Weder Fisch noch Fleisch

Außerdem habe ich Bock auf Hühnchen, obwohl ich auch kurz über Rind nachgedacht habe.

Meine Nichte ist in der Stadt. Wir verabreden uns zu dritt, damit ich auch mal ihren Freund kennenlerne. Den Link fürs vietnamesische Lokal habe ich per WhatsApp geschickt. Seht her, soll das heißen, ich kann das schon. Ich bin The Digital Uncle, ein rüstiger Best Ager auf der Höhe der Zeit, ein flexibles Bindeglied zwischen Vorzeit und Moderne.

Sie leben beide vegan und arbeiten für verschiedene Geflüchtetenprojekte. Für mich ist das super interessant, weil ich sonst naturgemäß nur alte Asis kenne. In die ungewohnte Situation muss ich mich allerdings erst reinfuchsen, natürlich mit Augenmaß. Also ordere ich ein Gericht mit Huhn, denn man kann es auch übertreiben; eine Bestellung mit Tofu oder Seitan wäre zu unrealistisch. Sie würden mich durchschauen, und für meinen verlogenen Opportunismus verachten, und zwar völlig zu recht. Das würde ich an ihrer Stelle ebenfalls tun. Außerdem habe ich Bock auf Hühnchen, obwohl ich auch kurz über Rind nachgedacht habe.

Aber selbstverständlich will ich bei ihnen einen guten Eindruck machen. Das fällt mir bestimmt nicht schwer. Ich tue ja immer sehr viel Gutes, ich kann das nur nicht so ausdrücken. Und so rede ich, wie mir der graue Schnabel gewachsen ist, über „Flüchtlingsströme“, doch gleich darauf erinnere ich mich vage, dass man das zurzeit wohl eher nicht so sagt. Und sogar die Gründe bekomme ich noch halbwegs zusammen. Die oft verniedlichende Nachsilbe „-ling“ mache die Betroffenen klein und zu Opfern: So ist der Schmetterling ein Tier, das sich nicht selber helfen kann. Und „Ströme“ gilt, ähnlich wie der Begriff „Krise“, glaube ich – bitte kreuzigt oder verbessert mich anderweitig, falls ich das falsch wiedergebe –, deshalb als inkorrekt, weil es die flüchtenden Menschen verdinglicht, und von den Ursachen ablenkt, indem es eine Unvermeidlichkeit wie bei einer Plage oder Naturkatastrophe vortäuscht. Was dann wiederum negative Reaktionen in den Zielländern legitimiert.

Einiges daran kann ich theoretisch nachvollziehen, auch wenn ich zuweilen denke, man könnte ja statt der aufwändigen Wortakrobatik auch Geld spenden oder anderweitig helfen. Aber gut, ich hab sowieso keine Ahnung, wahrscheinlich wäre das auch wieder nur so ein billiger Ablasshandel derer, die sich nicht um sprachliche Sensibilität bemühen möchten. Und die Sprache bestimmt nun mal das Denken, das Denken das Handeln, das Handeln das Sein, und das Sein einen Job an der Uni. Früher mussten die Kinder sprechen lernen, heute sind es die Alten.

Unbedacht frage ich jetzt den jungen Mann, ob seine weiße Puscheljacke aus Schafsfell sei, weil ich offenbar immer noch genauso wenig schnalle, was „vegan“ überhaupt bedeutet, wie so ein fränkischer Landgastwirt, der seine Kartoffelsuppe als vegan anpreist, weil da „kein Fleisch“ drin ist, sondern nur Speck und allenfalls ein paar Wurststücke. Nicht Bildung oder Herkunft scheint der Hauptfaktor für diese Form von Ignoranz zu sein, sondern das Alter.

Ich bin quasi der notorische Nazi-Onkel, wie er in Feuilleton-Artikeln über klassische Familienfestkonstellationen gern als Pappkamerad dient, an dem sich die Jugend in Ambiguitätstoleranz oder konstruktiver Streitkultur üben kann – die Feier soll ja auch nicht eskalieren, schließlich ist die Oma schon so krank.

Doch keiner schreit mich an, schlägt mich oder verbessert mich auch nur. An meiner gerührten Dankbarkeit merke ich, wie groß meine Paranoia längst sein muss. Im Internet wird man ja für ungeschicktes Wording immer voll zur Sau gemacht. Aber zum Glück ist das hier nicht das Internet, sondern Real Life, auch wenn das sicher bald dasselbe sein wird.

Die Strafe

Tumbe Claqueure, die besoffen lachend jede Menschenfeindlichkeit durchwinken.

Es ist mal wieder einer dieser Tage. Ein junger Typ möchte im Anschluss an unseren Lesebühnenabend mit mir „über den Rassismus in deinem Text“ sprechen. Ich hatte meinen polnischen Urologen in der wörtlichen Rede das „R“ rollen lassen, mit dem für die Selbstleser nachgeschobenen Satz „Er rollt das R sehr schön dabei.“ Sonst keine falsche Grammatik, kein dilettantisch gefakter Akzent, nichts weiter. Ganz davon abgesehen, ist besagte Figur der klare Held in der Geschichte.

Aber egal. „Du, kann ich mal kurz mit dir reden?“, beginnt er draußen vor der Tür des Veranstaltungsorts mit dem bedauernden Unterton eines Kinderarztes, der seinem kleinen Patienten leider gleich ein bisschen weh tun muss. Nur zu seinem Besten, es hilft ja nichts.

Sofort ergebe ich mich in mein Schicksal. Ich weiß, dass ich keine Chance habe, ich kenne das schon. Rechtfertigung zwecklos, auch der Pflichtverteidiger plädiert auf die Höchststrafe. Gern würde ich mich locker herauswitzeln, „… aber die Autobahnen …“, doch mit Mehrdeutigkeit brauche ich dem nicht zu kommen, und mit Humor erst recht nicht. Wir könnten genauso gut von zwei verschiedenen Planeten stammen.

Als ich dennoch versuche, mich schäbig meiner Verantwortung zu entziehen, erstickt er routiniert meine White Tears: „Wenn da jetzt Nazis sitzen würden, könnten die das falsch verstehen.“ Wenn hier auch schon überall Nazis sitzen würden, hätten wir eh längst verloren. Das denke ich, sage aber stattdessen, „wir haben ein gutes Publikum, ich trau denen schon zu, irgendetwas abstrahieren zu können.“

Doch er weiß natürlich, dass das einzig gute Publikum im Raum er und seine Peers sind – die Anderen da drinnen sind eh alle doof, tumbe Claqueure, die besoffen lachend jede Menschenfeindlichkeit durchwinken wie Nero im Colosseum; solche Mitläufer sind im Grunde sogar die schlimmsten.

„Hm, ja“, sagt er, „trotzdem“, und „eigentlich meint das ja vor allem meine Freundin.“ Er zeigt nun auf die junge Frau hinter sich: „Die wollte dir das nämlich sagen.“

Sie sagt aber immer noch nichts, sondern mustert mich nur traurig, ernst und böse, als würde sie gerade ihren Nazi-Opa beerdigen, dabei kocht sie innerlich, doch auch im Einfamilienreihenhaus der Antifa herrscht offenbar noch Ordnung: Die Frau kocht und der Mann führt das Wort. Aber ich verstehe sie auch, es ist eine Sicherheitsmaßnahme, denn garantiert würde ich sie meinem Alter gemäß sonst auf der Stelle sexuell belästigen, ich muss das tun, es liegt praktisch in meiner verfaulten Natur, und das möchte man ja nun auch wieder nicht riskieren, dann sagt halt besser der Paul was, der ist ja auch ein Mann, wenngleich ein guter, falls so was überhaupt geht.

Allerdings ist er selbst kein Pole, denn sonst hätte er ja automatisch recht – ich kann keinem Betroffenen vorschreiben, wovon er sich getriggert fühlen darf und wovon nicht. Mit Betroffenen haben wir es so gut wie nie zu tun. Auch sind es komischerweise meistens Typen, die mich zurechtweisen. Junge weiße Männer können immer alles ganz genau erklären. Man sieht in ihnen schon deutlich die unangenehmsten Eigenschaften alter weißer Männer angelegt, zu denen sie eines Tages sowieso unweigerlich werden. Darauf freue ich mich schon – willkommen im Club!

Er hat jedenfalls getan, was er konnte. Zwar wartet er vergeblich auf ein starkes Zeichen meiner Einsicht wie zum Beispiel einen Brandt‘schen Kniefall oder eine zünftige Selbstverbrennung, doch bestimmt werde ich in Zukunft besser nachdenken, ehe ich die nächsten Faschosprüche raushaue. Dessen ist er sich sicher, so wie er sich in allem äußerst sicher ist.

Und so gehen die beiden wieder rüber, auf die Bank zu ihren Freunden und kiffen, und ich sehe wie stolz und zufrieden er ist; er hat Zivilcourage gezeigt, sein Abend ist vergoldet. Kein Fußbreit den Faschisten! Doch auch ich bin glücklich, denn das habe ich alles allein mit meiner Kunst erreicht, mehr kann ich mir als Autor nicht erhoffen. Nun blicken sie rüber zu mir und lachen – wie fröhlich sie sind, ach, ich liebe diese engagierten jungen Menschen! –, und ich geh wieder rein und hol mir noch ein Bier an der Bar.

Solche Diskussionen haben immer dazugehört, und sollen es gern auch weiterhin. Die Geschmäcker sind verschieden, und vielleicht bin ich ja wirklich ein Arsch – eine grundsätzliche Gefahr für unsere Show hatte ich in derlei Rezeptionsdynamik jedoch nie gesehen.

Doch mit der Zeit rückten die Einschläge näher, bis sie am Ende sogar das halbe Schiff versenkten. Eine Gruppe im Publikum störte sich eines Tages an ein oder zwei unserer Texte, die sich über gendergerechte Sprache mokierten. Doch statt, wie es üblich war und angemessen wäre, ein paar unfreundliche Worte an uns zu richten, uns den Finger zu zeigen, und danach nie wieder zu kommen, setzte sie alle Hebel in Bewegung, um uns, die Autoren, vom Veranstalter maßregeln zu lassen.

Das Urteil wurde gesprochen: Zur Strafe dürfen wir anstatt wöchentlich nur noch zweimal im Monat unsere patriarchal-rassistischen Nationalsottisen zum Vortrag bringen. Das nenne ich dann mal: mit Kanonen auf alte graue Spatzen schießen. Zwar stimme auch ich mit manchen Kollegen absolut nicht überein, aber letztlich haben wir auf der Bühne nicht den Holocaust geleugnet, sondern ein Boomer hat übers Gendern genölt, so what. Das ist doch fast schon seine naturgegebene Bestimmung; andernfalls hielte man ihn wohl für einen V-Mann.

Wahrscheinlich feierten sich die Beschwerdeführenden ab, als hätten sie sich mit „Nuhr im Ersten“ in die Luft gesprengt, und so die Welt zu einer des fein geleckten Wortes gemacht. Die Heldentat betraf aber leider nur ein paar Kleinkünstler, die vor zwanzig Leuten ihr Bühnenhobby pflegen, um hinterher mit zehn Euro in der Tasche nach Hause zu gehen. Und bereits auf diesem Level Meinungen das Podium zu verbieten, soll es ernsthaft bringen? Es kann nämlich durchaus sinnvoll sein, fragwürdige Protagonisten einzuhegen, um ihr Wirken in harmlosere Bahnen zu lenken. Ich sag nur „Hitler und die Wiener Kunstakademie“ – mehr sag ich gar nicht. Aber gut, Leute, macht doch einfach, was ihr wollt. Das wird ohnehin eure Welt, ihr müsst damit leben.

Nachtrag zu Ostern


Die ungläubig-angewiderten Blicke, die einen treffen, wenn man erklärt, dass einem der Besuch der Heiligen Messe wichtiger ist.

Endlich. Für dieses Jahr haben wir das Osterfest mal wieder überstanden. Doch wegen des Tanzverbots am Karfreitag kann ich mich noch immer nicht beruhigen. Denn ich tanze normalerweise jeden Tag – morgens, mittags, abends, nachts. Ein Tag ohne Tanz ist wie ein Hund ohne Schwanz. Wenn ich nicht tanzen kann, bin ich entsetzlich unausgeglichen. Dann kann es passieren, dass mir verstärkt zwischenmenschliche Fehler unterlaufen wie Ungeduld, Ungerechtigkeit oder spontanes Einkoten. Wer mich kennt, weiß: Der Tanz ist mein Lebenselixier.

Doch eine Minderheit gläubiger Christen hält die Mehrheit in spaßfreier Geiselhaft, und beeinflusst seit Jahr und Tag auf anachronistischste Weise die irdische Gesetzgebung, als hätten fundamentale Bundesayatollahs die Christliche Republik Deutschland ausgerufen.

Dabei ist Deutschland eigentlich ein säkulares Land. „Es gibt keine Staatskirche“, steht in Artikel 140 des Grundgesetzes. Aber scheiß auf die Verfassung, so lange Gläubige davon beleidigt werden könnten, dass in irgendeinem Tanzlokal noch Licht brennt.

Mein schwelender Zorn über diesen Rechtsbruch ist sicher auch der Grund, warum Tobias Haberl, bei der SZoffenbar zuständig für kulturkonservative Ansätze, für mich ein rotes Tuch ist. Ein Eigenleben innerhalb des Hauses ist ja typisch Feuilleton. Und wo sich die reaktionäre NZZ exotische Abweichler leistet, deren Wirken im Gegensatz zur sonstigen Blattlinie nicht vor Niedertracht strotzt, bietet analog die linksliberale SZ einen Flügelstürmer auf, der hier unermüdlich die rechte Seitenlinie beackert.

So einer ist Haberl. Der Autor der Maskulinistenfibel „Der gekränkte Mann“, bei deren Lektüre der Rezensent der FAZ das Bedürfnis verspürte, es „gegen die Wand zu hauen“, serviert uns pünktlich zum Gründonnerstag im SZ-Magazin die Frömmigkeitsgeschichte „Unter Heiden“, die sich großenteils damit befasst, wie ernsthaft und spirituell er selbst drauf ist, und wie behämmert, oberflächlich und verderbt im Vergleich alle anderen sind, die nicht an zweitausend Jahre alte Gespensterwesen glauben.

Mit ähnlich lautenden Worten muss ihn wohl mal irgendjemand provoziert haben. Nun zieht er gegen den altbösen Feind ordentlich vom Leder: „Ich meine die ungläubig-angewiderten Blicke, die einen treffen, wenn man erklärt, dass man am Sonntagvormittag leider nicht in dieses neue Café zum Frühstücken kommen kann, weil einem der Besuch der Heiligen Messe wichtiger ist.“

Die haben bestimmt einfach nur ganz normal geguckt. Aber wo die Unsicherheit gedeiht, treibt der Interpretationsdrang bunte Blüten: Der gekränkte Mann, der gekränkte Christ, die gekränkte Leberwurst – beim Lesen dudelt in meinem Kopf in Endlosschleife „By the Rivers of Mimimi“, frei nach Boney M. Meine Güte, ich wurde doch selber provoziert: Ich durfte nicht tanzen. Und trotzdem bleibe ich superfair und bewahre hier die absolute Ruhe.

Dasselbe denkt er vermutlich auch von sich: Ich werfe 50 Cent in den Opferstock, zünde eine Kerze an, bete, denke nach, betrachte eine Heiligenstatue, um dann wundersam erfrischt nach draußen zu treten, in den Verkehr und den Stress – was man halt so Freiheit nennt.“

Ja, klar, geilo Abgase und Krach, so kennt man ihn, den crazy Atheisten und seinen Freiheitsbegriff aus der Hölle; da geht ihm natürlich einer ab, wie einem Fünfzehnjährigen bei der Bühnenshow von Rammstein. Wie vollumfänglich manche Gläubige eine realistische Vorstellung vom Mindset Nichtgläubiger eingebüßt haben, hätte ich nicht für möglich gehalten.

Bereits früh im Text rutscht Haberl auf der vergammelten „Früher-war-alles-besser“-Bananenschale aus, gerät schwer ins Schlingern, und kommt danach nie mehr so recht ins Gleichgewicht: Erst dann fällt mir wieder ein, dass es für viele Menschen heute wenig Schlimmeres gibt als Stille, die Abwesenheit von Whatsapp- und Push-Nachrichten, weil dann Fragen auftauchen, deren Antwort sie nicht googeln können.“

Das will ich überprüfen. Also google ich „Ist Tobias Haberl blöd?“ und stoße schon an zweiter Stelle auf Florentin Schuhmachers erwähnte Besprechung von „Der gekränkte Mann“. Nach wenigen Zeilen verstehe ich immerhin, warum Haberl nicht möchte, dass die Leute googeln. Geht doch: kurze Frage, schnelle Antwort. Wie eine Push-Nachricht des Herrn.

Und weiter unkt, barmt, mahnt und heult es seitenlang in der immergleichen Melodie: Technologie, Satan, Instagram, Finstagram, buhu, schluchz …: „Viele Menschen strömen nicht mehr in die Kirchen, sondern in Apple-Stores, sie wollen keine frohe Botschaft, sie wollen das neue Smartphone.“

Die angebliche Unversöhnlichkeit von moderner Technik auf der einen, und tiefem, gottgegebenen Verständnis für das Leben auf der anderen Seite, ist das ständig wiederkehrende Hauptmotiv, ein ununterbrochenes, nervtötendes Hintergrundrauschen wie von einer sehr alten Autobahn. Computer sind doof. Wer Social Media nutzt, lügt. Früher war mehr Lametta.

Außerdem ist, wenig überraschend, Gott anscheinend rechts, und der Teufel links: „Da versucht man, ein guter Mensch zu sein – und, schwups, ist man ein fragwürdiger Rechtsausleger, und alles nur, weil man Barmherzigkeit und Nächsten­liebe schlüssiger findet als zur Schau gestellte Moral, weil man sich nicht permanent vor der Twitter-Gemeinde, sondern am jüngsten Tag vor seinem Schöpfer rechtfertigen will, der nicht nur die Timeline, sondern auch das Verborgene sieht.“

Ach ja, Twitter ist ebenfalls scheiße, wie sonst nur Onanie und freitäglicher Fleischverzehr. Die moralische Selbstüberhöhung des schreibenden Märtyrers geht einem extrem auf den Zeiger. Er ist ein Ausbund an menschlicher Reife und Achtsamkeit; hingegen sind die Ungläubigen dekadente, aufmerksamkeitstechnisch scheintote Clowns, in deren Kopf in einem fort nur bunter Wackelpudding blubbert. Oder noch kürzer: Ich: toll. Die anderen: doof. Das hätte als Analyse komplett gereicht, zugegeben, aber ich bin, sorry, jetzt doch ein bisschen ins Labern gekommen.

Zum Glück bin ich ja nicht der einzige, der sich hier andauernd wiederholt:„… weil ich weiß, wie leichtgläubig sie sonst sind, wenn man ihnen weismacht, dass ihr Glück in digitalen Tools liegt … blabla, rausch, brumm …dass unsere Fixierung auf Rationalität und Technologie eine schmerzliche Lücke aufweist, weil Google jede Frage beantworten kann – nur nicht, wozu wir leben und was uns Halt gibt.“

Gähn, schnarch, und schon wieder Google. Mit denen hat er es ja wirklich, als hätten sie den Heiland mit Google Cross gekreuzigt. Nun, Herr Haberl, versuchen Sie es doch mal mit einer anderen Suchmaschine. Vielleicht kommt dann das gewünschte Ergebnis, dass nämlich – lasst mich raten – der Herr Jesus für unsere Sünden gestorben ist. Seitdem kehrt er jedes Jahr in Hasengestalt zu uns zurück, und versteckt mit Likör gefüllte Eier im Garten. Was für ein Heidenspaß. Warum uns die Jünger des spendablen Nagers das Tanzen verbieten, ist mir allerdings nach wie vor schleierhaft.

Gasmuttering

Woher kommt das bloß, warum bin ich eigentlich so ein Arschloch?

Im Laden entdecke ich vor der Reihe mit den Kühlregalen, da, wo sich die Fischprodukte befinden, eine Person, die in Kürze einen schlimmen Fehler begehen wird. Dessen bin ich mir sicher. Sofort werde ich ziemlich fuchsig.

Ich postiere mich hinter ihr, leicht genervte Ungeduld ausstrahlend. Sie muss denken, dass ich genau an dieser Stelle auch ans Sortiment will, sie im Weg ist, und sich besser beeilen sollte. Wahrscheinlich deshalb lässt sie nach einem hastigen Griff ins Kühlregal die Schiebetür sperrangelweit offen.

Jetzt habe ich sie! Ich blicke sie, die sich im Weggehen etwas verunsichert nach mir umdreht, böse und traurig an. Atme dabei verächtlich aus. Geh nur, sage ich damit, gesellschaftskonformes Benehmen ist leider nicht Allen gegeben. Ich bin der personifizierte Vorwurf.

Sie nicht aus den Augen lassend, schiebe ich – peng! – mit ostentativem Schwung die Tür zum Kühlregal zu. Seufze dabei noch einmal, menschlich zutiefst enttäuscht. Irgendwer muss das ja machen, soll das heißen. Irgendjemand muss schließlich die Fehler der Asis ausbügeln, und die von den Rücksichtslosen hinterlassene, verbrannte Erde mühsam mit den Pflänzchen zivilisierten Verhaltens wieder aufforsten.

Denn wenn die Waren – und ganz besonders der Fisch! – zu warm werden, entstehen darin Gifte. Daran können Menschen sterben, Kinder, wehrlose unschuldige kleine Kinder. Aber das ist Leuten wie ihr ganz offensichtlich scheißegal.

Ich spüre, wie ich immer wütender werde, je länger ich darüber nachdenke: Die Alte hat doch einen Knall! Ist die im Iglu aufgewachsen? Die kann froh sein, wenn ich ihr nicht hinterherrenne, sie am Kragen packe, schüttle und anschreie. Hau bloß ab. Ja, du, genau du.

Tatsächlich wollte ich selber Fisch kaufen. So ein Zufall. Aber das kann sie ja gar nicht wissen. Sie hat einfach nur die Kühlung offen gelassen – meine Meinung. Andernfalls hätte sie sich zumindest vergewissern müssen, mich fragen oder so, ob ich da wirklich dran wollte. Das wäre nun mal ihre Bürgerpflicht gewesen. So zählt das nicht. Dumme Sau.

Ich kann jetzt natürlich nicht direkt vor ihren Augen die Tür wieder aufschieben, und mir die gewünschte Ware nehmen. Nicht, solange sie noch in der Nähe ist, und die Gefahr besteht, dass sie mich dabei sieht. Ich darf nicht unvorsichtig werden. Das nähme mir komplett den Triumph. Meine ganze Belehrungsarbeit wäre mit einem Schlag zunichte gemacht, und mein Ruf als altruistischer und verantwortungsvoller Ordnungsmensch ruiniert. Meine Einkaufsliste ist ohnehin noch länger. Dann komme ich eben nach ein paar Runden durch die anderen Regalreihen wieder.

Während ich im Nudelgang Zeit schinde, beruhige ich mich ein wenig. Man könnte sogar sagen, ich reflektiere meine Niedertracht: Ständig muss ich geradezu zwanghaft fremde Menschen für ihre angeblichen Fehler im Nörgelton zurechtweisen – eine Vorliebe, die ich als „Gasmuttering“ bezeichne, ein Mix aus Gaslighting und Muttering. Stets sollen andere Leute denken, dass sie irgendetwas falsch gemacht haben. Das macht mich dann immerhin ein kleines bisschen glücklich.

Woher kommt das bloß, warum bin ich eigentlich so ein Arschloch? Ich habe keine Ahnung. Es ist wie ein unaufhaltsamer Sog in ein schwarzes Loch hinein, das meine Seele ist. Derselbe dunkle Trieb, der einen nachts besoffen zu McDonald’s zieht, oder in anderweitige Eskapaden der bescheuerten Art hinein, wie sie in meiner Jugend, also bis etwa Mitte 40, fast die Regel waren. Da hat Mister Hyde den Dr. Jekyll aber manchmal so richtig gefickt. Im Vergleich dazu empfinde ich den Blockwart-Spleen noch als harmlos.

Nachtrag zum Volksentscheid

Einfach „Ja“ ankreuzen und der Klimawandel ist quasi gestoppt, zumindest berlinweit.

Alles wäre so easy gewesen. Nur ein kleiner Krakel auf einem unscheinbaren Zettel aus Recyclingpapier hätte das höllenartige Berliner Klima im Nu in ein mildes Orchideenparadies verwandelt. Im Sommer beständige 25 Grad bei Sonnenschein; nachts regnet es, aber erst, nachdem die Außenbereiche der Lokale geschlossen haben – kurz, eine Art Madeira für wohnungslose Folienraucher. Denn wortwörtlich heißt es im Text zum Volksentscheid über ein klimaneutrales Berlin ab 2020: „Mit der Gesetzesänderung werden im Wesentlichen folgende Regelungen getroffen: Verminderung der CO²-Emissionen bis zum Jahr 2025 um 70 % und bis zum Jahr 2030 um 95 % gegenüber 1990.“

Yesss! Also ich bin total dafür. Denn leichter geht’s ja wohl nicht: eine markante und zügige Verminderung des schädlichen Kohlendioxydausstoßes allein per entsprechender Verfügung. Mir ist schleierhaft, wie da noch irgendwer dagegen sein kann. Das ist doch eine einmalige Chance für uns alle: Einfach „Ja“ ankreuzen und der Klimawandel ist quasi gestoppt, zumindest berlinweit. Klimaneutral ohne Verzicht – das muss doch auch die Skeptiker und Leugner ansprechen. Schließlich sind deren Hauptsorge vor allem die Unannehmlichkeiten, die der Klimaschutz oder schon der bloße Protest dafür mit sich zu bringen droht: Fleischverzicht, Verbrennerverbot, Tempolimit, Klimakleber, Staus, you name it. Noch nicht einmal der zähnenirschende Weiterbetrieb der Atomkraftwerke wäre nötig. Stattdessen genügt ein schlichter Amtsbeschluss.

Auch mir, als Befürworter des Fortbestands der Menschheit, macht der Gedanke an Einschränkungen ja selbst keinen Spaß. Niemand möchte der notorische Buhmann sein, der sich ständig wie so ne Kindergärtnerin vor die Gruppe stellt und in die Hände klatscht: „Leute! Bitte! Ich sag das doch nicht, um euch zu ärgern! Aber wir können nicht raus auf den Spielplatz, bevor ihr alle vernünftig angezogen seid!“

Da muss die Möglichkeit, mit einem einzigen lässigen Federstrich die Emissionen derart zu verringern, selbst den Renitentesten doch eigentlich wie ein Rettungsanker aus purem Gold erscheinen. „Alles lässt sich irgendwie regeln“, lautet die neue Frohbotschaft, „mit der geänderten Berliner Landesverordnung zum Klimaschutz wird hiermit das Auftauen des Permafrostbodens gestoppt, sowie weitere Waldbrände in Australien untersagt. Bei Zuwiderhandlung droht eine Geldstrafe.“

Was für eine eindeutige Win-win-Situation, ein Elfmeter ohne Torwart, eine Erstbesteigung mit der Seilbahn, ein veganes Schnitzel aus echtem Kalbsfleisch. Kein Ächz-Schwitz-Lastenfahrrad oder Bibber-Schnatter-Schwimmbecken, sondern nur mal eben schnell einer bürokratischen Lösung zugestimmt: Stift, Papier, Kästchen, Kreuzchen, fertig. Das-ist-das-Haus-vom-Ni-ko-laus Lauda. Das tut doch wirklich niemandem weh, und es wäre so eine tolle Gelegenheit gewesen, mühelos die Wende zum Guten einzuleiten. Wie kann man die bloß so vergeigen? Wer macht so etwas, und warum? Woher kommt bloß dieser Hass und dieses Misstrauen gegen die Berliner Politik?

Ein weiterer Pluspunkt der genialen Berliner Methode liegt ja auch noch in ihrer Geschwindigkeit. Immerhin haben wir nicht mehr viel Zeit, bis uns sämtliche Gletscher in Tornadoform um die Ohren fliegen. Dass die Emissionen sich durch eine lapidare Regelung innerhalb von nur zwei Jahren um sage und schreibe 70 % senken lassen, ist doch ein Geschenk Gottes an die Stadt Berlin, beziehungsweise umgekehrt. Wer dieses Geschenk nicht annimmt, kann ja wohl nicht ganz bei Trost sein, denn mit aufwändigen praktischen Maßnahmen wie Umstellung auf erneuerbare Energien, E-Mobilität und energetischen Sanierungen würde das viel länger dauern als mit diesem so klugen wie schlanken Blatt Papier.

Auch ein, ohnehin besonders schwer zu erreichender, Mentalitätswandel in der Bevölkerung wäre damit fein vom Tisch. Per aspera ad acta. Die einen können beruhigt die Sau rauslassen, bei den anderen ist sie bereits draußen. Alles kein Problem, denn eine gesetzliche Vereinbarung würde von nun an für uns arbeiten, und an unserer Stelle die Umwelt und die Ressourcen schonen, während wir einfach weitermachen wie bisher. Abstimmungszettel in die Urne, und anschließend sofort mit der doppelten Freude des guten Gewissens weiterrasen, weiterdüsen, weiterheizen, weiterfressen. Und weiterstrahlen, denn Atomkraft gehört in der öffentlichen Wahrnehmung inzwischen auch fast schon wieder zu den Guten.

Ab mit dem härenen Büßergewand in die Altkleidersammlung! Unseren Enkeln auf dem Schoß werden wir Geschichten von traulich knisternden Uranbrennstäben erzählen; ein lieber Bär namens Wissing wacht des Nachts, beständig brummend wie eine Autobahn, über ihren Schlaf; zum Nachtisch gibt es noch mehr Fleischwurst, liebe Kinder. Alles hätte so schön bleiben können, wie es war, plus CO²-Neutralität für umme.

Doch zu spät – die Chance ist vertan. Das Volk hat entschieden, und es hat scheiße entschieden. Anscheinend wollen die einen gar keine Klimarettung, und die anderen nur auf die harte Askesetour – Neandertaler versus Masochisten. Das können sie natürlich beides haben. Aber schade ist es schon. Es wäre so einfach gewesen, jeder nur ein Kreuz.