Bedarfshalt

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Wir sitzen in einem dieser bunten kleinen Nahverkehrszüge jener Bahngesellschaften, die die entlegensten Bahnstrecken Deutschlands mit viel Herz und Engagement aber irgendwie auch mit dem Mute der Verzweiflung betreiben. Die Gesellschaften tragen putzige Namen wie Metronom, Meridian oder der berühmte Parmesan, der von Parchim über Meckerow nach Saßnitz fährt. Was all diese Bahnen eint, sind die Kaffees für 90 Cent, die an Mussolini gemahnenden bunten Fantasieuniformen der Zugbegleiter, die großen Panoramafenster und die stets besonders schöne und besonders einsame Landschaft, die hinter diesen Fenstern an einem vorüberzieht.

Gemeinsam haben diese eingleisigen und nicht elektrifizierten Nebenstrecken vor allem aber auch die Existenz von Bedarfshaltestellen. Der sogenannte „Bedarfshalt“ kennzeichnet eine Ortschaft, an deren hundehüttenartigem Regenunterstand nur auf einen per Knopfdruck vom anfahrenden Zug aus geäußerten, ausdrücklichen Haltewunsch hin gehalten wird.

Das Vorhandensein eines Bedarfshalts der Nebenbahn kennzeichnet die unterste Kaste der Ortschaften. Hier gibt es statt einem hauptamtlichen Bürgermeister nur einen ehrenamtlichen Ortsvorsteher, der gewählt wurde, weil er große Teile des Alphabets beherrscht, und statt einem Arzt nur einen Medizinmann.

Die Kreisstädte solcher Orte haben ein Kfz-Kürzel mit mindestens vier Buchstaben. Oft ist das Kennzeichen länger als der Name der Stadt selber. Nicht selten wurde diesen Städten das Stadtrecht unehrenhaft aberkannt, das Krankenhaus geschlossen, das einzige Gymnasium im Kreis geschleift und die Brillenträger unter Schimpf zum Tor hinausgetrieben. Nur der Friedhof und die Bezirksnervenheilanstalt erleben ein letzte Blüte.

Und das sind immerhin noch die Kreisstädte. Die von dort zu den Bedarfshalten führenden Straßen verkommen zu Feldwegen, bis eines Tages nur noch der Wind über einen kaum mehr wahrnehmbaren Trampelpfad hinwegpfeift, der zwischen Sumpf, Urwald und dem vor vierzig Jahren havarierten Atomkraftwerk hindurchführt. So bleibt der Schienenstrang die letzte Verbindung zur Zivilisation. Doch wie lange noch?

Wer hier aussteigen möchte, kennt das traurige Szenario. Sofern man sich nicht durch seine ledrige Haut, den stumpfen Blick und eine Plastiktüte als einziges Gepäckstück als Bedarfshaltnutzer verrät, sind die Mitfahrer zunächst durchaus noch freundlich. Man fragt dich aufgeschlossen und neugierig, woher du kommst. Du antwortest zum Beispiel, aus Kleinwinzenhausen an der Pissbach, und sie fragen, aha, das kenn ich gar nicht, also bei welcher größeren Stadt das denn wohl liege? Und du sagst, also, ehrlich gesagt ist da gar keine Stadt in der Nähe. Die Leute sind trotzdem immer noch höflich und wollen wissen, ob du wenigstens andeuten kannst, in welcher Himmelsrichtung deine Heimat liegt. Südöstlich von hier, sagst du dann, direkt an dieser Bahnstrecke. Oho, merken sie auf, also wie hieß das Dorf nochmal: Kleinwinzenhausen? Komisch, nie gehört, da hält doch der Zug gar nicht?

Solchermaßen in die Enge getrieben, sagst du schließlich leise, „es ist nur ein Bedarfshalt“, und bereust deine Ehrlichkeit schon im nächsten Moment, als du siehst wie die Maske der Freundlichkeit von deinem Gegenüber abfällt wie falsch angerührter Putz. Sie prallen richtiggehend zurück, als hättest du ihnen gerade von deiner feuchten Lepra erzählt und dabei einen Hustenanfall bekommen, bei dem auch Teile von Zunge und Lippen durch den Großraumwagen fliegen.

Jetzt ist es jedenfalls raus. Alle im Waggon starren dich an. Es ist so eine entsetzliche Demütigung – man fühlt sich schuldig, ohne es zu sein. Fast wünscht man sich einen Schleudersitz als Ganzdringendbedarfshalt, bloß weg hier, so schnell wie möglich. Die Mitreisenden tuscheln und lachen, doch ihr Lachen ist nicht fröhlich, sondern voller Verachtung. Du drückst den Knopf, obwohl dein Bedarfshalt noch gar nicht kommt. Bei der nächsten Gelegenheit steigst du aus.

So also steigt man aus, doch wir fragen uns natürlich auch, ob und wie man an einem Bedarfshalt zusteigen kann: durch Telepathie? Oder stellen die sich an den Bahnsteigrand und winken den Zug wie ein Taxi heran? Das muss ja schiefgehen, und längst nicht alles, was wie Selbstmord aussieht, ist auch einer. Einen Halteknopf wie hier im Zug gibt es auf dem „Bahnhof“ garantiert nicht. Wie sollte das denn funktionieren?

Folglich steigt an den Bedarfshalten niemand zu, es sei denn, er ist zufällig zugegen, wenn mal jemand aussteigt. Genau das ist aber auch die Chance für die vergessenen Orte. Schließlich gibt es ja auch keine Straße mehr, auf der man abhauen kann, und da mehr Leute aus- als zusteigen, werden sie mit der Zeit langsam wieder wachsen. Das dauert natürlich, denn viele Neuankömmlinge verlieren ihr Leben. Durch Kälte, Hunger oder die Pfeile und Brandsätze der feindseligen Eingeborenen. Einige hängen auch von Anfang an tot über dem Zaun.