Der graue Nebel der Realität

Das größte jemals überhaupt im Leben gemessene Lebendgewicht.

Nach einem erholsamen Vierzehnstundenschlaf watschle ich an den Schreibtisch und schalte den Laptop ein. Der ist quasi meine Hasstankstelle, an der ich mich mit meiner täglichen Dosis Hass versorge. Dazu brauche ich bloß fünf Minuten durch die Social Media zu scrollen. Einige dort sind einfach nicht meiner Meinung, obwohl das Wort Meinung doch von „mein“ kommt. Die andere Meinung ist der schwur…, äh, reißende Wolf in der wohlgeordneten Schafherde meiner Gedanken, die allein vom treuen Hütehund meines überlegenen Intellekts beschirmt wird. So, jetzt bin ich (auf)geladen, der Hasstank ist wieder voll. Und ordentlich wach zugleich – da brauche ich keinen Kaffee mehr.

Nanu, denke ich – sind die Fingernägel nach ein paar Tagen schon wieder so lang? Sind sie dann aber doch nicht, zumindest nicht alle. Ein Abgleich zeigt mir, dass ich beim Schneiden neulich einfach die rechte Hand vergessen haben muss. Da hat man nur eine einzige Aufgabe, und versemmelt die trotzdem noch. Aber ich bin sogar froh darüber, denn auf diese Weise habe ich nun unerwartet doch etwas zu tun. Schließlich ist zurzeit ja sonst so wenig zu verrichten. Das wird mich einige Sekunden lang beschäftigen, wenigstens für einen kurzen Moment bin ich diese entsetzliche, betäubende, sämtliches Leben in mir vernichtende Leere los. Das ist super, eine absolute Win-win-Situation, denn so bin ich gleichzeitig dem „normalen Leben“ (Kater, Steuererklärung, Leserkommentare) nach Corona wieder eine halbe Minute nähergerückt. Und die Fingernägelchen sind schön geworden, so schön sind die, eieiei.

Man muss lernen, auch die kleinen Erfolge zu feiern. Nach dem wöchentlichen Duschen – öfter ist nicht nötig, ich geh ja nicht raus und bewege mich kaum, und dann muss ich auch die Schlafsachen nicht ausziehen – ist es mir kürzlich gelungen, auf der Badezimmerwaage das größte jemals überhaupt im Leben gemessene Lebendgewicht zu messen, also zu wiegen, also in meinem Leben, also meins, mein Gewicht. Die exakte Kilozahl kann ich nicht nennen, sonst denken alle, ich wäre ein Nazi. Und wäre ich ein Angler, würde ich mich stolz mit mir selbst auf dem Arm fotografieren, dem fetten Riesenwels vom schlammigen Grund des Lockdown-Sees.

Meine Kopf-, Ohren- und Nasenhaare haben in den letzten Wochen und Monaten ebenfalls rekordverdächtige Länge erreicht. In einer prächtigen Symbiose verflechten und verfilzen sie sich mit meinen Tag und Nacht getragenen Schlafklamotten immer mehr zu einem dichten Mantel der Kapitulation vor praktisch allem.

Macht nix. Ich rechne eh nicht damit, dass ich in diesem Jahr noch mal weiter rausgehe als bis zur Käsetheke des nächstgelegenen Supermarkts. Die im Prinzip eigentlich ganz schlaue Idee einer Impfung haben sie ja inzwischen weitgehend wieder zurückgenommen. Außer im Fernsehen. Gäbe es nur halb so viele Impfungen wie jeden Tag in den Nachrichten, wären wir schon längst durch. So aber murrt das Volk vernehmlich.

Ich sage dennoch danke. Denn wer hier jetzt anfängt, rumzumaulen, von wegen Versäumnisse, Beschiss oder Enttäuschung, sollte sich doch einfach mal vorstellen, man hätte uns nichts versprochen. Stattdessen wahrheitsgemäß gesagt: Impfung ist nicht. Zu teuer. Zu schwierig. Zu dumm. Zu geizig. Kein Bock. Lecko mio.

Dann hätten wir nämlich gar nichts gehabt, eben auch nicht diese wunderbaren Tage voll der süßen Hoffnung, in denen wir uns in Gedanken bereits wieder grölend, kopulierend und rotzbesoffen durch die lauen Berliner Sommernächte stromern sahen, um uns herum nichts als Liebe, Lärm und Taschendiebe. Anstelle dieses bitter notwendigen Seelenzuckerls nur der dichte graue Nebel der bösen Realität. Nein, da war mir der vermeintliche Sonnenstrahl am Horizont doch lieber, auch wenn er sich am Ende bloß als der Feuerschein einer brennenden Müllkippe entpuppt.

Gäbe es nur halb so viele Impfungen wie jeden Tag in den Nachrichten, wären wir schon längst durch.

Backen mit Mady Morrison

Ein grunzendes Backschwein, dem sich der klebrige Teig wie beigefarbener Kot von den Fingern zieht.

Ich gebe es zu. Ich backe jetzt Brot. Das ist der Offenbarungseid: Ich kann offiziell nichts mehr mit mir anfangen. Isolation, mangelnder Input und der Verlust gewohnter Rituale haben diesmal offenbar auch mich zermürbt.

Beim ersten Lockdown im Frühjahr war ich noch stark. Da hatte ich die Bekloppten für ihren Aktionismus ausgelacht. Brotbacken, zuhause, das muss man sich mal vorstellen! Donnerwetter, hatte ich gedacht: ein Virus, das anscheinend sogar ohne Infektion das Hirn zerstört!

Denn es war tragisch, mitanzusehen: Wie verzweifelt sie alle versuchten, ihre nun auf einmal so leer erscheinenden Leben mit absurden Fantasy-Inhalten zu füllen, um den Tagen wenigstens irgendeine Art von Struktur zu verleihen; wie Suchtkranke, die sich Haustiere anschaffen.

An den laufenden Kindern war mir der allgemeine Meltdown im vorigen März zuerst aufgefallen. Denn nicht nur, dass auf einmal alle ständig laufen gingen. Nein, neu war auch, dass man selbst Kinder, meist in Begleitung eines Elternteils, joggen sah – ein ähnlich skurriler Anblick wie Greise auf dem Skateboard. Spätestens da wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Kinder haben nämlich ein exzellentes Gespür dafür, was dem gesunden Menschenverstand zuwiderläuft. Sie mögen weder Tee noch Kaffee, weil der bitter ist. Sie rauchen nicht, weil man davon husten muss. Sie trinken keinen Alkohol, weil man davon erst komisch wird und dann traurig und am Ende vollends verrückt. Sie hassen Gemüse, weil das nicht schmeckt. Und sie laufen schon gar nicht hohl im Kreis herum.

Doch die Erwachsenen rissen alle mit in den Wahnsinn. Sie putzten ihre Wohnungen, als ob die nicht Tage später wieder genau so dreckig sein würden. Sie spielten Schach im Internet, obwohl sie gar nicht spielen konnten. Sie machten Homeyoga mit Mady Morrison. Sie gingen jeden Tag spazieren, was sie noch nie zuvor getan hatten. Und sie joggten, wie gesagt.

Vor allem aber buken sie Brot – eine Imperfektform, die ich nicht aussprechen kann, ohne dabei den kleinen Finger abzuspreizen. Sie buken Brot, obwohl der Bäcker aufhatte. Dort gab es Brot. Man konnte es kaufen. Das war auch nicht verboten. Der Bäcker buk gutes Brot, er hatte das gelernt. Und er hätte gern welches verkauft, anstatt es jeden Abend wegzuschmeißen, weil die gelangweilten Idioten ihr eigenes Brot buken. Stattdessen ging er pleite wie so viele andere Läden, nur eben völlig sinnlos, da er ja aufmachen durfte.

Überall war Trockenhefe alle. Wie das Klopapier, wie die Nudeln. Und im Netz jammerten die Leute: „Die Trockenhefe ist alle. Wer hat noch Trockenhefe? Was ist mit Ebay? Wer geht mit plündern?“ Damals hatte ich es nicht verstanden. Klar, das mit den Nudeln und dem Klopapier schon, aber Trockenhefe? Was ist Trockenhefe, hatte ich mich gefragt. Wer braucht das? Und um Gottes Willen wozu?

Jetzt bin ich schlauer. Während im Laptop – „Hallo, ihr Lieben“ – Yoga mit Mady Morrison läuft, mische ich einen viertel Teelöffel Trockenhefe mit Mehl, Salz und Wasser, und forme alles zu einer Masse. Über der Anrichte spiegelt sich in den Kacheln mein Gesicht. Ich sehe blöde aus. Kein Wunder, ich bin offenbar blöde geworden. Ein grunzendes Backschwein, dem sich der klebrige Teig wie beigefarbener Kot von den Fingern zieht. Dabei hat doch dort draußen noch immer der Bäcker auf. Meine Güte, was für ein erbärmliches Lockdownopfer ich geworden bin!

Morgen schöpfe ich dann mein eigenes Klopapier aus Holzresten. Ich mache Nudeln aus meinen Popeln und Honig aus dem Ficus Benjamini: Tanzen, Sammeln, Schleudern – das ganze Programm.

Der alte Affe Neid

Wenn im Sommer dann die Geimpften im Restaurant vor ihren Seniorentellern sitzen…

Die Süddeutsche Zeitung prangert die Überlegung, wer geimpft sei, könne eventuell auch schon wieder ins Kino oder Restaurant gehen, als „Sonderbehandlung“ an, die „Neid und Konkurrenz begünstigen“ würde.

Ja, schon klar. Wenn ich nicht ins Kino darf, sollen geimpfte Krankenschwestern auch nicht ins Kino dürfen. Denn wenn ich weiß, die sitzen nach ihrer Doppelschicht in der Intensiv genauso dumm zuhause rum wie ich, fühle ich mich doch gleich viel besser. Denn sonst werde ich neidisch, und das darf nicht passieren, denn das ist ja irgendwie ganz schlimm.

Fast noch mehr als die sicher unabsichtliche Verwendung des Nazi-Begriffs „Sonderbehandlung“ stört mich ihre Grundannahme: Alle Leute sind neidisch und das ist ganz normal und dem muss man unbedingt Rechnung tragen. Missgunst, Neid und Eifersucht sind folglich schützenswerte menschliche Eigenschaften, nach denen sich auch die Politik auszurichten hat.

Aber man kann doch dieses komische Menschenbild dann auch ihren eigenen Neid vermutlich wie einen kostbaren Schatz pflegender Leute nicht zum Maßstab für Entscheidungen machen; man muss doch nicht alle Regeln passgerecht auf unreife Persönlichkeiten ohne Frustrationstoleranz zuschneidern, so wie damals, als man zur Belohnung für die Pogrome in Rostock-Lichtenhagen die Asylgesetze verschärfte. Und wenn jemand seine Frau umbringt, weil die sich von ihm trennen will: Tja, dann müssen wir halt die Gesetze so ändern, dass sich die gnädigen Herren nicht mehr schlecht fühlen?

Gilt denn jetzt schon als doof, wer vorsichtig anspricht, dass es ja immerhin ein Anfang wäre, wenn es erst mal wenigstens ein paar weniger Leuten scheiße ginge als nötig beziehungsweise eben unnötig. Denn dass man Dinge frei tun darf, ist doch sowieso der Normalfall und nicht die große, erlaubnispflichtige Ausnahme, ein Zuckerle von Mutti Staat für eine Eins in Betragen. Schon vergessen?

Die Zeitung hält ihre Mitbürger offenbar durch die Bank für noch bescheuerter und gemeiner als sie eh schon sind. Klar kann sich ungerecht behandelt fühlen, wer möchte. Genauso wie jeder gerne fühlen kann, dass bald der Große Schokoladenkeks mit lautem Gebrumm auf Erden landet und uns alle auf seinem weichen braunen Rücken mit ins virologenfreie Leckerland nimmt. Aber der Irrsinn der Leichtgläubigen kann doch nicht als Grundlage für Pandemiemaßnahmen dienen.

Ganz davon abgesehen haben die Personengruppen, die dann „begünstigt“ wären, ja sonst schon unhinterfragt genügend Nachteile zu tragen, ob vor oder während, ob wegen oder nicht wegen der Pandemie, und oft auch alles auf einmal. Das gilt auch für gesunde Alte, denen wir doch eine möglichst uneingeschränkte Qualität gerade ihrer letzten guten Jahre wünschen sollten. Die sollen jetzt, obwohl geimpft, gefälligst mit uns Jüngeren zusammen verzichten? Einfach so? Das ist keine Solidarität. Ich blutjunger Hüpfer habe doch viel mehr Möglichkeiten auch abseits der ausgetretenen Pfade.

Wenn im Sommer dann die Geimpften im Restaurant vor ihren Seniorentellern sitzen, kann ich im angenehm leeren Park in Ruhe mein Bier trinken, zusammen mit all den anderen, die dank der großartigen Organisation bis 2022 auf die Impfung warten. Das wird trotzdem schön. Zum Vergleich: Was absolut nicht schön ist, ist krank zu sein oder tot, ist Krankheit oder Tod von nahestehenden Menschen, ist im Gefängnis, Heim, Lager, Krankenhaus oder an einem ungeliebten Arbeitsplatz eingesperrt zu sein, ist Hunger, Kälte, Angst und Einsamkeit. Das wäre es dann aber auch schon so ziemlich. Neid auf die Barbesuche geschützter Vorerkrankter gehört jedenfalls nicht dazu. Ich freue mich auch so schon auf den Frühling.

Ja, schon klar.

Mein größter Triumph

Der Turnlehrer weinte fast vor Wut.

Tromp, tromp, tromp! In der Hasenheide zittert der Boden: ein Erdbeben, ein Vulkanausbruch, eine anrückende Panzerdivision?

Doch nein, eine gewaltige Atemwolke in der kalten Luft kündigt die Ankunft eines gigantischen Wesens an. Und tatsächlich: Schnaufend und hechelnd biegt der Vanillekipferlsaurus Specks um die Ecke. Jeder Schritt scheint ihm eine unendliche Kraftanstrengung abzuringen. Mit dieser Tonnage den mächtigen Körper nicht nur aufrecht, sondern in Bewegung, gar im Trab zu halten, ist im Grunde ein Wunder, ein Sieg der Natur über die Physik und des Willens über die Statik.

Nach den Feiertagen fällt mir das Laufen alles andere als leicht. Auch die Entgegenkommenden keuchen sich schier die Seele aus dem Wanst. Und es sind viele, denn zu der anfangs des Jahres eh schon üblichen Steigerung durch verblödete Neujahrsvorsätze, gesellt sich heuer obendrein noch der Corona-Effekt. Die Leute sind mehr draußen, sie gehen mehr spazieren und sie joggen mehr. Was sollen sie auch sonst machen?

Nach einer halben Stunde darf ich aufhören. Genug für heute. An einen Baum gelehnt vollführe ich Dehnübungen. „LK Sport lässt grüßen“, ruft von einer Parkbank ein Mann mit der immer etwas zu lauten, falschen Fröhlichkeit des Morgentrinkers zu mir herüber. Ich beachte ihn nicht weiter, aber ich verstehe, wie er auf diesen Eindruck kommt, denn ich bin ein exzellenter Dehner. Hätte er mich zuvor laufen gesehen, wüsste er, dass ich allenfalls GK bin. Doch jetzt bin ich in meinem Element – gegen meine hier nun wieder wie schwerelose Anmut nähme sich eine Gazelle wie ein Trampeltier aus.

LK und GK, Leistungskurs und Grundkurs – allein die Verwendung dieser Begriffe deutet sowohl auf ein BRD-geprägtes Schulsystem, als auch ein gewisses Alter der Sprechenden hin. Denn ich weiß sofort, was er meint. Wir verfügen über dieselben Codes. Das eint den Schreihals und mich. So etwas wie LK und GK gibt es heutzutage doch bestimmt nicht mehr. Das System ist sicher längst zugunsten irgendeiner fachschaftsfluiden Flexiwissensvermittlung verschwunden. Oder primitiver gesagt: Grüße aus der Klippschule.

Ich muss daran denken, wie ich anno Tobak als einziger in einem naturgemäß – Zwangspflichtfach! – völlig lustlosen Grundkurs Sport, versuchte, die Note „einzubringen“ (noch so ein Catchword für BRD-Boomer), weil das immer noch mehr versprach als in Mathe oder Französisch. Um mich herum lümmelten rauchend und Leberkässemmeln kauend die Mitschüler, das Gruppenbild einer grundsätzlichen Sabotagehaltung, wie man sie so vermutlich nicht mal in den Fabriken des real existierenden Sozialismus kannte. Ich aber lief einfach im Spagat über die Hochsprunglatte hinweg, und sprang auf diese Weise höher als der nebenan sich in komplizierten Wurliwurmtechniken um die Stange windende Leistungskurs. Die Verweigerer zündeten sich lachend die nächste Semmel an, und der Turnlehrer weinte fast vor Wut, weil er mir eine Eins geben musste. Für die Note zählte nämlich nur die Höhe. Es war der größte sportliche Triumph meines Lebens und sollte auch der einzige bleiben.

„LK Sport, hahaha“, stört nun, erneut laut quakend, der erstaunlich edel gekleidete Idiot meine schönen Erinnerungen. Meine Ignoranz scheint ihn zu verunsichern. So ganz zufrieden wirkt er jedenfalls nicht. Man denkt als Laie ja immer, prima, genau das ist es, sich einfach jeden Tag von morgens bis abends im Park zu betrinken und sonst gar nichts, das ist sicher sehr schön, das ist der ultimative Bringer, aber womöglich macht man sich da doch was vor, und so schön ist es am Ende gar nicht.

Der letzte Schrei

Man hat schließlich auch Verantwortung für Andere

Schön finde ich, dass jetzt viele kleinere Klamottenläden elegante und originelle Mundnasenschutze im Sortiment haben: feine Stoffe, schöne Farben, kecke Motive. Manche arbeiten mit kleinen Manufakturen zusammen oder stellen sie sogar selbst her. Das finde ich gut. Ich bin ja nicht so der Einweg-Pappnasenträger; als Mann von Welt, der ich gern wäre, möchte ich schließlich auch mit Maske schick sein.

Ich betrete den Laden und sondiere den reich bestückten Maskenständer. Die Inhaberin bedient noch eine andere Kundin, aber das macht gar nichts. Ich sehe mich eh lieber erst mal in Ruhe alleine um. Zunächst prüfe ich das Material gründlich mit beiden Händen. Anschließend probiere ich einen Mundschutz nach dem anderen an, und laufe damit im Laden herum, erst im Schritt, dann im Trab. Ich mache Kniebeugen und Liegestütze, um zu testen, ob er bei körperlicher Belastung verrutscht. Das sind entscheidende Kriterien – ich habe keine Lust auf einen faulen Kompromiss, den ich nach zwei Wochen Tragezeit doch nur wieder zurückgeben muss. Im Spiegel gucke ich, ob man von außen sieht, wie sehr ich die Masken schon durchgesabbert und -geschwitzt habe. Die nur noch vier Kandidaten von etwa fünfzig, die bis dahin alle Prüfungen bestanden haben, unterziehe ich am Ende noch dem wichtigsten Test: Ich niese und huste kräftig hinein, um zu sehen, ob sie auch wirklich dicht sind.

Die Chefin hat nun Zeit für mich und wendet sich mir zu: „Ich sehe, Sie haben schon eine schöne Maske gefunden? Sieht doch fabelhaft aus.“

„Ja, sehr schöne Modelle. Absolut. Aber ich hab die jetzt schon alle anprobiert und keine sitzt so richtig perfekt“, sage ich, und mache keinen Hehl um meinen leichten Unmut. „Zu fest, zu locker, nicht dicht genug. Sehen Sie …“ Ich deute auf den Teppich. „Beim Niesen sind mir zum Teil sogar links und rechts die fetten Flatschen rausgespritzt. Das geht gar nicht. Man hat schließlich auch Verantwortung für Andere. Genau das ist ja im Grunde das Prinzip des Mundnasenschutzes: Ich für dich, du für mich, wir für uns. Für eine gesunde Gesellschaft in einer nachhaltigen, sicheren und gerechten Welt.“ Ich deklamiere aus dem berühmten Poem „Busenbrunst“ der Heimatdichterin Luise Brandstetter: „Bruder, du, ein Teil von mir. Schwester, du, ein Teil von dir. Funkenflug, ich eil, ich eil. Brandleich schwarz, ein Teil, ein Teil …“

Die Boutiquarin wirkt entgeistert.

„Schön, nicht?“ Ich kann nur flüstern, im Hals ein dicker Kloß, füllen sich meine Augen mit Tränen.

Sie zeigt auf den Haufen feuchter Masken, der sich neben dem leeren Ständer türmt. „Haben Sie die etwa alle anprobiert?“ Auch sie flüstert, offenbar schwer ergriffen. Das gefällt mir. Eine Frau der Geistes und der Kunst. Ich glaube, hier werde ich ab heute öfter einkaufen.

„Ja, alle.“ Ich nicke. „Aber leider passt keine so richtig. Die hier auch nicht.“ Ich nehme die letzte Maske ebenfalls ab. „Puh, endlich wieder Luft. Das tut gut.“ Ich schnäuze mich. „Leander Haußmann hat recht: Ist ja schon irgendwie Diktatur.“

„Würden Sie hier im Laden bitte einen Mundnasenschutz anlegen?“ Sie wirkt mühsam beherrscht. Ein bisschen wie Edvard Munchs „Schrei“, aber eben kurz davor. Holla, was ist denn hier plötzlich los?

„Aber ich habe doch keinen.“ Nun bin ich es, dem es kaum mehr gelingt, seine gerechte Empörung zu verbergen. „Natürlich nicht. Sonst wäre ich doch nicht hier. Das ist ja wohl logisch. Wie dumm Sie sind. Sorry. Echt mal.“

Enttäuscht wende ich mich zum Gehen. Geht man so mit Kunden um? Ich denke, eher nicht. Schade, jammerschade.