Mein System

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Schon wieder habe ich mich bei der Wahl der Kassenschlange verpokert. „Meine“ Kassiererin ist unendlich langsam. Um mich zu beschäftigen und auch warmzuhalten, vertreibe ich mir die Wartezeit mit gymnastischen Übungen. Dehnen, Strecken, Kniebeugen. Das tut gut, ich bin ihr dankbar für das unverhoffte Fitnessprogramm.

Nein. Quatsch. Natürlich bin ich ihr nicht dankbar. Ich will ihr, untermalt auch von künstlich ausgestoßenen Schnarchlauten damit demonstrieren, was ich von ihrer Leistung halte. Nichts.

Und da es danach immer noch nich schneller geht, ziehe ich den größten Trumpf in unserem Nervenkrieg: Ich pflücke mir den eben geleerten Warenkorb wieder vom Stapel, nehme meine Einkäufe wortlos vom Band und packe sie hinein, um damit zur Nachbarkasse zu gehen, wo ich sie dann erneut aufs Band lege.

Was für eine schallende Ohrfeige für die Schnarchschnecke! Wenn ich ihr auf diese Weise ihr Versagen aufzeige, kann es sehr gut sein, dass sie daran komplett zerbricht. Mit einem einfachen Winkelzug hätte ich sie beruflich und seelisch ausgelöscht. Das ist mir schon klar. Deshalb veranstalte ich den Zirkus ja auch.

Ich finde, mit so etwas muss sie als Profi fertigwerden. Und irgendwie will ich ihr mit meiner Rosskur ja auch helfen. So wie aus dem zerstörten Nazi-Deutschland nach dem Krieg etwas völlig Neues entstand (wenigstens konnte man das bis zu den Landtagswahlen am 13.03.2016 denken), kann auch sie sich aus der Asche ihres Zusammenbruchs erheben und künftig angemessen arbeiten.

Natürlich bemerken alle meinen Straffeldzug. Die Angestellten, die Kunden. Als ich an der „neuen“ Kasse schon fast dran bin, fällt ihnen auf, dass ich mich kurz zur „alten“ umdrehe. „Gucken Sie, ob es hier schneller geht?“, fragt die aktuelle Kassiererin. Sie lacht. Die Umstehenden lachen ebenfalls, so dass ich mich selbst zu einem schmalen Lächeln genötigt sehe, um der Einfachheit halber eine Gemeinsamkeit mit den Idioten vorzutäuschen, die nicht im Ansatz exisitiert.

Nein“, sage ich. „Ich kontrolliere das doch nicht nach.“

Das behaupte ich jedoch nur, um lässig zu wirken, und aus demselben Grund schlenkere ich dabei auch meine Gliedmaßen auf eine Weise von mir, die sie für groovy halten sollen. Ich bin aber nicht lässig. Denn erstens ist lässig sowieso die schwachsinnige kleine Schwester von scheiße. Und zweitens ist jede Lässigkeit angesichts solch fataler Nachlässigkeit vollkommen fehl am Platz. Natürlich registriere ich diejenige Person, die an meiner ehemaligen Kasse in der Position direkt vor mir stand. Das würde jeder Mensch tun, der auch nur halbwegs bei Sinnen ist.

Frau mit blauem Mantel und kleinem Mädchen an Kasse 3, merke ich mir. Und dann stoppe ich die Zeit auf meiner ganz speziellen Kassenuhr, einer billigen Digitaluhr mit Stoppuhrfunktion, die ich immer eigens zum Einkaufen anlege.

Komme ich gleichzeitig mit oder gar vor der Frau mit dem blauen Mantel dran, habe ich ohnehin gewonnen. Andernfalls wird es schwieriger, denn die nächste Person nach der Frau mit dem blauen Mantel wäre ja praktisch ich, wenn ich dort geblieben wäre, anstatt an Kasse 2 zu wechseln. Wird nun mein Platzhalter vor mir abkassiert, habe ich mich möglicherweise verzockt. Um das wiederum genau festzustellen, muss ich die Waren jener anderen Person mit bestimmten Faktoren versehen, die ich in die Zeitmessung einfließen lasse. Schließlich ist der Einkauf der Vergleichsperson ja nicht mit meinem identisch. Ich habe das ausgeklügelte System in langen Jahren perfektioniert.

Das Ergebnis ist am Ende oft sehr eng – manchmal handelt es sich nur um Zehntelsekunden, die ich gutmache oder verliere. Doch insgesamt liege ich auf der Liste, auf der ich notiere, wie oft mir der Kassenwechsel genutzt und wie oft geschadet hat, weit in Führung: Über die letzten dreißig Jahre hinweg habe ich mittlerweile schon fast drei Minuten gewonnen.

In das Zeitsparschwein auf meinem Fensterbrett stecke ich nach dem Heimkommen verschiedenfarbige Plastikchips für Zehntelsekunden, halbe, ganze, zwei und fünf Sekunden. Habe ich Zeit verloren, nehme ich die entsprechenden Chips selbstverständlich wieder heraus. Da bin ich ehrlich. Warum soll ich mich selbst belügen? Das Sparschwein ist auch so schon ziemlich voll. Auf diese Weise wir mein Leben immer länger. Ich weiß manchmal gar nicht, was ich damit anfangen soll.