. Die Wichtigtuer-App gibt damit an: Ich tu was, ich kann was, ich arbeite. Fragt sich nur, was und wozu.

Eine Freundin hatte mal fünfzehn grüne gesammelt, auf einen Streich. Fünfzehn mal nüscht ist nüscht, habe ich mal in Mathe gelernt. Aber ich gebe zu, ich war trotzdem ein wenig neidisch. Fünfzehn! Alter! Was mich weiter zu der Frage bringt: Kann man die vielen grünen, denn auch irgendwann gegen eine rote umtauschen? Das wäre doch nur fair, das hätte man sich erarbeitet und verdient. Drei Ecken Elfer. Dreimal umgezogen ist einmal abgebrannt. Acht Punkte Fahrverbot. Zehn grüne Warnungen sind eine rote.

Denn die roten gibt es neuerdings ja immer öfter. Seitdem ist vielleicht was los! Doch auch hier werde ich grün vor Neid, als die ersten Screenshots der Angeber mit den rotschicken Warnungen in den sozialen Medien auftauchen. Zusammen mit vielen Fragen: Was ist los, was muss ich tun, wo muss ich hin, wann werde ich sterben?

Die später ebenfalls geposteten Antworten zumindest der Berliner Gesundheitsämter könnte man inhaltlich in etwa so zusammenfassen: „Machense einfach nüscht.“ Bisschen vorsichtiger sein. Vielleicht.

Apropos nüscht. Was war das noch für ein Theater, als die App herauskam. Wir sollen alle zwangsüberwacht werden, hieß es über die am Ende selbst vom Chaos Computer Club geadelte und obendrein freiwillig heruntergeladene App – die Logik erinnerte fatal an den Zwergenaufstand gegen die auch nie geplante „Zwangsimpfung“. Dabei würden die Geheimdienstler an dem unbrauchbaren Datenschrott von mutmaßlich Schimpansenhand (oder -fuß) sowieso verzweifeln. Was ist nur los mit diesem Land, das einst den Kölner Dom, die V1 und den Porsche Cheyenne gebaut hat?

Einmal habe ich eine grüne Risikobegegnung, also ohne Risiko, und schleppe sie zwei Wochen mit; einmal habe ich vier auf einmal, und schon am nächsten Tag sind sie wieder verschwunden. Egal, grüne Risikobegegnungen sind ja eh keine. „Machense jetzt aber mal so wirklich überhaupt jar nüscht“, würde das Gesundheitsamt vermutlich dazu sagen. „Am besten weniger als nüscht.“ Und keine Panik.

Zugbrücke hoch

Auch die bösen Nachbarn haben sich in ihre Burg zurückgezogen.

Die Freundin, mit der wir uns das Gartengrundstück im Landkreis Oberhavel teilen, berichtet, dass die Nachbarin laut aufjaulte, als sie ihr Auto mit Berliner Kennzeichen vor dem Zaun parkte: „Wat macht sie denn hier?“, nölte sie über den Kopf unserer Freundin hinweg zu ihrem Mann, anstatt die Gemeinte selbst anzusprechen. „Ich dachte, die dürfen das nicht.“

Die sind wir. Nun wird die Fremdenfeindlichkeit vom Notstand zur Notwendigkeit geadelt. Das wacklige Gatter des Anstands wird endgültig geöffnet und die Sau herausgelassen. Gerüchte fliegen über Gartenzäune hin und her: Die Stadtmenschen rücken an, im Sturmgepäck ihren posturbanen Coronaclubseuchensiff. Jetzt aber fix die Zugbrücke hoch und die Zinnen besetzt.

Das ist es nämlich, was wir tun: Wir steigen in aller Herrgottsfrühe ins Auto und fahren zum zweiten Zuhause. Noch im Stadtgebiet kaufen wir im fast menschenleeren Supermarkt an der Ausfallstraße ein, um draußen jeden Kontakt mit Einheimischen zu vermeiden. Auf der Landstraße schaue ich dennoch in den Rückspiegel, ob da womöglich ein verbeulter Pickup auftaucht, mit dem uns gleich eine Horde „da sind die verseuchten Schweine!“ johlender Hillbillys von der Straße drängen wird. Vielleicht habe ich zu viele amerikanische Indie-Filme gesehen. Aber gemocht haben die Brandenburger uns eh noch nie besonders. Jetzt sollen wir endgültig bleiben, wo wir hergekommen sind.

In der Zeitung stand: Wer eine Datsche hat, solle aus Solidarität mit denen, die keine haben, in der Stadt bleiben. Und eben auch wegen der Brandenburger. Denn wenn wir uns den Fuß brächen, würden wir eines der raren märkischen Krankenhausbetten belegen. Wir brechen uns aber nicht den Fuß, wenn wir dort den ganzen Tag allein im Liegestuhl sitzen. Wer ist so blöd? Keine Menschenseele ist zu sehen, auch die bösen Nachbarn haben sich in ihre Burg zurückgezogen. Nur unser Verpächter kommt kurz, wir halten ein Schwätzchen schön brav mit drei Metern Abstand. Er nimmt die Pandemie genau so ernst wie seine Nachbarn; er ist einfach nur nicht so ein Arschloch. Morgen werden wir vorsichtig wieder zurück in unser anderes Zuhause fahren.

Bleibt noch der Ansatz, jedem solle es gleich schlecht gehen, um die verbreitete Lüge, vor Corona seien wir alle gleich, vielleicht doch noch irgendwie hinzubiegen. Auf einmal ziehen viele liebe Privilegierte das seit dem Frühmittelalter im Ärmel verstaubende Ass der alleinerziehenden Mutter hervor und knallen es vor den bösen Privilegierten auf den Tisch – zack, gestochen!

Aber im Grunde eine geile Idee: Die Hütte bleibt leer, der Garten vertrocknet. Aus Solidarität verkleinern wir unsere Fünfzimmerwohnungen künstlich auf ein Zimmer. Die Dienstboten sind eh auf Kurzarbeit. Auch die Nerven des Hedonistenpärchens sind schon reichlich angespannt: Nach Wochen nur zu zweit in unserem Palast verdichten sich zahllose Mikroaggressionen zu einem derart langen Läufer aus verfilztem Hass, dass er von Hades-Mitte bis in die ersten Vororte von Armageddon reicht. Unter diesen Vorzeichen machen wir nun Soli-Self-Homeschooling. Dafür brauchen wir auch keine Kinder; viel anstrengender sind ohnehin brettbehämmerte 50jährige, die sich auf nichts außer ihrer Scrabble-App länger als eine Minute konzentrieren und einen Logarithmus nicht von einem spanischen Hilfsverb unterscheiden können. Das gibt Tränen und Geschrei, da merken wir dann endlich mal wie sich das anfühlt.

Was ich aber eigentlich sagen wollte: Uns geht es gut. Wir können raus fahren, wir können hierbleiben, es ist egal, es ist für alle außer uns vollkommen unwichtig, so oder so.

Rettet das Bier


Ich muss unbedingt helfen!

Der Tag will nun völlig neu strukturiert werden. Aufstehen nicht vor Zehn. Fernsehen nicht vor zwölf. Alkohol nicht vor vierzehn Uhr. Das alles verlangt einen genauen Plan und jede Menge Disziplin. Diejenigen mit Kindern haben es gut – da strukturiert sich der Tag wie von alleine.

Darüber können die jetzt gar nicht lachen. Und auch auf meine panische Aufforderung beim Laufen im Park – „nehmt doch mal eure Seuchenvögel an die Leine“ – reagiert die Elternschaft schmallippig. Das verstehe ich; deshalb denke ich es ja auch nur, und versuche stattdessen vor den kleinen Virenschleudern wegzurennen, die mit ihrem Laufrad auf mich zusteuern. Der Anblick einer Vierjährigen, die ein Rudel grauhaariger Jogger vor sich hertreibt, muss von weitem so aussehen, als stöbe eine Bisonherde beim Auftauchen eines einzelnen Kojoten in wilder Flucht davon. Das Kind lacht.

Hier kann es sich endlich für Jahrtausende demütigender Bevormundung durch Erwachsene revanchieren: Schuhe, Mütze, Handschuhe anziehen, in die KiTa gehen. Kein Eis kriegen, obwohl man eins will. Um acht Uhr abends ins Bett geschickt werden. Inferioren Mist vorgelesen bekommen. Und das hier macht auch mehr Spaß als sich schreiend im Supermarkt auf den Boden zu werfen, und wirkt um so vieles selbstbestimmter.

Die Eltern lachen ebenfalls. Sie rächen sich für den Spott mit der Tagesstruktur. Erst habe ich noch Witze gemacht. Jetzt muss ich bezahlen. Das ist nur gerecht. Doch es gibt auch Eltern, die für uns Ältere Verantwortung zeigen. So komme ich an einer Mutter vorbei, die ihr Kleinkind festhält und ernst auf es einspricht: „Nicht mit der Schaufel. Sonst kriegen die Angst und dann gehen sie tot.“ Allerdings – das muss ich zugeben – habe ich die Vorgeschichte gar nicht mitbekommen.

Auf dem Heimweg möchte ich Geld holen. Lange Schlangen. Und wieder kommt nur ein Hunderter aus dem Automaten. Wo sind nur die ganzen kleinen Scheine? Wischen die sich jetzt alle damit den Arsch ab? Ich sehe hier langsam ein neues Problem hochkochen. Im Kiosk oder beim Bäcker kann man oft nicht mit Karte zahlen, und in der Bank selbst wechseln geht nicht – die Filialen haben für den Publikumsverkehr geschlossen. Denn noch nie wäre es so einfach gewesen, einen Bankraub zu begehen. Einmal rein, und zwar ausdrücklich ohne Maske: „Hände hoch, oder ich niese.“ Und schon ist die Kasse leer.

Das Gute ist, dass, wenn es kein Bier mehr gibt, man ja auch kein Geld mehr braucht. Das ist mein erster Gedanke, als ich von der drohenden Bierknappheit höre. Die Arbeiter aus Polen und Rumänien, die im Frühling die Hopfentriebe beschneiden, sollen wohl nicht mehr ins Land gelassen wertden. Wer soll das jetzt machen? Das ist mein zweiter Gedanke: Die gesamte Ernte ist in Gefahr.

Auf dem heimischen Sofa gebe ich mir einen Ruck. Mein Land ruft mich, mit einem lauten „Hick!“ Endlich wird es Zeit für mich, zu handeln. Nichts habe ich bisher gemacht, keine alten Nachbarn in Quarantäne versorgt, keine Masken genäht, keine ehrenamtliche Arbeit an den Krisentelefonen dieser Stadt versehen. Doch nun sehe ich mich vor mir, wie ich in unser kleines Auto springe und mit quietschenden Reifen allein die fünfhundert Kilometer bis zu den Hopfenfeldern in der Hallertau zurücklege. Wie ich dort zwei Wochen schufte, schneide und drahte. Ich muss unbedingt helfen!

Meine Frau sagt aber, das wäre nichts für mich. Mein Rücken. Die Mühsal. Mein Alter. Die Ansteckungsgefahr. Sie klingt gerade so, als wollte ich mich freiwillig an die Ostfront melden. Na gut. Seufzend lehne ich mich wieder zurück. Gleich kommt eine neue Folge „Better call Saul.“

Wenn drei sich streiten

Das wird all diesen notorischen Trittbrettfahrern und Unsichtbaren Dritten in Zukunft eine Leere sein.

Ansammlungen von mehr als zwei Personen sind ab sofort verboten. Die dritte Person wird erschossen. Oder muss weggehen – da streiten sich die Gelehrten. In jedem Fall kann die praktische Durchsetzung der Verordnung schwierig werden. Wenn sich drei nicht einigen können, wer als letztes dazu gekommen ist, de facto also diese dritte Person ist, werden alle nach Hause geschickt. Denn auf Diskussionen wie „Ich war der erste“, „Nein ich“, „Und ich war die zweite. Und du warst dritter“, „Das wüsste ich aber. Ich war nämlich die erste und du warst zweiter. Und der da dritter.“, „Nee, gar nicht wahr!“, soll sich die Polizei gar nicht erst einlassen. Das wird all diesen notorischen Trittbrettfahrern und Unsichtbaren Dritten in Zukunft eine Leere sein. Das nächste Mal merken sie es sich garantiert besser.

Wahrscheinlich wird auch bald das Sprichwort „Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte“ offiziell umbenannt in „Wenn drei sich streiten, freut sich die Staatskasse.“ Denn schließlich soll es ja für die Uneinsichtigen Geldstrafen hageln. Fünfundzwanzigtausend Schleifen. Hat noch niemand darüber nachgedacht, dass die Regierung Corona nur lanciert hat, um sich mal gründlich die leeren Taschen fett zu machen? Die Verschwörungstheoretiker sind auch nicht mehr, was sie mal waren. Erstaunlicherweise gebären ausgerechnet diese Tage, die doch eigentlich wie gemalt für sie sein müssten, nur besonders zahme Verschwörungstheoretiker, die zahnlos langweiligen Schwachsinn raunen, wie „Die Lottozahlen sind vergiftet, aber wohl nur ein bisschen“, oder „Nur mit einem Toyota Corona fährt man wirklich sicher.“

Die zugelassene Anzahl der Personenkontakte wurde jedenfalls ziemlich schnell eingedampft. Vor kurzem waren es noch Treffen mit mehr als tausend Personen. Die Tausend hat sich offensichtlich nicht bewährt. Oder wie schon Rainer Maria Rilke während einer Choleraepidemie in Paris nicht ohne sein berühmtes schwarzhumoriges Augenzwinkern dichtete: „Die Tausend ist ne geile Nummer, doch mit der zwei gips wen‘ger Kummer.“

Die Restaurants, die ohnehin schon reichlich eingeschränkt waren, werden endgültig geschlossen. Nun müssen wir alle selbst kochen. Das kann ja nicht jeder. Eher kann es jeder nicht. Außerdem gibt es oft nicht die gewünschten Zutaten, denn leider hamstert das clevere „Abiturientendeutschland“ (S. Lobo auf SPON) nun auch Essbares, im Gegensatz zum „dummen Pöbel“ wie Lobo – in Anführungszeichen fein den Anderen, Klassisten und arroganten Proll-Hatern in den Mund gelegt – den Klopapier raffenden, mutmaßlichen Bodensatz nennt. Denn wer sollte dafür sonst verantwortlich sein, wenn nicht diese halbdebilen Loser, da hat er schon völlig recht.

Und es kommt noch schlimmer. Die Friseure werden nun ebenfalls geschlossen. Bald sehen alle derart scheiße aus, da fällt dann wenigstens das Abstand halten leichter. Auch das mit dem Skypen hört dann auf. Man muss nur aufpassen, dass man nicht über die eigenen Haare oder Bärte stolpert und dann in die anderen Verseuchten reinfällt wie in so ‘ne volle Pestgrube – damit wäre die ganze schöne Maßnahme wieder komplett zunichte.

Ich warte schon auf die Namen der nach der Wiedereröffnung umbenannten Frisiersalons: „Hairzweiflung“, „Locke down“, „Corona Haarpfusch“ – da einen Termin zu bekommen, wird nicht leicht. Von mir aus können sie für eine Weile gern die Preise erhöhen, denn nicht zuletzt bedeutet es ja auch einen erheblich erhöhten Arbeitsaufwand, die wochen-, monate-, jahre(?)lang mit Papierscheren, Nagelknipsern und Obstmessern gestutzten Schöpfe in eine halbwegs menschenwürdige Gestalt zurückzuführen.

Puzzle gegen Lagerkoller

In schwierigen Zeiten müssen wir alle zusammenrücken.

Ins Freie zu gehen und Flaschenbier trinken, war durchaus noch im Rahmen ernstgemeinter, offizieller Vorschläge – Viren hassen ja angeblich frische Luft. Aber wohl gerade deshalb machen das auch so viele, dass der Nutzen implodiert. Denn unterwegs merken wir schnell, dass wir alles andere als allein sind. Wir hätten gedacht, alle säßen zu Hause und hätten Angst. Ab Morgen haben sie dann auch so richtig Grund dazu. Die im Grunde schöne Idee, die Menschen hinaus in die Sonne zu lassen, um physische und psychische Widerstandskraft zu tanken, kehrt sich ins Gegenteil: Es ist eine einzige, riesige Freiluft-Coronaparty.

Ein Schild an einem kleinen Laden fordert dazu auf, „Puzzle gegen Lagerkoller“ zu kaufen. Ich hoffe ja, alle haben sich daran gehalten, denn die Geschäfte sind nun längst geschlossen. Und viele haben gemerkt, dass man sich mit Puzzleteilen nicht den Arsch abwischen kann.

In der Hasenschänke im Volkspark Hasenheide mahnt ein Schild zu anderthalb Metern Abstand. Vor dem Verkaufsschalter haben sie sogar entsprechende Linien gemalt. Fast jeder hält sich daran. Das Personal trägt Latexhandschuhe; die Stühle und Tische, die sonst auf der Freifläche stehen, verbleiben im Schuppen. So hat sich dieser sonstige Zwitter zwischen Kiosk und Biergarten nun eindeutig für die Kioskvariante entschieden.

Auf den Wegen ballen sich die Freundesgruppen. Sie haben Zeit. Home Office, Kinderbetreuung, Jarnüschtmehr. Da trifft man sich am besten im Park. Hug, hug. Küsschen, Küsschen. In schwierigen Zeiten müssen wir alle zusammenrücken. Die knutschenden Kurzzeitpärchen, die es vor dem Weltuntergang noch einmal wissen wollen, möchte ich am liebsten wie ein Anstandswauwau aus dem neunzehnten Jahrhundert ankläffen („ei, ihr Schamlosen!“), lasse es dann aber doch. Ja ja, Frühling, ich weiß schon, in einer unguten Kombi mit erregter Endzeitstimmung: Tindergeddon. Schmetterlinge. Alles anfassen, hier gleich auf dem Rasen. Dazwischen Krokusse. Doch auf diese Tour ist der Herbst schneller da als man denkt.

Und auch für Fremde besteht auf Abstandhalten keine Chance. Die Angewohnheit besonders der Millennials, von Kopfhörern abgeschottet, durch andere Menschen mehr oder weniger hindurchzugehen oder zu -fahren, ist mir vor dieser Zeit noch nie so extrem aufgefallen wie jetzt.

Am meisten beängstigen mich die vielen Jogger. Sabbernd, hechelnd und prustend steuern diese Schwitz- und Schnaufschweine mitten durch die Menge. Sie wollen entweder fit ins Grab, oder, noch wahrscheinlicher, uns bedenkenlos verseuchen. Survival of the fittest ist buchstäblich ihr Prinzip. Es fehlt im Grunde nur noch, dass sie squirten, Feuer spucken oder Altöl verlieren.

Wir bewegen uns wieder Richtung Kreuzberg. Die einen Cafés haben zu, dafür sind die andern umso voller. Wir treffen zufällig Bekannte, die sich zwischen hundert anderen in eine Bank gequetscht haben. Soziophob lehnen wir ihre freundliche Einladung ab, uns dazuzusetzen, und machen uns auf den Rückweg. Den Uferweg vermeiden wir sogar ganz, denn genauso gut könnte man zum Feiern in den Club „Trompete“ gehen.

Gegen Abend geh ich selbst noch mal joggen. Prust, schnauf, spritz – ich nehm euch alle mit! Dabei beobachte ich einen Dealer, wie er sich Latexhandschuhe anzieht, kein Scheiß, echt jetzt. Das Drogengeschäft scheint unauffällig zu laufen. Zwar verleitet die Gesamtsituation sicher einige dazu, sich die Gitterstäbe quer und das Fernsehprogramm bunt zu rauchen, doch fehlen langsam auch ein paar Touristen. Träumt man eigentlich, wenn man tot ist – hat da irgendwer Erfahrungen?