Das ist mal wieder typisch Berlin. Die Schulen sehen aus wie Barackensiedlungen, in denen Soldaten für den Häuserkampf trainieren. Bei der Senatsbefragung einer Wahrsagerin über den Eröffnungstermin des BER zerspringt die Glaskugel mit solcher Wucht, dass mehrere Abgeordnete von herumfliegenden Scherben verletzt werden. Auch haben es die Behörden, vom sensationell eingetretenen Wechsel der Jahreszeiten überrascht, versäumt, genügend warme Übernachtungsplätze für Bedürftige bereitzustellen. Das ist umso bitterer, da mit den einheimischen Obdachlosen nun auch EU-Ausländer, Flüchtlinge sowie Touristen, die infolge von Drogenkonsum und fehlerhaften Stadtplan-Apps die Orientierung verloren haben, zusätzlich um die knappen Plätze konkurrieren.
Aber das sind ja alles nur Menschen, sprich Randnotizen. Und spätestens, wenn in einem der hauptstädtischen Zoos ein Eisbär geboren wird, zählt das alles erst recht nichts mehr. Für die hiesige Presselandschaft gibt es fortan kein anderes Thema als die Hofberichterstattung aus der Eisbärenanlage. Fehlt nur noch der Live-Ticker. So sehr der Berliner den Menschen hasst, so sehr liebt er das Tier.
Jetzt ist es wieder so weit. Die Robbenfresser haben einen Thronfolger geboren. Sein Zwillingsbruder ist zwar gleich schon wieder futsch, aber das ist normal. Sagt der Zoo, sagt der Tagesspiegel. Dort lesen wir auch, dass Aika, die Oma des Neugeborenen ebenfalls gestorben ist. Mit 36 Jahren.
„‚Alles jenseits der 30 Jahre ist ein stattliches Alter für Bären‘, sagte Zoodirektor Andreas Knieriem“, sagt der Tagesspiegel. „’Vielleicht hat Aika gespürt, dass neben ihr neues Leben entsteht, und sich jetzt verabschiedet.'“ Vielleicht hat sie aber auch den geharnischten Schwachsinn ihres Herrn und Meisters gelesen und daraufhin hat sie der Schlag getroffen. Erst stirbt man, und dann wird man obendrein verspottet. Das ist ja schlimmer als bei Fidel Castro.
Auch Mutter Tonja bekommt ihr Fett weg – im wahrsten Sinne des Wortes: „’Tonja hat ganz ruhig reagiert und sogar ein paar Mohrrüben gefressen‘, wird Pfleger Detlef Balkow vom Tierpark zitiert“. Einer Eingebung folgend googeln wir nach „Eisbär“ und stoßen, nicht gänzlich unerwartet, auf folgendes Ergebnis: Ein Eisbär braucht – im Gegensatz zu seinen braunen Brüdern – in allererster Linie Fleisch auf den eisigen Tisch. Fleisch, Fleisch und nochmals Fleisch. Würde einer der Tierpfleger wenigstens den Wikipedia-Eintrag lesen, würden ihnen ihre Viecher vielleicht nicht ständig krepieren. Dasselbe hatten wir uns schon bei Knut gedacht, dem legendären Vorgänger des jetzigen Todeskandidaten.
Warum war dieser Knut eigentlich so berühmt: etwa, weil er mit der Flasche großgezogen wurde? Aber das werden in Berlin doch die meisten Kinder bis ins hohe Erwachsenenalter hinein. Und die aus ihrer Puritanerhölle getürmten Neuberliner passen sich gern an, wie die permanente Präsenz der Billigbierpulle in Neuköllner Straßen schon am Vormittag zeigt. Bei einem Anblick, der einen früher denken ließ, „was für ein armer Mensch: alkoholkrank, obdachlos und durch die immer gröber werdenden Maschen im sozialen Netz gefallen“, vermeldet das Auge dem Gehirn nun Künstler, Start-Upper und Hobby-Hedonisten in kunstvoll zerschlissenen Vintagelumpen.
Okay, wir schweifen ab wie Tolstoj. Nutzen wir doch lieber die Gelegenheit, um an dieser Stelle mahnend, warnend, erinnernd den gütigen Zeigefinger zu heben: Wenn man die Bärchen angeblich so lieb hat, sollte man sie in Zukunft vielleicht auch besser und vor allem artgerechter behandeln. Aber sobald sie dem Knuddelalter entwachsen sind, ist alle Liebe sofort vergessen. Dann ist nämlich Schluss mit „ah“ und „oh“, mit „nein, wie niedlich“, „ei ei ei“ und „duziduzi“. Ab in die Tonne. Großer Bär, doofer Bär, hässlicher Bär, böser Bär. Der heranwachsende Bär ist nicht mehr klein und flauschig. Mit seinen Pubertätsproblemen (Pickel, Liebeskummer, Sinn des Lebens) alleingelassen, steht er nur noch einsam in der Ecke. Statt Möhren gibt es welken Sauerampfer. Die Zoobesucher wenden sich ab. Bis es eine neue Eisbärengeburt mit einem neuen Eisbärbabyhype gibt, ist sogar das Entengehege interessanter, vom Würstchenstand mal ganz abgesehen.
Kein Wunder, dass Knut in seinen letzten Tagen nur noch schmutziggrau war und glasig vor sich hinstierte. Nach fortgesetztem Missbrauch durch den Pfleger kam er im Grunde nie mehr so richtig auf die Beine. Dazu noch die kriminelle Gemüsediät und das Ende war praktisch vorprogrammiert. Da bedurfte es nur noch eines winzigen weiteren Anstoßes (Nieselregen) und Knut gab endgültig sein Salatbesteck ab.
Im Naturkundemuseum ist er jetzt wieder deutlich weißer. Gesund sieht er aus, obwohl er tot ist. Sie haben den ausgestopften Petz offensichtlich mit Perwoll gewaschen oder nachgebleicht. So viel Mühe hätte man sich mit ihm ruhig schon mal zu Lebzeiten geben können. Diese Einsicht der Verantwortlichen wünschen wir nun seinem Nachfolger.