Als wir die Autobahn verlassen und uns auf der Landstraße unserem Reiseziel an der Ostsee nähern, ist plötzlich alles voller lebensmüder Idioten. Motorradfahrer, die übermütige Fahrkunststückchen zeigen und unvorbereitet überholen. Die denken, ein Motorrad wäre ein Spielzeug, sie wären weiß Gott wie gut, und weiß der Teufel wie unsterblich.
Apropos. Ich kriege zwar jedes Mal zu viel, wenn ich Jens Spahn nur sehe, aber die Idee einer Widerspruchslösung bei der Organspende finde ich gut. Ebenso natürlich sein Engagement für das Verbot sogenannter Konversionstherapien. „Es ist eben nicht immer alles nur schlecht“, doziere ich vor meiner Verlobten. „Ohne Hitler hätten wir jetzt zum Beispiel nur Landstraßen.“
Sie würde sich sehr freuen, sagt daraufhin die Verlobte, wenn ich nur mal einen einzigen Tag ohne Nazivergleich auskäme, aber ich fürchte, auf diese Freude kann sie lange warten.
Das Hotel ist dann relativ old school; für den Parkplatz muss man extra bezahlen, ebenso wie für die Kurtaxe, diese urdeutsche Fantasy-Maut allein fürs Dasein. Das Personal, vor allem in der Gastronomie, wirkt oft erstaunlich pampig und wie von einer geheimnisvollen Bitterkeit erfüllt. Mal möchte man ihnen zurufen, „Freunde, ihr müsst das nicht machen, keiner zwingt euch dazu“, mal will man sie einfach nur in den Arm nehmen, ihnen über das Köpfchen streicheln und sanft zuflüstern: „Ja. Ist gut. Ist alles gut. Lass es raus. Tränen sind gut …“
Am Abend ereilt uns der nächste Schock. Wir haben schon extra unsere bequemen Fernsehhöschen angezogen, aber das Netz auf dem Zimmer kann man vergessen. W-Lan nur im Foyer, auf den Zimmern soll das gute Buch regieren. Kein Netflix möglich. Scheiß-Osten.
Man ist hier auf ältere Kundschaft spezialisiert. Der ganze Ort ist ein Disneyland für Senioren. Dazu noch ein paar Familien mit Kleinkindern, mittelalte Berliner Lesbenpärchen in wetterfester Funktionskleidung und vor allem Sachsen. Die Sachsen brauchen kein Netflix; die sind ja froh, dass sie nun endlich ARD gucken können, damit sind sie völlig ausgelastet. Neue, bunte Welt. Es sind dieselben Sachsen, die schon in der DDR die Ostseestrände überrannt haben. Deshalb wirken die Einheimischen so angefressen. Ich kann sie verstehen.
Am nächsten Morgen im Frühstückssaal beäugen uns die Alten misstrauisch und wickeln die Henkel ihrer Handtaschen noch ein drittes Mal um die Stuhllehnen: Wir sind um diese Zeit die einzigen Jugendlichen unter siebzig Jahren; erst später werden noch ein paar Irrläufer dazustoßen. Zinnowitz – wo der Tod Urlaub macht.
Wir werden platziert, es gibt echten Bohnenkaffee. Non c‘è il cappuccino? Die Verlobte greift sich an den Kopf. Was für eine kaputte Zeitmaschine hat uns bloß hier ausgespuckt? Seit meiner Kindheit habe ich nicht mehr in einer derart spießigen Umgebung Urlaub gemacht. Damals hätte man nicht „spießig“ dazu gesagt, sondern einfach gar nichts, denn was anderes gab es nicht – es waren halt die 1970er Jahre.
Nun aber fix zum Strand. Strandkorb mieten. Da muss man schnell sein, die erste Reihe zum „Meer“ hin ist bereits von Rentnern okkupiert – gelobt sei die senile Bettflucht. „Moin, moin“, begrüße ich die Nachbarn mit schlecht imitiertem sächsischen Akzent, „wir kommen auch schon seit dem Mauerbau hierher.“
Spießigkeit steckt offenkundig an. Deshalb schreibe ich hier auch immerzu „Verlobte.“ Im Strandkorb Nr. 34, Mittelreihe hinten, versuchen wir die Atmo ironisch zu brechen. Und zwar mithilfe einer THC-Pille, die ich neulich von dem Kalifornier abgestaubt habe. Was schon bei denen der heiße Scheiß ist, ist für mich in dieser Darreichungsform sowieso neu. Immerhin kommt so endlich mal der Pillenteiler zum Einsatz, den ich irgendwann angeschafft, aber nie gebraucht habe.
Eine Halbe ist wohl etwas unterdosiert. Wir sind dann auch nicht richtig breit, sondern fühlen nur so eine eigenartige und durch nichts zu begründende, stille Grundzufriedenheit, was eigentlich nicht übel zu dem schönen Strandtag passt. So muss sich ein gelungener Lebensabend anfühlen. Die Sonne scheint auch auf welke Haut. Sogar doppelt soviel, wegen der Falten. Auch das Wasser ist auf einmal gar nicht mehr kalt, so dass ich denke: Was für eine geile Methode im Gegensatz zu Joints, die im Hals kratzen, und erst labert man Müll, dann schreibt man den auf und am nächsten Tag reißt man die Seiten peinlich berührt aus dem Notizbuch.
Ich glaube, denke ich mir in meinem Strandkorb mit Füße hoch und Blick aufs Meer, so ließe sich das aushalten. Ich könnte gut weiter bis zum Lebensende täglich halbe Tabletten einnehmen, in so einer Schachtel mit Fächern für Morgens, Mittags, Abends; so als hätte ich eine chronische Krankheit und im Grunde habe ich ja auch eine: schlechte Laune. Die ist jetzt erst mal weg – so geht sogar Ostsee.