Optimal entspannt

Heute brüllt das Internet in jede gute Stube.

Man möchte es nicht glauben, aber das Internet ist gestern tatsächlich fünfzig Jahre alt geworden. Am 29 Oktober 1969 schickten irgendwelche Freaks in Kalifornien die Buchstabenfolge „lo“ von einem Rechner zu einem anderen. Die beiden waren groß wie Häuser, konnten kaum eins und eins zusammenzählen und rauchten dabei noch wie ein Kraftwerk. Ein halbes Dutzend Knechte schaufelte in einem fort Kohlenbrocken in den Ofen, der die Rechnerturbine antrieb.

Das Internet war geboren, blieb jedoch noch lange blind. Der Text “lo“ war vollkommen sinnlos. Das ist zwar auch heute noch jeder zweite post, aber damals war es wenigstens nur auf den ersten Absturz zurückzuführen, der gleich schon bei der ersten Übertragung auftrat. Denn der Rest der Message – angeblich „login“, vermutlich aber „lost“ – verlor sich in dem langen Rohr aus aneinandergeklebten Klopapierrollen, das man eigens zu diesem Zweck zwischen der University of California in Los Angeles und dem Stanford Research Institute nahe San Francisco verlegt hatte. Der Empfänger legte die beiden angekokelten Buchstaben achtsam beiseite und dann wartete die Welt noch einige Jahrzehnte lang darauf, bis man alle Buchstaben beisammen hatte. Nun konnte man endlich Sätze bilden.

Leider muss man heute sagen. Besser, es wäre bei diesen beiden Buchstaben geblieben. Damit hätte man wenigstens nicht so viel anrichten können. Wollte man zunächst auch gar nicht, denn schließlich war alles schön. Optimal entspannt. Man brauchte kein Internet; die Post ja kam ja noch an und mit ihr auch die Zeitung. Man hatte so viel Zeit. Anstatt auf ein Display guckten alle stundenlang aufs Meer, in den Himmel oder in die Röhre, wo das brave Schwein langsam schmurgelte. Es gab freie Liebe und endlose Gitarrensoli. Die Leute starben heldenhaft an Drogen und nicht schnöde unter den Kugeln im Netz aufgehetzter Irrer. Daneben gab es noch das gute Buch, die gute Butter und das gute Fernsehprogramm. Lassie rettete vielen Kindern das Leben.

Dabei war zu jener Zeit statistisch alles noch viel schlimmer als heute, bloß machte man kein Gewese drum, weil es wiederum davor ja noch schlimmer gewesen war. Wer mir am Kotti das Messer vor die Nase hielt, war weiß und berlinerte. Dafür passierte es aber umso öfter. In Deutschland war die Kriminalität überhaupt viel höher als heute, und in der Welt gab es noch mehr bewaffnete Konflikte und auch Hungersnöte. Man wusste es nur nicht oder nicht so genau oder pfiff einfach drauf. Irgendwo starb halt immer jemand, doch solange es nicht Tante Hedi war …

Denn es mangelte an Informationen und damit auch an öffentlicher Auseinandersetzung. Wer wusste zum Beispiel wirklich immer, was die Amis gerade in Vietnam anstellten, oder, dass die klimatischen Weichen Richtung Ende der Menschheit schon damals längst gestellt waren? Rudimentäres stand zwar in der Zeitung, doch Papier ist geduldig. Leserbriefe schrieben nur Rentner oder Querulanten. Meistens bekamen deren Meinung nur die Fische zu sehen, die in die entsprechende Seite eingewickelt waren, und die hielten in der Regel schön den Mund.

Heute brüllt das Internet in jede gute Stube: „Alles wird immer schlimmer! Ihr seid Schweine! Wir werden alle sterben! Danke für die Glückwünsche! Ich hasse euch! Ihr lügt! Alle sind doof! Ich hab Recht! Du bist tot! Du bist blöd! Arschloch! Ich blockiere dich! Ich melde dich! Ich liebe dich! Ich zeig dich an! Ich bring dich um! Oh, ein Babyfaultier. Süß.

Wir wissen alles und verstehen nichts. Wie acht Milliarden Ratten in einem viel zu kleinen Käfig zerfleischen wir uns gegenseitig. Heute noch virtuell, doch schon gestern mit Bomben, Messer und Gabel. Das Internet ist ein Durchlauferhitzer sondergleichen. Es erzeugt eine Atmosphäre ständiger Beklemmung, Angst und Unzufriedenheit – die Nachrichtenlage ist widersprüchlicher denn je. Die Älteren kennen das vom Luftkrieg.

Das kann nicht gut gehen. Inzwischen werden Wetten abgeschlossen, ob die Zivilisation zuerst wegen der Verteilungskämpfe in Folge des Klimawandels implodiert oder wegen des Internets. Ich würde ja eher auf das Internet setzen. Wäre es nur mal beim „lo“ geblieben.

Ein Buch mit leeren Seiten

Das nächste Mal fahren sie bestimmt rücksichtsvoller.

Jedes Mal, wenn Radfahrer auf dem Bürgersteig für meinen Geschmack zu dicht an mir vorbeifahren, bekommen sie von mir ein in die Seite gebrummeltes „Arschloch“ mit auf den Weg. Es ist wie ein Reflex.

Und so habe ich den Fluch schon auf den Lippen, als sich eine Frau mit so einem sperrigen Blagen-Bike zwischen mir und einem Baugerüst hindurchquetschen möchte. Doch stattdessen, ich weiß nicht warum, lasse ich sie aus einer Eingebung heraus stumm passieren, ja trete sogar noch freiwillig ein Stück beiseite. Erst dann erkenne ich in ihr die Freundin einer Kollegin. Ein Gruß, ein Lächeln und weiter. Sie ahnt nicht, welchem Schimpf sie knapp entgangen ist. Puh.

Umso mehr, da ich in solchen Fällen zu gegenderten Beleidigungen neige. Als eine mir flüchtig bekannte Radiomoderatorin mich mit ihrem Rad mal ohne hinzugucken übel schnitt, entfuhr mir automatisch ein, „och nö, Häschen.“ Sie drehte sich kurz um und sagte, „sorry.“ Ich lächelte falsch und hoffte, sie hätte mich nicht gehört. Sonst hätte sie sich kaum entschuldigt, weil dann wären wir ja quitt gewesen.

Man kann das Kind ruhig beim Namen nennen: Das ist Sexismus. Ich weiß das. Ich bin kein Heiliger, auch wenn die meisten das von mir denken, das ist mir schon klar. Für sie war ich immer nur Ikone, silbergraues Sexsymbol, Liebling der Massen. Die enttäusche ich natürlich, doch ich will hier wenigstens dieses eine Mal ehrlich sein.

Natürlich niemals das F-Wort – zum einen prinzipiell nicht und zum anderen wäre das hier sowieso viel zu groß -, aber so etwas wie ein halbironisches „Häschen“ kann mir schon entschlüpfen. Das fände ich normalerweise auch nicht so toll, doch genau deshalb mache ich das ja. Sie lernen was und ich kann die alte Sau rauslassen – eine klassische Win-win-Situation. Vierzigjährigen rufe ich im Wilden Westen des Straßenverkehrs hingegen gerne mal ein „ach nee, Muttchen“ zu, im gespielt gutmütigem Tonfall des in der Routine bitter gewordenen Altenpflegers, denn obwohl oder eben gerade weil auch die mittlerweile fast schon wieder meine Töchter sein könnten, verletzt es in seiner absurden Anmaßung ganz besonders, und das ist schließlich der Zweck. Sexismus, Ageismus und ein bisschen Lookismus in nur einem Wort – ein eleganter, ein großartiger Kniff wie ich meine. Besser noch als das F-Wort. Das nächste Mal fahren sie bestimmt rücksichtsvoller.

Ich beglückwünsche mich zu der zufälligen Ausnahmeentscheidung, die Frau nicht angeraunzt, sondern ihr in einem unerklärlichen Anflug von Milde im Gegenteil sogar noch Platz gemacht zu haben. Und das, obwohl ich in dem Moment noch nicht mal ihr Gesicht gesehen hatte.

Was für ein Glück! Denn andernfalls hätte sich das doch nur rumgesprochen: „Neulich hat mich so ein Typ am Hermannplatz vollkommen grundlos mit ‚blöde Sau‘ beschimpft. Und weißt du, wer das war? Dein komischer taz-Kumpel da, dieser Olli, der hat mich wohl erst nicht erkannt. Und dann aber so rumgenuschelt von wegen nicht gemeint und so. Also ich fand den ja schon immer spooky.“

Nein, nicht auszudenken. Einmal mehr stelle ich fest, wie wenig ich möchte, dass die Leute rausbekommen, wie ich wirklich bin. Das ist deswegen merkwürdig, da man mir meistens recht gut anmerkt, wie es in mir aussieht: Ob ich verlegen, wütend, ungeduldig oder aufgeregt bin. Nur, wenn ich mich freue, was ohnehin selten geschieht, weiß ich das gut zu verbergen.

Ansonsten aber bin ich ein offenes Buch, wenngleich mit leeren Seiten. Wenn ich es mir recht überlege, bin ich schon ein reichlich widerwärtiger Mensch. Doch, Hand aufs Herz, wer ist das eigentlich nicht?

Der Erste


Im alten Zirkus erogener Illusionen herrscht heute Totentanz.

Am Morgen bin ich stets der Erste.

Geduldig warte ich, auf dass der Sex-Shop seine Pforten öffnet.

Es ist kalt.

Ich denke an die Worte eines Büttenredners;

dies sagte kichernd der Haha-Mann:

Wer zuerst kommt, den bestraft das Leben;

wer zuletzt kommt, den bestraft der Tod;

wer aber gar nicht kommt, den straft am Ende niemand.

Wohlfeile Flucht für matte Zögerlinge.

Ein solcher Weg ist nichts für mich.

Wer wen warum bestraft, ist mir egal.

Denn Strafe muss nicht sein, kann allerdings zum Zwecke.

Ich warte weiter.

Um Punkt acht Uhr macht dann der Sex-Shop auf.

Der Herr Direktor grüßt mich freundlich:

Kommen Sie doch nur geschwind herein.

Möchten Sie vielleicht auch einen Tee?

Es ist so bitterkalt.

Wäre dieser Laden nicht,

so wüsste ich nicht, was ich machen sollte:

wohin gehen,

was tun,

aus welchem Grunde weinen?

Wir plaudern, lachen,

trinken eine zweite Tasse.

Dazu serviert die Senior Shop Assistant Kekse.

Sie sind mit Liebe sowie Eros selbst gebacken,

mit Himbeermarmelade in der Mitte drin.

Bevor der Ansturm nun beginnt,

die Schulkinder in Scharen kommen,

die Bauarbeiter, Businessladys und Beamten,

lege ich mich ab aufs Kanapee im Hinterzimmer,

um das Geschäft im Laden nicht zu stören.

Doch keiner kommt.

Im alten Zirkus erogener Illusionen

herrscht heute Totentanz.

Dabei gibt es Magazine, Bücher, Spielzeug;

das kann man jedoch auch im Internet erwerben.

Sexshop, Videothek und Monis Ecklokal;

wo ist es hin:

Zille sein Milljöh?

Da man briet noch Biberkeulen überm Lagerfeuer

und hörte dazu laut Musikkassetten.

(Einschub: Gesellschaftskritik.

Das ist überhaupt nicht gut!

Nein, es ist vielmehr schlecht und böse.

Alle denken nur noch sehr an sich.

Die Suzi Quatro läuft nicht mehr im Radio.)

Wo ein Wille ist, ist auch ein Steg*;

wo ein Steg* ist, da sitzt immer auch ein Angler;

wo ein Angler sitzt, da grämt sich mancher Fisch.

Am Abend bin ich stets der Letzte,

der mit den Angestellten aus der Türe geht;

ich bin der Erste, der sich wieder anstellt

bis zum nächsten Morgen.

Mir ist kalt.



(*oder auch: Steak. Hier streiten sich die Überlieferungen. Demzufolge wäre der Angler möglicherweise auch ein Koch und der Fisch Fleisch.)

Sommerhaus winterfest

Selbst eine Bio-Abteilung gibt es nun …

Sicher nicht zuletzt wegen der Touristen hat man in Kremmen den Edeka-Supermarkt gründlich modernisiert. Schließlich gibt es für die wenigen Einwohner des Städtchens im Landkreis Oberhavel auch noch je einen großen Lidl und Netto. Man muss also nicht dort kaufen, wo die Berliner unschlüssig ihre Einkaufswagen durch die Regalreihen mit komischem Schnickschnack schieben. Obwohl sie dünner sind als die Einheimischen, kommt man an ihnen kaum vorbei. Immer stehen sie müßig im Weg rum. Die haben ja nichts zu tun, außer zu nerven. Einkaufen muss aber schnell gehen. Abgepacktes Grillfleisch, Graubrot, Kasten Bier und ab zur Kasse. Der Wagen ist der Panzer, der Laden das Schlachtfeld, der Einkauf der Krieg.

Aber ich bin ja so ein Edeka-Berliner und wenn ich hier draußen bin, habe ich natürlich Zeit. Jede Menge Zeit. Da schaue ich mich gerne um. Aha, selbst eine Bio-Abteilung gibt es nun, mit so Körnchen. Können die dann picken, die Vögel; vielleicht fliegen sie dann endlich wieder weg. Unter den Ausgaben von „Märkischer Mahner“ und „Oranienburger Ohr“ liegt, versteckt wie ein Pornoheft (gibt es heutzutage überhaupt noch analoge Wixfibeln?), eine tagesfrische Westzeitung zu Einsicht, Kenntnisnahme und Erwerb aus. Und sie haben sogar Edelkäse aus dem imperialistischen Ausland, einem Nachbarland der BRD namens Frankreich.

Für diese Fremdware stelle ich mich eigens an der Käsetheke an. „Ich hätte gerne das kleine Stück hier von dem Roquefort“, sage ich, wobei ich das e am Ende von „Roque …“ eher leicht ausspreche, denn nur andeute, so wie man es in der Gegend um die Käsehöhlen von Roquefort herum im Gegensatz zum Hochfranzösischen tatsächlich tut – ich war ja mal da, Schüleraustausch, Westdeutschland, Herrschaftswissen, alles klar, knickknack -, Französisch war das Russisch der Westdeutschen, ein aufgezwungenes Schulfach, so ungeliebt wie überflüssig, nur wegen druschba respektive amitié.

Sie denkt vermutlich einfach nur „Klugscheißer.“ Und zwar aus genau denselben, oben angeführten Gründen von Schüleraustausch bis knickknack. Vielleicht denkt sie auch noch, „ich hätte nie gedacht, dass ich die Russen mal so vermissen würde“, oder, „am Liebsten würde ich ihm seinen Rockfort direkt in seine arrogante Wessifresse schmieren – boah, wie das Zeug stinkt!“

Das gab es ja früher nicht. Schimmel galt als giftig und war nichts zum Essen – im Gegensatz zu Asbest. Stattdessen gab es den Streichkäseersatz der Marke „Kuhkleister“ vom VEB Käsekombinat Kackfurt, ein Schmierkäse für jede Stulle, der „La vache qui rit“ des Ostens. Bekannt war er auch als Bestandteil der „Sachsenschnitte“, dem DDR-Cordon Bleu aus panierter Jagdwurst, gefüllt mit Hinterformschinken und eben Kuhkleister.

„Wat …?“, fragt sie und in dem einen Wort steckt wirklich alles drin, was sie da soeben gedacht hat. Plus „Arschloch.“ Also doch nicht „Klugscheißer“, schau einer an, wie man sich in den Menschen täuschen kann.

Ich sage dann, dass ich das klebrige Bunte da haben möchte, bitte, und zeige darauf. Sie hassen uns alle und das verstehe ich nur zu gut, aber sie müssen nun mal leider irgendwo arbeiten, und die Asbestmine im benachbarten Drivenow hat nach der Wende dichtgemacht. Wir hingegen kommen her mit unserem Westgeld, haben nichts zu tun, bremsen für Störche, kaufen Angeberkäse und machen uns über sie lustig.

„Wat wollnse denn mit dem Kochkäse?“ Sie unterbricht meine Gedanken. „Aber wir haben hier auch noch den Sainte-Maure-de-Touraine. Ziege. Bio. Hundert Gramm für nur € 4,99. Bisschen mehr Awareness beim Käsekauf wäre schon ganz nice, Bürger.“