
Für einen Auftritt der Reformbühne Heim & Welt in München bin ich kurzfristig als Ersatzmann eingesprungen: Einen Tag hin, abends die Show, am nächsten Tag zurück. Wegen Gleisbauarbeiten braucht der Zug pro Strecke sechs Stunden. Geld gibt es kaum. Es ist alles fast wie früher.
Oder doch nicht. Denn wie weit ich mich inzwischen von der Basis entfernt haben muss, zeigt meine blauäugige Frage schon auf dem Bahnsteig: „Macht ihr das eigentlich öfter: Zwei Tage unterwegs für hundert Euro Gage? Für erwachsene Menschen. Das ist doch im Grunde Wahnsinn, oder?“ Ich grinse verwegen, wie um zu zeigen, dass ich es auch in meinem Alter manchmal ganz witzig finde, so eine schräge Graswurzelscheiße mitzumachen.
Die verblüffte Reaktion der Kollegen zeigt mir, wie abgehoben meine Bemerkung in ihren Ohren klingen muss. Sie verstehen erst gar nicht, was ich meine, Wahrscheinlich glauben sie, nicht recht gehört zu haben. Dann erst sickert langsam das Begreifen in die Köpfe. Es geht einher mit leicht belustigter Verachtung.
Aha, ich bin also ein saturierter Schnösel, der in einer goldenen Sänfte zu seinem superfancy Auftrittsort getragen werden möchte, mit Champagner und Wachtelpastete im Backstage, und anschließend ins Grand Hotel Hightitei. In meiner Literaten-Suite liegt schon mein Scheck bereit: Tausend Dollar. Für fünf Minuten Vorlesen. Dazu ein riesiger Blumenstrauß. Eine Escort-Dame liest mir Gedichte von Rilke, Ringelnatz und Rossmann vor. Unter dem Lattenrost klebt noch alter Popel von Günter Grass.
Das alles erzählen mir die enttäuschten Blicke ihrer müden Augen, denn ich habe offenbar komplett den Kontakt zum Kerngeschäft verloren. Da trennt sich die Spreu vom Weizen: Hier die Pseudokünstler, die in Wahrheit nur reich und berühmt werden wollen; dort die puristischen Tagelöhner der Kunst. Für die bin ich ein gewissenloser, austauschbarer Lohnschreiber – erst neulich habe ich wieder 53 Euro für einen Artikel bekommen. Träge und satt geworden, verstoße ich gegen die reine Lehre.
Die da lautet: Gelesen werden muss immer, überall, so lang wie möglich, und um jeden Preis. Idealismus ist das Kreuz, an das wir uns selber schlagen. Leidenschaft, Sturheit und Wahnsinn sind die Nägel – da kann ein zum drögen Amtsschimmel der Schriftkunst Mutierter wie ich gar nicht mehr mitreden. Lesebühnenautor ist kein Beruf, sondern eine Berufung. Es ist auch eine Art Sekte. Wer aussteigt, muss in den ersten Jahrzehnten danach fast täglich tote Ratten aus dem Briefkasten fischen.
Für besonders orthodoxe Vertreter muss ein Lesebühnenabend mindestens drei Stunden dauern, eine Qual für Auftretende wie für Publikum. Wenn sich auf, vor und hinter der Bühne die Schwächeanfälle häufen, gilt das als gelungener Abend. „Das Publikum ist mir scheißegal“, pfiff mich mal ein Kollege an, als ich ihn vorsichtig darauf ansprach, wie angestrengt die Zuschauer kurz vor Mitternacht schon mit den Füßen scharrten.
Die höchste Weihe dieser Kunstform ist natürlich der gemeinsame Auswärtsauftritt. Nirgendwo sonst tritt der Verzicht, das Elend und die materielle Sinnlosigkeit dermaßen klar zu Tage. An allen Ecken und Enden wird gespart, denn wo immer wir auch hinkommen, hält sich der Ansturm in Grenzen. Gibt nicht viel Geld, leider, sagt der Veranstalter, kam ja kaum jemand. Hätte der Veranstalter vielleicht mal Werbung machen müssen, sagt der Veranstalter. Aber es gibt ja noch die weichen Benefits: Freigetränke, das flüssige Gold der Gaukler, Vorleser, und Fahrensleute.
Damit befördert man sich hinterher zügig in den Schlaf, beziehungsweise eine Art alkoholinduzierte Bewusstlosigkeit, die einen auf einer Luftmatratze in der Einzimmerwohnung irgendeines ebenso desperaten Kleinkünstlers vor Ort hoffentlich bald ereilt. Umfange mich, oh gnädiges Vergessen, und hülle mich in deinen dunklen Mantel ein.
Am Morgen ist vielleicht ein alter Camembert im Kühlschrank, vielleicht auch nicht. Zu meiden ist das Wasser aus dem Hahn. Das Blei. Die Legionellen. Kein Glas. Ein Auswärtsauftritt, dessen Begleitumstände sich zu weit von denen unterscheiden, die man allgemein dem Feld der Obdachlosigkeit zuordnet, ist kein ehrlicher Auswärtsauftritt. Wer Luxus erwartet, kann ja einen Urlaub auf den Malediven buchen.
Als ich noch nicht diese verwöhnte Attitüde hatte, war ich selbst oft noch bescheidener unterwegs, auch solo. Bei einem Auftritt in Dings überließ mir mal ein junger Slammer seine absurd vermüllte Raucherwohnung, und zog für diese eine Nacht zu seiner Freundin. Alles war wie von einem bräunlichen Schmierfilm überzogen, die Möbel, die Wände, die Küche, das Bad. Als vergleichsweise saubere Rettungsinsel lag in der Mitte des Raumes eine helle Matratze.
Er hatte kein einziges sauberes Handtuch da, nur ein frisch gebrauchtes, das er für mich immerhin zum Trocknen auf die Heizung legte: „Damit hat sich eben noch eine schöne Frau abgetrocknet.“ Vermutlich die besagte Freundin, und vielleicht wollte er mich damit trösten. Eher aber hielt er mich für jene Sorte Mann, der sich gebrauchte Unterwäsche junger Frauen im Netz bestellt, um einsam vor dem Fernseher daran zu schnüffeln. Das umreißt bereits perfekt das Bild, das sich Poetry-Slammer allgemein von Lesebühnenautoren machen.
Doch von „Opi erzählt vom Krieg“ zurück in den Zug von Berlin nach München, der schon bei der Abfahrt zwanzig Minuten Verspätung hat. Hoffentlich kommen wir überhaupt noch rechtzeitig an, sonst wäre alles buchstäblich umsonst.
„Ich hab ja nur gemeint“, sage ich, kleinlaut geworden. „Also wie das gehen soll. Von was lebt ihr, äh, leben wir eigentlich?“ Statt einer Antwort ziehen sie irgendeinen selbst mitgebrachten Fraß aus ihren Rucksäcken, während ich meine im Bahnhof gekauften Wildlachs-Paninis verzehre. Den Rest der Fahrt schweigen wir. Wir haben uns eh nichts mehr zu sagen. Uns trennen längst Welten.
Dabei wartet auf uns sogar ein echtes Hotel mit richtigen Zimmern. Für jeden eins alleine. Haha, hab ich es doch geahnt: Nach außen immer schön authentisch einen auf arme Dichter machen, dabei sind sie mittlerweile selbst zu korrumpierten Knechten des institutionalisierten Kulturbetriebs geworden.
Auch wenn der schon mal besser aufgestellt war. Frühstück ist nämlich nicht gebucht. Auf dem Hinweg zwei belegte Brötchen, zwei auf dem Rückweg. Pro Strecke einen Kaffee und nach dem Auftritt an die Dönerbude. Und schon sind aus den hundert Euro sechzig geworden. Ach ja, die Kosten für den öffentlichen Nahverkehr nicht zu vergessen: Da waren es nur noch fünfzig. Das wird die hungrigen Mäulchen daheim nur unzureichend füllen. Egal, alles für die Kunst.