Sonderwünsche

Datsche 2012 009

Auf dem Lande bemühe ich mich stets um größtmögliche Zurückhaltung. Denn ich weiß ja, dass Berliner hier als Besatzer und Eindringlinge gesehen werden, umso mehr, wenn sie wie wir dazu Westhintergrund aufweisen. Ich weiß auch, dass sie mich für unermesslich reich und arrogant halten. Für sie bin ich eine verweichlichte, rotgrünversiffte Gutmenschenschwuchtel, die weder Tier noch Mensch selber schlachtet und Brandsätze auf Flüchtlingsunterkünfte für ein Verbrechen hält. Wenn man da mal genauer drüber nachdenkt, ist es eigentlich schlimm, was Leute so für krasse Vorurteile haben …

Sind Einheimische anwesend, gebe ich mich folglich leise und behutsam. Ich möchte nicht stören und nicht auffallen. Wenn ich nichts sage, merken sie vielleicht nichts. Dabei wäre es so schön, mehr Interesse an den Menschen zu zeigen und sich mit ihnen über ihre Belange auszutauschen: wo es die besten Gartenzwerge und den dicksten Spargel gibt; an welchen Stellen man besser keine Beeren oder Pilze pflücken soll, weil da der meiste Sondermüll vergraben liegt; über die bevorstehende Sonnwendfeier des Thor-Steinar-Spielmannzuges in Fuckow. Aber gerade im Gespräch ist die Gefahr zu groß, dass ich mich durch Wörter wie „Tram“, „Plastiktüte“, „viertel nach elf“, „Yoga“ oder „Demokratie“ verrate. Das bringt doch keinem was. Sie fühlen sich verarscht oder herabgesetzt und ich werde noch mehr zum Außenseiter.

Dennoch haben wir nach einer Weile hier draußen manchmal einen echten Jieper auf bestimmte Artikel oder Errungenschaften einer Zivilisation wie wir sie kennen. Ähnlich wie man nach längerem Aufenthalt in Lateinamerika, Südostasien oder Frankreich plötzlich Bock auf Vollkornbrot bekommt, möchten wir gerne eine Zeitung lesen, in der steht, was mittlerweile in der Welt passiert ist – noch dazu, da es kein Netz gibt. Also nicht den „Oranienburger Generalanzeiger“ und auch nicht die „Märkische Allgemeine“. Sondern den Inbegriff der Westlügenpresse, eine ermüdende Bleiwüste ohne bunte Bilder, keine Titten, viele Nebensätze: Die „Süddeutsche Zeitung“ soll es sein.

Bei Edeka in Klötensang gab es die mal. Daneben noch die „Berliner Zeitung“ und sogar den „Tagesspiegel“. Denn im Sommer kommen Touristen. Und Berliner. Und Berliner Touristen. Sie fotografieren die Störche und pflücken die Blaubeeren im Schlüpper Forst, wo die Giftgastanks der Roten Armee und die Asbestwände der LPG-Schweinemast einträchtig unter dem märkischen Sand ruhen. Mit den Kranichen im Herbst hauen auch die Fremden wieder ab. Doch zuvor versucht man ein wenig Handel mit ihnen zu treiben. Man stellt Blitzer an den Landstraßen auf, bereitet überteuerte Wildgerichte zu und legt Westzeitungen vom Vortag in die Läden.

Bei diesem Edeka sehe ich also durchaus eine Chance. Allzumal sie den vergrößert und modernisiert haben, mit Frischsalattheke und allem Pipapo – der hat richtiggehend Großstadtniveau. Zwar stehen jetzt im kühlen Mai nur Autos mit den Kennzeichen OHV und OPR auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt. Aber vielleicht haben sie ja das Sortiment schon saisonal umgestellt. Und in der Tat gibt es ein paar der obengenannten Blätter, doch die Süddeutsche finde ich nicht. Ich wende mich an eine Verkäuferin: Ob sie die denn grundsätzlich überhaupt im Angebot hätten?

„Die was? Wie heißt die?“

„Süddeutsche Zeitung“, sage ich und merke wie mir heiß im Gesicht wird. Ich betrachte mich auf einmal mit ihren Augen und komme mir reichlich doof vor. Was für ein alberner und prätentiöser Wunsch. Süddeutsch. Wo ist denn bitte Süden? Hier jedenfalls nicht. Als nächstes frage ich wahrscheinlich nach einem Chinesenhut.

„Keine Ahnung“, sagt sie, ohne sich ihre Irritation anmerken zu lassen. „Nie gehört. Müssen Sie an der Kasse fragen.“

Genau das tue ich auch, obwohl ich schon gar keine Lust mehr habe. Vorsichtshalber bezahle ich zuerst, dann bin ich schneller weg. Ich flüstere die Frage fast. Das spöttische Gesicht des Kassierers spricht Bände. Er wendet sich an die Kollegin an der anderen Kasse, holt tief Luft, „o bitte nicht. Bitte nicht so laut“, möchte ich zischen, doch es ist zu spät.

„Führen wir“, ruft er und spitzt dabei affektiert die Lippen – er hat richtig Spaß an seiner kleinen Show -, „die Süddeutsche Zeitung?“ Aus seinem Mund klingt das nach einem Fachblatt für Pädophile, aber keinem für solche, die Hilfe oder Unterstützung suchen. Das ist alles so wahnsinnig peinlich.

„Nein“, antwortet sie. „Hatten wir mal. Im alten Laden. Jetzt nicht mehr.“

Sämtliche Kunden in beiden Kassenschlangen starren mich nun an. In ihren Blicken liegen Hass und Verachtung. Ein feindseliges Grummeln hebt an. Ich nehme meine Einkäufe, gehe langsam rückwärts Richtung Ausgang, um keine Mistgabeln in den Rücken gerammt zu bekommen, versuche dabei hektische Bewegungen zu vermeiden, die sie zum Angriff provozieren könnten. Sobald ich die Tür erreicht habe, renne ich los, renne um mein Leben, hin zum Auto, o Gott, hoffentlich springt das diesmal sofort an.