Turnmutter Ulimann

Auf dem fruchtbaren Humus von körperlichem Abbau.

„Muskelaffen“, brummle ich feindselig, als ich in der Hasenheide an einer der Turnstationen vorbeikomme, die sie dort vor einer Weile aufgestellt haben. Es sind nicht mehr diese Nachbauten historischer Holzgeräte, mit denen sie früher auch mal den deutschnationalen Turnvater Friedrich Jahn abgefeiert haben, der hier Anfang des 19. Jahrhunderts seinen ersten Turnplatz für die kriegsbegeisterte Jugend errichtet hatte, sondern brandneue aus Stahl auf Beton. Drei verschiedene Anlagen erinnern in Zweck und Gestalt an die Features, die man in Zoos als sogenanntes „Environmental enrichment“ den Menschenaffen baut, damit die beschäftigt sind, und nicht in Apathie verblöden.

An den Einrichtungen stählt sich der Nachwuchs nun nicht mehr für den Befreiungskampf gegen den Franzmann, sondern für die Schlacht von Tindern, was nicht in Belgien liegt. Stechend riecht es nach ausgelaufenem Testosteron. Denn jetzt stehen da immer solche Kraftmännchen herum und präsentieren ihre tollen Bodies.

Hello Hautkrebs, my old friend …“ In der Herbstsonne protzen sie mit ihren nackten Oberkörpern, wenn sie nicht gerade mithilfe irgendeines Klimmzuggerüsts daran arbeiten, noch geiler zu werden. In fachmännischen Choreografien, die freilich wie zufällig wirken sollen, recken sie ihre dicken Ärmchen in die Höhe und lassen ihre Muckis spielen. Manche machen dabei Gesichter wie Goldfische und im Kopf dahinter dürfte es auch nicht besser aussehen. Ich glaube, wenn ich mich selbst derart geil fände, würde ich gar nicht mehr aus dem Bett kommen mit mir.

„Muskelaffen.“ Keuchend wie eine Dampflok der Schweizer Bergbahn schnaufe ich an den Leibesübenden vorüber. In meiner Laufrunde passiere ich nämlich reihum sämtliche Turnplätze. Das geht nur noch reichlich schleppend, weshalb ich manchmal den leisen Verdacht hege, dass ich schlicht neidisch auf die Posemuckel bin. Auch weil ich selbst mittlerweile eher die Konsistenz von Sponge Bob habe. Oft bin ich nach wenigen Metern schon derart erschöpft, dass ich aufgebe, und den Rest der Strecke spazieren gehe.

Warum gibt es analog zu den Paralympics eigentlich keine eigene Klasse für die Untrainierten? Die Suckolympics oder so. Das heißt die, die sofort schlappmachen messen sich mit denjenigen, die immer den Turnbeutel vergessen, die sich jede Woche wegen Menstruationsbeschwerden abmelden und denen, die sich während des Dauerlaufs hinter der Sporthalle im Busch verstecken und rauchen.

Auch eine allgemeine Grumpyness mag eine Rolle für mein übellauniges Geningel spielen. Besagte Grundgrumpiertheit konnte im Verlauf der Jahre auf dem fruchtbaren Humus von körperlichem Abbau, seelisch-moralischer Verkrustung sowie allgemeinem Niedergang die wunderbarsten Sumpfblüten der Arschlochhaftigkeit entwickeln. Oft zische ich bloß noch „geh weg!“, wenn mir irgendwo jemand im Weg herumsteht, aber nicht zu laut, weil ich obendrein jeden Tag feiger und konfliktunfähiger werde.

Frauen finden sich übrigens ebenfalls an den Turnstationen, aber komischerweise meist an denen, die schön im Schatten liegen, und wo keine Männer zugange sind. Keine Ahnung, woran das liegen mag. Wenn ich eine Frau wäre, würde ich doch, also natürlich erst, nachdem ich mir was schönes gekocht, gehäkelt, alles sauber gemacht, die Kinder betreut, ein Sektchen getrunken und am Telefon mit den Freundinnen geklönt hätte … also, wenn ich eine Frau wäre, würde ich doch schnurstracks in den Park wetzen, und mir die nackten Angeber zu Gemüte führen. So kann ich mir wie auf dem Fischmarkt die leckersten Exemplare auswählen – „komm jetzt“ –, und dann zuhause mit reichlich Butter in die Bettpfanne hauen. So stell ich mir das jedenfalls vor.

Aber wie man sieht, tun sie das gar nicht. Komisch. So ungewöhnlich das ist, aber es scheint fast so, als ob da irgendwo ein Denkfehler meinerseits vorläge. Doch wo der jetzt genau sein soll, bin ich weiter voll am Suchen.

Der letzte Tag

Nur an diesem Tag wirken Stadt und Leute stets so fremdartig blankgeputzt und aufgeräumt.

Marathon vorbei, alles vorbei. Und auch heuer war es wieder dieser eine seltsame Tag des Jahres, an dem Berlin ein freundliches Gesicht zeigt. Wie fast immer Ende September bei schönem, klaren Wetter und angenehm moderaten Temperaturen. Fast 60.000 Läuferinnen und Läufer aus 161 Ländern, fröhliche Menschen aus der ganzen Welt.

Nur an diesem besonderen Tag wirken Stadt und Leute stets so fremdartig blankgeputzt und aufgeräumt. Die Massen lächeln vom Straßenrand aus wie besoffen den ebenfalls lächelnden Laufenden zu und feuern sie an. Es ist, als wolle Berlin noch einmal sagen, „seht, so könnte ich theoretisch auch sein“, ehe es von diesem einzigartigen Höhepunkt aus am nächsten Tag wieder für lange Zeit in den gewohnten Abgrund aus Kälte und schwärzester Nacht hineinkippt, den Herbst, die Bitterkeit, die Wut, den Fatalismus, Schnauze mit Schmerz. Morgen sind sie dann alle wieder wirklich besoffen. Dafür lächelt keiner mehr, und wenn umgekehrt jemand angelächelt werden sollte, von einem leichtsinnigen Fremden, der sich nicht auskennt, fauchen sie zurück: „Was grinst du so dämlich?“ Es ist Winter in Berlin.

Erst im folgenden Mai geht es langsam wieder aufwärts, doch der heilige Ausreißer in einer schier endlosen Ansammlung relativ trüber Stunden bleibt der Tag des Marathonlaufs.

Im Grunde ist das eins zu eins wie die berühmte Geschichte von dem Löwen und dem Lämmchen, aus, was weiß ich, der Bibel oder so. Weil der Löwe ist normalerweise immer komplett scheiße, jeden Tag, und brettert dem Lämmchen so – wämm! – in die Fresse, und am nächsten Tag gleich wieder: wämm! Und zwar volle Pulle.

Das Lämmchen hat sich dann schon irgendwann drauf eingestellt, Verbandskasten und Schmerztabletten immer parat, bisschen Sarkasmus auch antrainiert auf so ne resignierte Art – Anzeige hat eh keinen Zweck, das reicht den Bullen irgendwie nie, kein Wunder, die sind ja auch selbst alle Leoparden und Wölfe und so –, aber dann kommt der Marathon der Tiere und voll das schöne Wetter. Ende September, stabiles Hoch, achtzehn Grad Celsius. Und der Löwe ist auf einmal superfreundlich, lächelt das Lamm an, und tut so als wäre nie was gewesen. Er zeigt sich von der besten Seite. Selbst läuft er nicht mit wegen Knie und Rücken und so. Aber er hat eine kleine Trommel, und jedes Mal, wenn ein Lamm mit Startnummer und Turnhose vorüberrennt, trommelt er und brüllt aufmunternd.

Das Lämmchen traut dem Braten nicht, natürlich, weil am nächsten Tag beginnt der Winter. Und dann kriegt es vom Löwen wieder in die Fresse, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche, das weiß es schon: Wämm!

Nächstes Jahr findet der Marathonlauf übrigens eine Woche früher statt, wegen der Bundestagswahlen am darauffolgenden Wochenende. Die Diskrepanz wird umso größer sein, denn je nachdem, wie die Wahl ausgeht, ist der Marathonsonntag dann nicht wie bisher immer, nur der letzte strahlende Festtag des jeweiligen Jahres, sondern der letzte gute Tag überhaupt.

Wenn der Lauf nicht sowieso gecancelt wird, wegen der bunten Farben, der guten Stimmung und der vielen Ausländer, werden keine Leute mehr aus 161 Ländern kommen. Nur wenige werden am Straßenrand stehen, und dabei gegen die GEZ-Gebühren protestieren, obwohl die längst abgeschafft sind. Das Fernsehen zeigt entsprechend keine Bilder. Niemand lächelt, wenn die paar Läufer aus Deutschland, Österreich-Ungarn, Russland und Nordkorea mit verbissenen Gesichtern vorbeilaufen. Läuferinnen gibt es nicht, wegen der Gefahr plötzlicher Gebärmutterabsenkungen. Denn die können wir im Namen der Zukunft unseres Landes keinesfalls riskieren.

Der Zug der Zeit

Der erste Schultag.

Jeder Mensch kennt die entscheidenden Kipppunkte, an denen man von einer Lebensphase unumkehrbar in die nächste gelangt. Nach Erreichen dieser Wegmarken ist dann praktisch nichts mehr wie zuvor – man ist endgültig eine andere Person geworden innerhalb der eigenen: Die Abnabelung, der erste Zahn, das Seepferdchen, der erste Schultag, die erste Menstruation, die erste Liebe, das erste Bügelbrett, die Midlifecrisis, der erste Rollator und am Ende auch der Tod.

Man rutscht von der Kindheit in die Pubertät, oder vom Erwachsensein ins Alter. Gerade war man noch hier, plötzlich ist man drüben. Das geht mir durch den Kopf, als ich mich im Auto zum ersten mal in meinem Leben sagen höre: „Ich mach mal auf meiner Seite das Fenster zu, das zieht dann nicht so.“

Aha, denke ich im nächsten Moment mehr ernüchtert als erschrocken: In dem Alter bin ich jetzt also, in dem es ständig überall zieht, und man schreckliche Angst davor hat, denn das könnte jederzeit eine finale Lungenentzündung bedeuten. Dass diese eigentlich durch Bakterien hervorgerufen wird, kümmert uns nicht. Wissenschaft hat uns noch nie interessiert. Es ist ausschließlich der tückische Luftzug an sich, der in etwa so direkt tötet, wie ein Tiger, der mich aus dem Busch anspringt. Und zwar fahrlässig bis absichtlich herbeigeführt von rücksichtslosen Jugendlichen, kaum 58jährigen flatterhaften Wesen aus einer unbeschwerten Welt, der man bis eben noch selbst angehörte, ehe man den Mund öffnete und die verhängnisvollen Worte sprach, „es zieht“.

Der passiv-aggressive Stil meiner Klage bleibt mir dabei selbst nicht verborgen. Der scheint zu diesem Reifungsschritt immanent dazuzugehören. Denn „kannst du bitte das Fenster schließen, es zieht mir hier zu sehr“, wäre in der Kommunikation viel zu geradeheraus. Das muss zwingend in einem leicht beleidigten Unterton passieren, wie man ihn von alten Leuten in dieser Situation gewohnt ist. Warum das so ist, weiß ich nicht, aber ich mache es automatisch richtig: „Ich schließe besser mal das Fenster“, hach, immer muss ich alles selber machen, falls ich nicht auf der Stelle sterben will; euch ist das ja leider offensichtlich komplett wumpe. Charaktertest nicht bestanden, im Grunde müsste man die Polizei rufen …

Der schlimme Zug hat die Schleusen der Beschwerden und Beschwerdefreudigkeit geöffnet. Im Ruheabteil des ICE werde ich fortan loszetern, sobald ein Reisender nur den Mund aufmacht. In Clubs und auf Konzerten werde ich darauf dringen, die Musik leiser zu stellen – „leiser, Minelli, höhö“, werde ich das in altersgerechte Wortspiele kleiden. Bald ist es mir permanent zu hell, zu laut, alles riecht und schmeckt zu ungewohnt – „nein, davon bekomme ich Bauchgrimmen.“ Ich gebe nur deshalb das Rauchen auf, um das Näschen schmerzensreich kräuseln und affig mit der Hand wedeln zu können, sobald in meiner Nähe, und sei es an der frischen Luft, jemand eine Zigarette anzündet. Meine Lieblingswörter werden sein „nein“ und „nicht“, mein Lieblingssatz, „das ist hier verboten.“ Und vor allem: Es zieht wie Hechtsuppe!

Kann man das bitte noch mal zurückdrehen? In diesem jahrzehntelangen Endkampf zwischen Angsthase, liebenswürdigem Greis und bemitleidenswertem Dauernörgler will ich mich noch nicht sehen. Aber man kann sich das nicht aussuchen, so wenig wie das Schwinden der Sehstärke, das Nachlassen der Körperkraft, ja noch nicht mal das panzerartige Verhärten der eigenen Ansichten. Ich bin irreversibel auf der anderen Seite gelandet, im nervigen Lande Mimimi, dem dunklen Reich des ewigen Luftstroms, da, wo es immer zieht.

New York, New Cologne

Im East Village ist es, als ob man durch Neukölln latscht.

Zu Besuch in Berlins großer Schwesterstadt, bewundert und beneidet von dem kleinen Gör. Obwohl New York doch im Grunde wie Berlin ist, eins zu eins, vielleicht sogar zwei zu zwei. Im East Village oder in Williamsburg ist es, als ob man durch Neukölln oder Friedrichshain latscht. Überall die gleichen niedlichen Kaffeeläden, die gleiche Beschriftung – “Coffee & Breakfast“, „Happy Hour“ (wenn ein Bier fünf statt zehn Dollar kostet, also eher „Less Unhappy Hour“) – in der gleichen Sprache, und selbst die gleichen Leute: jung, urban, lässiger Chic. Urlaub machen, wo andere wohnen.

Deshalb also kommen so viele New Yorker nach Berlin. Es ist wie zu Hause, nur billiger. Dabei würde das Wort „Frühstück“ mit seinen exotischen Umlauten ein viel typischeres Fotomotiv ergeben, mit dem man daheim auch besser angeben könnte. Man will ja zeigen, wie weit man es in die Welt hinaus geschafft hat.

Umgekehrt wimmelt es in New York von Berliner Touristen, und zwar vor allem Leuten wie uns, all diesen Günthers und Giselas, lebensfroh, rüstig und innerlich wie äußerlich doch schon leicht patiniert, auf dem klassischen Günther-und-Gisela-Trail: Katz’s Delicatessen, Brooklyn Bridge, MoMA, und ab ins Bettchen.

Ach nee, vorher noch unbedingt zur „Amateur Night“ ins Apollo. Das traditionsreiche afroamerikanische Theater in Harlem ist ein echter Geheimtipp. Und wem begegnen wir an der Theaterbar? Geheimtipp-Günther und Geheimtipp-Gisela aus Schöneberg. Und Petra und Klaus aus Steglitz. „Na, und ihr so? – „Achtung, die M-Line fährt abends als Express.“ – „Alles ganz schön teuer hier.“ Die Einheimischen nehmen es mit bewundernswerter Fassung. Zum Glück tragen wir alle keine Pickelhauben mehr, sonst hätte man echt Probleme mit dem Blick auf die Bühne.

Die Fußgängerzone von New York suchen wir bis zuletzt vergeblich. Die gibt es offenbar nicht, ganz schön provinziell. Und enttäuschend, auch weil man deshalb gar nicht weiß, wo jetzt von dieser Stadt genau die Mitte ist, beziehungsweise C & A. Die Orientierung ist eh schon schwer genug, noch dazu in meinem schwierigen Alter: So benutze ich einerseits einen zerfledderten U-Bahnplan aus Papier, den ich jedoch ständig mit Google Maps abgleiche. Dumpf prallt in mir Archaik auf Moderne.

Erschreckend finde ich, dass wir wie Pfälzer Touristen in Berlin in New York immerzu auf dem Radweg rumstehen. Die Leute klingeln und fluchen. Da sehen wir endlich auch mal, wie das ist. Ich hätte schwören können, dass ich so dumm niemals sein würde, aber offensichtlich verblödet man mit der Touristenwerdung automatisch auf der Stelle zu Stein. Das wird uns Demut lehren. Zurück in Berlin werden wir fortan jeden dieser nervigen Poller aus Fleisch, Hütchen und Selfie-Stick nur noch mit den Samthandschuhen der Versöhnung anfassen.

Für einen angenehmen Rückflug haben wir uns Cannabis-Weingummis der Marke „Camino“ besorgt. Die gibt es in New York an jeder Ecke, und selbst wer mit Kiffen überhaupt nichts anfangen kann, dürfte diesem milden Halbrausch etwas abgewinnen. Behaglich schnurrend schaue ich mir einen Film an, trinke noch zwei Biere, und nicke anschließend ein bisschen weg. Das Flugzeug muss notwassern, irgendwo im nächtlichen, eiskalten Nordatlantik. Verzweifelt puste ich zwischen Eisbären und Grönlandhaien in die Pfeife an meiner Schwimmweste – die Behaglichkeit frisst ihre Kinder. Beim Erwachen bin ich nicht unglücklich darüber, dass ich weiterhin warm in meiner Mittelreihe sitze. Grad war es draußen noch dunkel, jetzt ist es schon wieder hell. In anderthalb Stunden hat Berlin uns wieder, das echte.

Kurz vor Wannsee

Schließlich hat der Kaiser ihnen die Eisenbahn gebaut …

Die älteren Sitzplatznachbarn im Regionalzug unterhalten sich über ihre Zeitungslektüre. Anfangs höre ich nicht richtig zu; der Mann sagt „Kamerun“ und „1914“, „Bundesregierung“ und „Deutschland“ und ich spitze erst so richtig die Öhrchen, als er sagt: „Wir Deutschen sind doch mal wieder die Gutmenschen der Welt.“

Dann gehörst du wohl nicht dazu, denke ich, und seine Begleiterin bemerkt, das klinge ja fast beleidigend. „Das ist auch so gemeint“, stimmt er zu, hörbar stolz darauf, dass sein Subtext verstanden wurde.

Ich weiß ich nicht genau, worum es geht, vermute aber aus dem Kontext, dass sich die Bundesregierung als Rechtsnachfolgerin der kaiserlichen Völkermörder nach über hundert Jahren endlich mal zu einer Art lauwarmen Entschuldigung durchgerungen hat: „Sorry, Leute, wegen Sklaverei und Genozid und Raubkunst und so, das war schon irgendwie voll doof, und wird zumindest in dieser Form wahrscheinlich auch nicht wieder vorkommen.“ Dem Herrn neben mir ist selbst das bereits zu viel.

Was will er denn, der Afrikaner?, denkt er bestimmt. Wir haben ihm doch die Grippe und das Schießgewehr gebracht, ihn Disziplin gelehrt und auch den rechten Glauben. Das haben wir natürlich in Rechnung gestellt: Erst Kautschuk, Elfenbein und später seltene Erden, ohne die wir nicht auf X herumkrakeelen könnten. Auch diese Regionalbahn würde nicht mehr fahren, und ob sein Herzschrittmacher mit Braunkohle aus der Lausitz liefe, ist ebenfalls die Frage. Dafür haben wir überall in Afrika geile Grenzen gezogen – die hätten ohne uns gar nicht gewusst, dass sie die überhaupt brauchen, und wo ein Land jeweils zu Ende ist. Also wäscht eine Hand die andere, bevor sie sie abhackt. Alles gut.

Aber nein, offenbar gar nicht gut, denn nun schwingen die da oben fromme Festtagsreden, während der deutsche Michel darbt. So kostet der High Protein Vanillepudding bei Lidl jetzt schon 89 Cent, es ist eine Frechheit, die Ampel, der Habeck, die Inflation, wir haben ja selber nüscht, und aus Afrika türmen immer mehr Undankbare zu uns, obwohl wir jahrelang dafür gesorgt haben, dass sie es dort so richtig schön haben. In Togo blickt man noch heute in die leuchtenden Augen alter Menschen, wenn man sie auf deutsch anspricht, der Sprache der historischen Wohltäter. Schließlich hat der Kaiser ihnen die Eisenbahn gebaut, unter der unwesentlichen Mithilfe sicher exzellent bezahlter einheimischer Arbeiter. Die funktioniert natürlich nicht mehr; wenn man nicht alles selber macht …

„Alles was recht ist“, sagt der Alte, wie um nicht nichts zu sagen, was ihm aber nicht gelingt. Er schaut aus dem Fenster nach draußen, ich folge seinem Blick. Dort steht ein Reh im Dunst, und noch ein Reh und noch eins. Drei Rehe also. Die haben es gut, denke ich, die sind an der frischen Luft.

„Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“, bemüht der Mann nunmehr ein Zitat, das man eigentlich eher als ironische Spitze von Links gegen Rechts kennt. Hier jedoch umgekehrt, denn längst kapern die Rechten vom Freiheitsbegriff über Wortwahl und Style bis hin zum zivilen Ungehorsam alles, was mal im weiteren Sinne links codiert war, drehen es durch den Wolf, kacken einmal drauf und präsentieren es anschließend stolz als ihres.

Auf einmal wünsche ich mir nichts sehnlicher, als dass dieser Zug entgleisen möge, um dem Regionalgelaber neben mir abrupt den Dampf abzudrehen. Das würde zwar viele Unschuldige mit in den Tod reißen, unter anderem mich selbst, doch den Kollateralschaden nähme ich für eine bessere Welt liebend gern in Kauf. Der Zug hält nun in Wannsee. Da war doch auch mal irgendwas?